„Zielfahrt“ – eine Weihnachtsgeschichte von Kalla Wefel

Über die Weihnachtsfeiertage werden wir ein paar Geschichten unserer Autor:innen veröffenlichen.

Anmerkungen:
Obwohl die Kurzgeschichte Zielfahrt eher in die Sparte Fantasy einzuordnen ist, beruht sie auf einer wahren Begebenheit: Die drei Taxifahrer, die alles Geld gespart haben, weil sie sich irgendwann in die Karibik absetzen wollten, gab und gibt es wirklich. Zwei wohnen jetzt in Holland und einer in Radolfzell. Letzteren habe ich vor einigen Jahren nach einem Auftritt in Konstanz getroffen. »Der Liebe wegen«, meinte er zu seinem Entschluss, den Bodensee gegen die Karibik eingetauscht zu haben, und fügte zufrieden lächelnd hinzu: »Also doch ein Stückchen der Sonne entgegen.«

Zielfahrt erschien erstmals 1988 im Weihnachtsbuch der Phantasie im Bastei-Verlag und sollte als vierteiliger Vorabdruck unter dem Titel Metamorphose in der Frauenzeitschrift Brigitte veröffentlicht werden. Plötzlich hieß es von Seiten der Brigitte, die Kurzgeschichte sei zu lang, so paradox das klingen mag. Tatsächlich scheiterte dieses Vorhaben jedoch daran, dass ›Kalla‹ kein weiblicher Vorname ist, wie von der Brigitte-Redaktion zunächst vermutet worden war …

 

Kalla Wefel
Zielfahrt

24. Dezember
Heute werden Sie einen besinnlichen Tag verleben
und viel Freude schenken und erfahren!

365 Kalenderblätter mit Schwachsinn voll zu schreiben, ist auch eine Kunst. Wie sehr muss der Verfasser dieser Zeilen Schaltjahre hassen. Ingrid hat mir den Kalender letztes Jahr geschenkt. Ingrid? Du meine Güte, wie lange ist das her … Ich habe längst keine Zeit mehr für romantische Eskapaden, denn ich habe ein Ziel.

Ich blicke auf die rotglimmende Digitalanzeige meines Radioweckers, den mir mein Bruder Martin vor drei Jahren zusammen mit einer Packung Spekulatius, einem Foto und lieben Grüßen von Frau und Kindern zu Weihnachten geschickt hat. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass er nicht mehr allein ist – aber ich habe vollstes Verständnis für ihn, zumal er das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, mit vielen Menschen einsam hinter einem speckfetten Guru hergelaufen ist.

»Schon zwei Uhr«, murmele ich vor mich hin und räkele mich. Mir brennen die Augen, ich habe Kopfschmerzen und schwindlig ist mir auch, doch nach zwei Bechern Kaffee und einem Aspirin wird sich das wie immer legen.

Ich schlurfe zum Fenster und ziehe die dunkelblauen Samtvorhänge auf. Die Helligkeit sticht mir in die Augen und ich befürchte das Schlimmste – doch als ich mich an das ungewohnte Tageslicht gewöhnt habe, bin ich beruhigt.

»Gott sei Dank! Kein Schnee.«

Für einen Augenblick genieße ich die Aussicht aus meiner Apartmentwohnung, Wabe 157, mit Blick auf Reeperbahn und Elbe, denen man von hier oben ihren abscheulichen Gestank nicht anmerken kann.

Ich fühle mich in diesem Haus wohl. 240 Wohnungen voll mit Nutten, Zuhältern, Kellnern, Transvestiten, Polizisten und als krönenden Abschaum uns drei Taxifahrern. In den letzten fünf Jahren hat es in diesem Haus zwei Morde gegeben, also wird man hier nur alle 48 Jahre umgebracht und ich will in etwa einem Jahr sowieso mit Jan, Wabe 158, und Claus, Wabe 160, in die Karibik auswandern.

