Ein Blick in Gustav Mahlers Speisekammer
1880 erklärt Richard Wagner in seinem Aufsatz »Religion und Kunst« in den Bayreuther Blättern den Vegetarismus zum Muss für Intellektuelle, schielt dabei auf Schopenhauer zurück (und vergisst, wenig überraschend, auch nicht, den »ungerechten Judengott« zu erwähnen, der das »Fleischopfer« Abels mehr geschätzt habe als das »Fruchtopfer« Kains). 0
Die Schrift entfaltet enorme Wirkung, bis nach Wien. Gustav Mahler ist 20 Jahre alt und Wagner sein Idol und Lebenselixier (»Wenn ich noch so niederträchtiger Stimmung bin und denke an Wagner, so werde ich gut gelaunt«). Er ist in diesem Jahr Kapellmeister in Bad Hall geworden und will seinem Gott auch in puncto Speisezettel folgen. Am 1. November 1880 berichtet er Emil Freund von seinem desolaten Gemütszustand, seiner Arbeit am »Klagenden Lied«, und:
»Ich bin seit einem Monat vollkommener Vegetarianer. Die moralische Wirkung dieser Lebensweise ist in Folge dieser freiwilligen Knechtung meines Leibes und der daraus erwachsenen Bedürfnislosigkeit eine immense. Du kannst Dir denkens, wie ich davon durchdrungen bin, wenn ich eine Regeneration des Menschengeschlechtes davon erwarte. Alles was ich dir sage, ist: Bekehre Dich zur naturgemäßen Lebensweise, aber mit zweckmäßiger Nahrung (Grahambrot) und Du wirst die Früchte gar bald selbst erkennen […]«
Unter einer »Erneuerung der Menschheit« macht es der junge Mahler also nicht und er nimmt die Sache auch selbst sehr ernst. Drei Jahre zuvor hatte das »Erste Wiener Vegetarier-Speisehaus« seine Pforten geöffnet – für »im Zeichen Tierschutzbegeisterter und vom Vegetarismus faszinierter Wagnerianer«, wie es in einer Annonce heißt. Hier, im Speisehaus von Karl und Magdalena Ramharter, die sich in der Lebensreformbewegung bereits mit dem erwähnten Vollkornbrot einen Namen gemacht hatten, ist Gustav Mahler Stammgast, erst im 8. Bezirk, dann in der Wiener Innenstadt, in der Wallnerstraße, Ecke Fahnengasse.
Das Stichwort für einen Abstecher nach Prag. Für Franz Kafka ist das »Thalysia« in Wien das beste vegetarische Restaurant, das er kennt. Er empfiehlt es samt einer vegetarischen Diät seiner von Kopfschmerzen geplagten Freundin Grete Bloch als Heilmittel. Kafka kränkelt wie Mahler sein Leben lang; wie er ist er ein begeisterter Wanderer, Radfahrer und Schwimmer und wird etwa ein Jahr vor Mahlers Tod endgültig zum Hardcore-Vegetarier. Im Dezember 1910 schreibt er in sein Tagebuch, das vegetarische Essen wirke sich positiv auf sein Verdauungssystem aus, und am Neujahrsabend habe sein Dinner ausSchwarzwurzeln mit Spinat und einem Viertel Ceres-Fruchtsaft bestanden (😳). Vielleicht ist er von seinem Landarzt-Onkel Siegfried Löwy beeinflusst worden, sicher aber von dem Naturheilkundler Heinrich Lahmann, dessen Sanatorium »Weißer Hirsch« er 1903 in Dresden aufgesucht hatte, und von Moritz Schnitzer, dem jüdischen Verleger des »Reformblatts für Gesundheitspflege« in Prag, der ihm 1911 rät, nur noch vegetarisch zu essen, bei offenem Fenster zu schlafen und im Garten zu arbeiten. Kafka ist außerdem Anhänger des dänischen Athleten Jørgen Peter Müller, der Vorträge im Prager vegetarischen Restaurant gehalten hatte. Er »müllert«, macht also jeden Tag 15 Minuten Gymnastikübungen aus Müllers Buch »Mein System« am offenen Fenster; er ernährt sich vor allem von Spinatpudding, Grünkernschnitten, sauren Linsen, vegetarischen Ragout und Reisbrei (😳), und er »fletschert«, kaut also nach den Regeln von Horace Fletcher jeden Bissen 30 mal. Das treibt das Personal und seine Familie in den Wahnsinn, vor allem den Vater, der ihn monatelang beim Essen nicht ansieht und seine Mutter, die Kafkas Freundin Felice Bauer 1912 in einem Brief anfleht, sie möge ihn davon abbringen. Doch der erklärt ihr, dass die Diät seinen Magen kuriert habe und er außerdem auf Alkohol, Kaffee und Tee verzichte und für gewöhnlich auch keine Schokolade esse. Und ein Jahr später soll er, mit Max Brods Braut Elsa in Berlin vor einem Aquarium stehend, zu den Fischen gesagt haben: »Nun kann ich euch in Frieden betrachten; ich esse euch nicht mehr«…
