Samstag, 20. April 2024

Judith Kessler: Heute vor 111 Jahren wurde Olga Wsewolodowna Iwinskaja geboren

Olga Iwinskaja, geboren am 16.juni 1912, Boris Pasternaks Muse, geliebte, Freundin, Vorbild der Lara in „Dr. Schiwago“ saß für die Liebe zu ihm Jahre im Gulag …

Sie begegneten sich im Oktober 1946 zum ersten Mal, in der Redaktion des Literaturmagazins „Novy Mir“, ihrer Arbeitsstelle. Sie war Lektorin, 34 und Pasternak 22 Jahre älter, er mit seiner zweiten Frau Sinaida verheiratet und Vater zweier Söhne, sie zweifach verwitwet (ihr erster Mann hatte sich erhängt, der zweite war gefallen) und lebte mit ihren kindern Irina und Dmitri, ihrer Mutter und dem Stiefvater zusammen.

Boris verliebte sich auf der Stelle. er rief sie jeden Tag im Büro an, wo Olga „vor Glück starb“, aber aus Ehrfurcht vor dem bewunderten Dichter, dem sie nicht gewachsen zu sein glaubte, immer behauptete, sie sei zu beschäftigt. Pasternak aber blieb hartnäckig und bald trafen sie sich, dann fast täglich, an der Puschkin-Statue auf dem Puschkin-Platz, liefen durch Moskaus Straßen – zu Hause treffen konnten sie sich schwerlich – und redeten über Gott, die Welt und seine Bücher.

Am 4. April 1947, inzwischen hatte er Olgas Kinder kennen gelernt und „Schiwagos Lara“ immer mehr die Züge Olgas angenommen, gestand Pasternak ihr seine Liebe und schickte ihr einen Gedichtband mit der Widmung „mein Leben, mein Engel, ich liebe dich wirklich.“ (1953, nach ihrer ersten Haft, fügte er hinzu: „Diese Inschrift ist ewig und gültig für immer. und kann nur stärker werden.“)

Beide waren wie voneinander besessen, doch Boris zugleich hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu seiner Frau und seiner Liebe zu Olga. Sinaida konnte er nicht verlassen, Olga aufgeben auch nicht. Ihre Mutter war strikt gegen diese Beziehung, sie wünschte sich einen „normalen“, gleichaltrigen Schwiegersohn für ihre Tochter und keinen verheirateten halben Dissidenten, den Stalins Leute möglicherweise wie so viele andere zum Volksfeind erklären würden; sie wusste, wovon sie sprach, hatte sie doch selbst im Krieg drei Jahre im Gulag verbracht. bei Olga indes stieß sie mit ihrem Lamento auf taube Ohren. die war dem „Genie“ endgültig verfallen und arrangierte sich auch mit der Dreier-Konstellation.

Anfang 1948 bat Boris sie, „Novy Mir“ zu verlassen und seine Sekretärin zu werden; ihre Liaison hatte sich herumgesprochen und Olga wurde in der Redaktion beargwöhnt. Pasternak misstraute man genauso, die Paranoiker vom Geheimdienst mutmaßten Verrat; schließlich lebten seine Schwestern im bösen kapitalistischen Ausland und über sein brisantes Buchvorhaben war auch schon einiges durchgesickert. Sich direkt an dem Schriftsteller zu vergreifen wagten sie jedoch nicht (immerhin gefielen Stalin seine Gedichte). aber sie konnten ihn im Innersten treffen, wenn sie sich an seiner geliebten und engsten Vertrauten rächten. Erst überwachten sie Olga, dann durchsuchten sie ihre Wohnung und beschlagnahmten ihre und seine Briefe und Notizen – und verhafteten sie als „Komplizin des Spions“.

Olga Ivinskaya wurde Tag und Nacht verhört, man wollte alles über „Dr. Schiwago“ und seinen Autor aus ihr herausquetschen; noch in der U-Haft verlor sie das Kind, das sie von Boris erwartete. während der in Peredelkino vergebens auf Nachrichten von ihr wartete, unter der Abwesenheit seiner Seelenverwandten und unter seinem schlechten Gewissen litt, ihm war klar, dass man sie wegen ihm verhaftet hatte, wurde Olga im Juli 1950 zu „milden“ fünf Jahren Umerziehungslager verurteilt.