Beim Feierabendpoker heute Morgen um sechs habe ich verloren und muss nun das Frühstück vorbereiten. Ich werfe die Kaffeemaschine an, stelle Margarine und Marmelade bereit, platziere für jeden zur Feier des Tages liebevoll eine Vitamintablette auf die Tellermitte und zünde vier Teelichter an. Kostspieligen Käse- oder gar Wurstaufschnitt leisten wir uns seit zwei Jahren nicht mehr, denn Claus hat uns vorgerechnet, dass wir so zwei Monate eher die benötigte Million voll haben werden.

Ich gehe auf den Hausflur und klopfe an die gegenüberliegenden Türen der Apartments 160 und 158. Auf Jans Tür ist in die hellblaue Lackierung bereits eine Delle hineingeklopft.

»Komm gleich!«, grölt Jan durch die Tür hindurch und gibt zur Bestätigung seine morgendlichen Grunzlaute von sich.

Claus genießt in gewohnter Weise das zweite Wecken.

»He, Claus! Ich bin’s, Heiner! Wach endlich auf!« Es ist klar, dass er sich wie immer erst meldet, sobald sich Ursula Kramer, die Frau aus der Wohnung 162, beschwert. »Kannst dich ruhig melden! Die Planschkuh aus 162 ist über Weihnachten sowieso nicht da!«

Ich höre gleichzeitig »Ich komm ja schon!« aus 160 und »Frohe Weihnachten« von der ›Planschkuh‹ aus 162, die sich an normalen Tagen zum Abend hin als Bardame Janine entpuppt und die plötzlich in ihrer Wohnungstür steht.

Vorsorglich wünsche ich Janine Kramer einen guten Rutsch, wobei ich unter ihrer Gesichtsmaske so etwas wie ein Lächeln entdecken kann.

»Könnten Sie mich heute Abend um sechs abholen und nach Rahlstedt fahren? Ich bekomm doch heute nirgends ein Taxi …«

Eigentlich ist sie ganz nett, ein wenig überdreht vielleicht.

»Na gut«, willige ich nicht gerade begeistert ein, denn Heiligabend läuft das Geschält auch ohne Frau Kramer gut. »Sagen wir zwischen halb sechs und halb sieben komm ich vorbei, auf ‘ne genaue Uhrzeit kann ich mich heute bei aller Liebe nicht festlegen. Einverstanden?«

»Wunderbar, vielen Dank auch. Bis später. Sie brauchen nur zu klingeln, ich komm dann runter.«

Ich nicke ihr kurz zu und verkrieche mich wieder in meine Wabe 157. Dort springe ich schnell unter die Dusche, um mir den Dreck und das Elend der letzten Nacht abzuwaschen. Sie ist wie die letzten zwei Dutzend Nächte zuvor höchst ertragreich verlaufen. Weihnachtsfeiern und die um diese Jahreszeit vorherrschend barmherzigen Gefühle meiner Mitmenschen haben unseren Verdienst auf eine neue Rekordmarke schnellen lassen. Aber all das wird nichts gegen das sein, was uns heute noch erwartet: Heiligabend lohnt es sich sogar vor achtzehn Uhr loszufahren, denn die ersten Gottesdienste und Verwandtenbesuche beginnen schon am frühen Nachmittag.

Evangelische Fahrgäste geben in der Regel mehr Trinkgeld als katholische, aber am Heiligabend ist das egal. Wenn wir gut genug sind, fällt die Kollekte über alle Konfessionen hinweg gleichmäßig großzügig aus. Heiligabend liegt alles nur an uns.