Manheit berichtet in einem Brief vom 13. Februar 1883 brühwarm noch eine zweite Episode aus Olmütz, die Mahlers Wagner-Obsession illustriert: »[…] Als ich gerade von zu Hause ins Theater ging, sah ich einen Mann durch die Straße rennen; er war völlig verstört, schluchzte laut und presste sein Taschentuch auf die Augen; ich erkannte Gustav Mahler nur mit Mühe […] Ich ging ängstlich auf ihn zu und fragte ihn leise: ‚Um Himmels willen, ist Ihrem Vater etwas zugestoßen?‘ ‚Schlimmer, schlimmer, viel schlimmer‘, brüllte er aus vollem Halse: ‚Das Schlimmste, das Schlimmste ist passiert, der Meister ist gestorben.‘ […] Danach war er tagelang nicht ansprechbar…«.
Im März 1902, auf seiner Hochzeitsreise mit Alma nach St. Petersburg wird er krank und sein Cousin Gustav Frank päppelt ihn mit Wiener Schnitzel auf.
Ende August 1903 schreibt er, dass er, unmittelbar nachdem er Wagners »Meistersinger« an der Wiener Hofoper dirigiert habe, ins Café »Imperial« marschiert sei und sich ein Beefsteak bestellt hat. Er ist da zwar noch nicht vom Vegetarismus abgefallen, aber stinkwütend. Seine Musiker hatten wie so oft seinen Ansprüchen nicht genügt, sie waren undiszipliniert, er hatte sich fürchterlich aufgeregt, sie runtergemacht und darüber offenbar kurz alle seine Grundsätze vergessen.
Oder eher nicht »kurz«, sondern zunehmend: Im Dezember 1904 lädt Mahler die Musiker des Hofopernorchesters zu einem geselligen Beisammensein in das Gasthaus »Zur goldenen Birne« in der Mariahilferstraße ein. Er kommt zu spät, registriert verärgert das servierte Mahl (nicht etwa, weil es Fleisch gibt, sondern weil die Auswahl zu wenig üppig ist), rennt in die Küche und hält der »wohlgenährten Bratenköchin einen kurzen, aber leicht verständlichen Vortrag über die Magenkapazität eines jungen Musikers«, wie sein Freund, der Musikautor Ludwig Karpath berichtet. Offenbar erfolgreich, denn die Sause der Musiker dauert bis in die frühen Morgenstunden.
1908 und 1909 finden sich noch zwei Erwähnungen seines Vegetarismus in Briefen an Alma. Mahler schreibt seiner Gattin: [Der Pianist und Komponist] »Keussler ist auch schon da. Ein toller Kerl. Nach der Probe am Samstagabend werde ich mit ihm vegetarisch essen.« Und: »Ich werde vermutlich die Rolle der ‚Fleischtöpfe im Land Ägypten‘ übernehmen müssen. Autsch! Was für eine Metapher für einen Ehemann mit vegetarischen Neigungen!«
Doch, autsch! Irgendwann ist endgültig Schluss mit den »vegetarischen Neigungen«. Mahler gibt den Vegetarismus auf, entwickelt aber Züge eines Hypochonders und achtet weiter genau auf seine Ernährung; er hat schließlich Hämorrhoiden, ein Herzleiden und vor allem ein ausgesprochen kräftezehrendes Pensum als Dirigent, als Bühnenreformator und als Komponist zu bewältigen. Zugleich ist er ein Feinschmecker (»Ohne ein gutes Abendessen kann ich nicht komponieren«). Er besucht oft und gern das berühmte Rindfleisch- und Schnitzel-Paradies von »Meissl & Schadn« am Neuen Markt, und sein Freund Alfred Roller erwähnt, dass Mahler Zigarren und sein abendliches Bier liebt. Mahler schwärmt in Briefen von Schinken und »stimmungsvollem Zwetschkenkuchen« und scheint einen unstillbaren Appetit auf herzhafte Speisen, auf Wild, exotische Zutaten und kräftige Aromen zu haben, aber auch auf Gebäck und Süßigkeiten – an allererster Stelle auf Marillenknödel, die häufig auf der Speisekarte seiner Proben-Essen und Treffen nach den Konzerten zu finden sind.