Im Lager Potma erwarteten sie 13 Stunden schwerste Feldarbeit am Tag, Hunger, Kälte, Hitze. In ihrem Kopf lebte sie weiter mit Boris. Über zwei Jahre lang erhielt sie keine Nachricht von ihm. Sie wusste nicht, ob er lebte, tot oder ebenfalls verhaftet worden war. Um nicht völlig durchzudrehen, lernte sie seine Gedichte auswendig. Pasternak unterstützte währenddessen ihre Familie; Olgas Mutter hatte sich mit seiner Existenz abgefunden, und er sorgte rührend dafür, dass die halbwüchsigen Kinder seiner Freundin die schwere Zeit finanziell und seelisch überstanden.

Nachdem Stalin im März 1953 gestorben war, wurde Olga stillschweigend freigelassen und durfte nach Moskau zurück. Die Geliebten, nach dreieinhalb Jahren wiedervereint, wurden „von einer Art verzweifelten Zärtlichkeit erfasst“, wie Olga es nannte, und schworen sich, für den Rest ihres Lebens zusammenzubleiben. Sie konnten und wollten nicht mehr ohne einander existieren.

Boris, der im Vorjahr einen Herzinfarkt erlitten hatte, verließ Olga von nun ab nur noch zum Arbeiten und verbrachte einen Großteil seiner Zeit damit, zwischen seinem Arbeitszimmer in Peredelkino und ihrer Wohnung hin und her zu pendeln. er besänftigte sie mit glühenden Liebesbekundungen, wollte aber, aus Mitleid, wie er sagte, und weil der zu erwartende Zoff seine Schreibroutine gestört hätte, seine Frau auch weiterhin nicht verlassen. Olga mietete daraufhin eine Datscha ganz in seiner nähe; er kam mehrmals am Tag vorbei, sie redigierte seine Manuskripte, schrieb seine Briefe und tippte zweimal das gesamte Manuskript von „Doktor Schiwago“ ab, an dem Boris alles in allem zehn Jahre gearbeitet hatte. Sie liebte ihn und sie liebte diesen Roman – als „Abrechnung mit allem, was sie durchgemacht hat“, als „vernichtenden Schlag gegen einen hasserfüllten Feind“, wie es Pasternaks Freund Alexander Gladkov beschrieb.

1954, zu beginn der Tauwetterperiode unter Chruschtschow ließen die neuen alten Machthaber den Abdruck von zehn Gedichten Pasternaks in der literarischen Monatszeitschrift „Znamya“ zu. „Dr. Schiwago“ jedoch durfte weiter nicht veröffentlicht werden. Olga führte die Verhandungen für Pasternak mit Feltrinelli in Italien, wo der Roman 1957 endlich erschien; acht Jahre später dann die Verfilmung mit Omar Sharif und Julie Christie als Lara.

1958 wurde Pasternak der Nobelpreis für Literatur zugesprochen. „Unendlich dankbar, bewegt, stolz, überrascht, verwirrt“, telegrafierte er nach Oslo zurück. Unter dem unerträglichen Druck der sowjetischen Offiziellen („ein Schwein besudelt niemals den Ort, wo es frisst und schläft … ein Schwein hätte nicht getan, was er tat“) verzichtete er auf den Preis. Doch die Hetzkampagne gegen ihn ging weiter und beschleunigte seinen Tod zwei Jahre später. Kurz nach seinen 70. Geburtstag war Boris schwer erkrankt und Olga verzweifelt; Sinaida weigerte sich, sie zu ihm zu lassen. Lediglich an seiner Beerdigung durfte sie teilnehmen. Kurz danach beschlagnahmte der KGB wie schon 1949 Boris’ Manuskripte und Briefe. Olga wurde erneut festgenommen, nun zusammen mit ihrer Tochter. Dieses Mal wurde sie wegen „Verbrechen gegen den Staat“, darunter Schmuggel von Devisen, zu einer Freiheitsstrafe von maximal acht Jahren und Irina zu drei Jahren in einem sibirischen Arbeitslager verurteilt.

Irina wurde nach zwei, Olga nach knapp vier Jahren aus der Haft entlassen. In ihren letzten Jahren lebte sie mit ihrem Sohn Ddmitri in einer Einzimmerwohnung in Moskau. 1978 erschienen ihre Memoiren („A Captive of Time“) in Paris und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie hatte jahrelang umsonst darum gekämpft, Pasternaks Briefe an sie vom KGB zurückzubekommen. Olga Ivinskaya wurde erst 1988 unter Gorbatschow, als sie bereits halb blind und gebrechlich war, „rehabilitiert“, im gleichen Jahr, in dem „Dr. Schiwago“ erstmals in der sowjetunion erscheinen durfte. Sie starb 1995 mit 83 Jahren in Moskau an Krebs. Auch ihr letzter Brief an Präsident Jelzin mit der Bitte, ihr Boris‘ Liebesbriefe zurückzugeben, war unbeantwortet geblieben.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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