Wir haben uns in den letzten Jahren eine ganze Palette rührseliger Geschichten ausgedacht, um auf die stereotype Frage »Und warum müssen Sie am Heiligabend Taxi fahren?« je nach Fahrgast passende Antworten parat zu haben. Jan hat letztes Jahr den Vogel abgeschossen, als er einem alten Schiffsmakler auf der Fahrt nach Blankenese erzählt hat, er habe seine ganze Familie bei einem Schiffsunglück verloren und er verlasse seitdem das Taxi nicht mehr, weil sein Wagen einfach ein dickeres Fell habe als er. Jan ist ohne Zweifel ein Witzbold. Die Geschichte war achtzig Mark Trinkgeld wert und wir werden dadurch fünf Stunden eher in der Karibik sein, wie uns Claus, unser Finanzgenie, vorgerechnet hat.

Seit knapp fünf Jahren zahlen wir täglich jeder durchschnittlich drei Fünfzig-Mark-Scheine in die gemeinsame Fluchtkasse ein. Da wir das zumeist an der Steuer vorbei verdiente Geld nicht zur Bank bringen können, kommt es in einen großer Spaghetti-Kochtopf, der sich in meinem Backofen befindet – eine perfekte Tarnung.

»Moin, Heiner«, begrüßt mich Jan gelangweilt, dann kauert er sich in den hellgrünen Sperrmüllsessel. Jan ist ein Nachmittagsmuffel und es ist erst kurz nach zwei. Wie üblich schaltet er mit der Fernbedienung den Fernsehapparat an. »Au Scheiße, heut ist nicht einmal die Sendung mit der Maus!«, flucht er vor sich hin; zu sehr hat er sich in den letzten Jahren an das Vorschulprogramm gewöhnt, als dass er sich mit außergewöhnlichen Programmänderungen an außergewöhnlichen Tagen abfinden könnte.

»Achthundertvierzehntausendneunhundertfünfzig …«, begrüßt uns Claus deutlich flüsternd, nachdem er die Wohnungstür geschlossen hat. Wie jeden Tag gibt er zum Frühstück den neuesten Stand des Geldschein-Eintopfs in meinem Backofen bekannt. »Wenn wir weiter so reinholzen, brauchen wir keine zwölf Monate mehr.«

»Schnauze!«, raunzt ihn Jan an, denn er hat endlich eine interessante Sendung im ersten Programm entdeckt.

Wir sehen uns noch die erste halbe Stunde von Wir warten auf das Christkind an und fahren dann gemeinsam mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Das Geld ist in meiner Wohnung bombensicher. Wir haben beim Einzug vor fünf Jahren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine feuerfeste Stahltür mit Holzmantel eingebaut, hellblau gestrichen und mit zwei Sicherheitsschlössern versehen.

Auf dem Weg in die Tiefgarage erzählt Claus noch, wie er gestern einem Fahrgast statt auf hundert auf zwanzig Mark rausgegeben hat, das sind schon wieder fünf Stunden weniger Warten auf die Karibik. Ohne Zweifel ist Claus der Frechste. Er hat sogar einmal nach einem Unfall dem verletzten Fahrgast noch den Fahrpreis auf der Tragbahre abgeknöpft. Claus baut die besten Unfälle; er verletzt sich selbst nie und die anderen sind immer schuld. Ohne ihn und seine Versicherungsprämien hätten wir anfangs nie unsere drei Taxen zusammenbekommen.

Wie gewöhnlich tragen wir alle unsere widerstandsfähige Lederkluft, die sich im Taxi schon nach kurzer Zeit bezahlt macht.

»Fette Beute!«

»Haut rein!«

»Auf dass der Eintopf dick werde!«

Fünf Jahre dieselben Sprüche beim Verabschieden, aber wir wissen ja wofür.

Ich steige in meinen alten Mercedes Diesel und schalte das Funkgerät ein. Als ich aus der Tiefgarage rolle, knatscht und scheppert die mir so wohlvertraute Stimme der Funkerin aus dem Himmel. Ich bekomme sofort eine Tour.