»Als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt«, fühlt sich Gustav Mahler zeitlebens heimatlos. Doch das kulinarische Pendant zu dieser Melange, die Marillenknödel (tschechisch: meruňkové knedlíky), die mit dem Zuzug böhmischer Köche und Köchinnen Ende des 18. Jahrhunderts in die Wiener Küche gelangt waren, diese jüdisch-böhmisch-österreichische Nostalgie auf dem Gaumen, die liebt er abgöttisch.
Mahler ist mit seiner Liebe zu den Marillenknödeln nicht allein. Schon Ferdinand I. von Österreich soll 1848 trotzig gebrüllt haben »Ich bin der Kaiser, und ich will Knödel!«, nachdem ihm erklärt worden war, dass man ihm keine servieren könne, da gerade keine Saison für Marillen sei. Marillen (vom italienischen »armellino«) sind Aprikosen und irgendwann sind die Wiener Köche aber doch noch auf die Idee gekommen, sich außerhalb der Saison mit getrockneten Aprikosen und Konfitüren zu behelfen. Die Grundlage für Marillenknödel sind Kartoffeln oder Topfen (Frischkäse-Quark). In jüdischen Kochbüchern werden meist Kartoffeln verwendet, weil sie anders als Topfen parve (neutral) sind und so auch von Leuten, die sich an die Speisegesetze halten, zu milchigen und zu fleischigen Gerichten gegessen werden können. Speisegesetze interessieren die Mahler-Kinder nicht, aber Gustavs Schwester Justine bereitet sie dennoch nach jüdischer Tradition aus Kartoffeln zu, und genau ihre Knödel sind die absolute Lieblingsspeise des Komponisten.
Den Ritterschlag als Marillenknödel-Produzentin hatte sie aber schon lange vorher bekommen, von dem bereits erwähnten Musikkritiker und bekennenden Gourmet Ludwig Karpath. Nachdem er seinem Freund Mahler verkündet hatte, dass er sich nichts aus Marillenknödeln mache, hatte der sich entrüstet: »Was! Gibt es einen Wiener, dem Marillenknödel nichts bedeuten? Du kommst sofort mit und isst dieses himmlische Gericht. Meine Schwester Justi hat ihr eigenes Rezept dafür, und wir werden sehen, ob es dir egal ist.« Karpath soll sofort Justi-Knödel-Fan geworden sein und wer es auch werden will, halte sich an ihr Rezept:
Marillenknödel nach Justine Rosé, geborene Mahler
Zutaten: 1 kg mehlige Kartoffeln, 250 g Mehl, 1 Ei, 1 Prise Salz, 90 g Butter, 100 g Semmelbrösel, 400 g Aprikosen, etwas Zucker.
Zubereitung: Die geschälten Kartoffeln durch die Mühle (alternativ Kartoffelpresse, Reibe) drehen und anschließend auf einem angewärmten Schneidebrett mit dem Mehl, Ei und Salz zu einem glatten Teig verarbeiten. Den Teig mit einem Nudelholz oder den Händen flach drücken und in feine Scheiben schneiden. In jede Scheibe eine entkernte Aprikose legen. Die Teigränder zusammendrücken und die Teilchen auf einer bemehlten Fläche vorsichtig zu runden Knödeln rollen. Die Knödel etwa 10 Minuten in köchelndem (nicht sprudelnden) Salzwasser ziehen lassen (sie kommen an die Oberfläche, wenn sie gar sind). In der Zwischenzeit die Butter in einer Pfanne zerlassen und die Semmelbrösel (wer will, auch gemahlene Mandeln) bei mittlerer Hitze solange rühren, bis sie knusprig und goldbraun sind. Die garen Knödel mit einer Schaumkelle aus dem Wasser heben, in den Semmelbröseln wälzen und vor dem Servieren mit Zucker bestreuen. Hmmm! 😍