»Im Taxi darfst du nie du selbst sein, wenn du Geld verdienen willst«, hat mir vor vielen Jahren ein alter Kollege gesagt. »Sag zu allem Ja und Amen, dann stimmt auch die Kasse, denn ohne Trinkgelder verdienst du in diesem Gewerbe nichts.« Ich habe seinen Rat befolgt und passe meine Meinung stets dem Fahrgast an. Ohne Zweifel bin ich der Anpassungsfähigste und trage mit meinem überdurchschnittlichen Trinkgeldaufkommen eine Menge zu unserem zukünftigen Glück bei.

Heiligabend ist eine verkehrte Welt. Heiligabend und Silvester fahren Leute mit dem Taxi, die den Rest des Jahres nicht einmal wissen, was das gelbe Schild auf dem Dach zu bedeuten hat. Nicht diese Profigäste, die einen wie den letzten Dreck behandeln; die einen anraunzen, nach gewöhnlichem Fusel oder penetranten Parfüms stinken; die die Größten sind, weil man als Taxifahrer eben nicht weiß, wo es im Leben langgeht, wenn man nicht einmal den kürzesten Weg von Barmbek-Nord in den nächsten Puff kennt.

O nein, Heiligabend sind die Menschen kultiviert. Die Damen drapieren ihre Abendkleider auf den Rücksitz, die Männer riechen auf dem Beifahrersitz männlich herb und die kürzeste Fahrtroute wird allein dem Herrn Taxifahrer überlassen.

Die ersten Touren verlaufen vielversprechend. Ich liege verdammt gut im Rennen und wie ich über Funk mitbekomme, scheint es Claus und Jan auch nicht viel schlechter zu ergehen.

Gegen halb sechs habe ich bereits eine satte Kollekte eingefahren und fahre von Altona zu unserem Hochhaus. Kurz nachdem ich bei Frau Kramer geklingelt hatte, kommt sie mit Plastiktüten voller Geschenkpakete in den Händen herunter. Sie hat sich erstaunlich dezent geschminkt und in ihrem Glencheck-Kostüm und ohne Perücke wirkt sie eher wie … ich werfe verdutzt einen zweiten Blick in den Rückspiegel … nun, ein wenig wie meine Mutter als junge Frau vielleicht.

»Fahr’n Sie mich bitte nach Bargteheide.«

»Ach, also doch nicht nach Rahlstedt in den Club Amour?«

»Nein. Ich hatte das vorhin im Flur nur aus Gewohnheit gesagt. Der Club ist natürlich über Weihnachten geschlossen. Ich will zu meiner Schwester und mit deren Mann und ihren beiden kleinen Kindern Weihnachten feiern.«

»Na gut.« Mir ist, als ob ihre Stimme nach etwas Vertrautem klingt, nach etwas aus meiner Kindheit. Wie die sanfte Stimme meiner Mutter vielleicht? Jetzt fang bloß nicht an zu spinnen, denke ich. Die Kramer nach Bargteheide fahren, Knete abkassieren, großes Trinkgeld wird’s eh nicht geben, also Vollgas – die Polizei hat heute sowieso keine Radarfallen aufgebaut.

Das Schlagen der Kirchenglocken begleitet uns während der Fahrt quer durch die Stadt.

»Ach, wie wunderbar, nun schneit es auch noch, und was für Flocken!«, jauchzt die Kramer auf dem Rücksitz.

Scheiße! fluche ich in mich hinein.

Schon nach wenigen Minuten sind die Straßen von einer dichten Schneedecke überzogen. Ich kapituliere; die letzten fünf, sechs Kilometer werden wir eben im Kriechtempo zurücklegen müssen.

In der Bargteheider Straße in Höhe der Hausnummer 20 fängt Frau Kramer an, Süßer die Glocken nie klingen zu summen. Ich stelle das Funkgerät aus. Als wir an der Hausnummer 268 vorbeikommen und gemeinsam die zweite Strophe leise vor uns hin singen, ist gerade in einer Kirche der Gottesdienst beendet und die Menschen schlendern gemütlich in alle Richtungen nach Hause. Kinder bewerfen sich mit Schneebällen und das durch den Schnee gedämpfte Läuten der Glocken klingt göttlich schön und berechtigt – nicht wie dieser penetrante Lärm an einem Sonntagmorgen.

Ich kurbele das Fenster ein Stück herunter.

»Wunderbar«, flüstert Frau Kramer und ich stimme ihr gedankenverloren zu. ›Wunderbar‹ ist auch das Lieblingswort meiner Mutter.

Vor uns liegt noch eine Strecke von zwei, drei Kilometern. An den Weihnachtsbäumen in den Wohnzimmern der Einfamilienhäuser brennen die Kerzen und auf den schneebedeckten Tannen in den Vorgärten hat selbst das künstliche Licht ihrer elektrischen Kolleginnen jede Kälte verloren.

Alles nur Kitsch, denke ich, aber verdammt schöner Kitsch …

»Weiße Weihnachten! Ich könnte ewig so weiterfahren und einfach nur gucken«, schwärmt Frau Kramer. »Warum müssen Sie denn Heiligabend überhaupt fahren? Haben Sie niemanden, bei dem Sie feiern können?«

Oje! Die Standardfrage und ich habe plötzlich keine passende Antwort parat. »Ich weiß nicht, was dieses ganze Tamtam um Weihnachten soll. Außerdem hab ich etwas Besseres vor, schließlich hab ich ein Ziel.«

»Aha … Ein Ziel? Das hab ich auch. Aber ich bekomme doch mit, dass Sie und Ihre beiden Freunde seit Jahren jeden Tag nur noch arbeiten. Verliert man da sein Ziel nicht leicht aus den Augen?«

Eine philosophierende Bardame am Heiligabend hat mir gerade noch gefehlt. Sicher, Jans anfänglicher Tick fürs Kinderfernsehen ist im Laufe der Zeit zu einer Art Manie geworden und scheint außer unserem gemeinsamen Ziel für ihn das einzig Lebenswerte geworden zu sein. Na, und Claus geht mit Fahrgästen manchmal ein wenig zu grob um – nach dem letzten Überfall auf einen Taxifahrer hat er sich sogar überlegt, den Spieß einfach mal umzudrehen, und gesagt, für die Karibik wäre er sogar bereit, über Leichen zu gehen, selbst über die eigene.

Und mir hat vor einiger Zeit ein Freund, der zufällig am Gänsemarkt in meine Taxe gestiegen ist, vorgeworfen, ich wisse schon gar nicht mehr, was Leben bedeute, nur weil ich mit ihm keinen Kaffee trinken wollte. So ein Blödsinn! Schließlich habe ich ihn seit Beginn meiner Taxifahrerkarriere nicht mehr gesehen, worüber hätten wir also schon groß reden sollen?

Und nun sitzt da diese Kramer und labert was von ›Ziel aus den Augen verlieren‹.

Endlich fällt mir dazu etwas aus meinem Zitatenschatz ein. »Sicher, einige Leute rennen ihr Leben lang nur auf ein Ziel zu, drehen sich irgendwann auf halber Strecke um, weil sie etwas vermissen, und dann sehen sie, dass das Leben immer noch in den Startlöchern hockt, aber um umzukehren und es sich zu holen, reicht die Kraft nicht mehr.« Ich habe das mal irgendwo gelesen und es scheint mir angebracht.

»Na, wunderbar, dann kommen Sie doch nachher noch auf eine Tasse Kaffee mit hinein. Meine Schwester und ihre Familie würden sich sicherlich freuen.«

Schon wieder dieses ›Wunderbar‹.

»Danke. Ich glaube, mir täte eine Pause sogar ganz gut«, höre ich mich wie von selbst sagen.

Das Schneetreiben ist immer dichter geworden.

»Na prima. Sie müssen übrigens hinter der nächsten Kreuzung die vierte rechts und dann fahren wir auf das Haus direkt zu.«

Hinter dem dichten Schneeschleier tauchen plötzlich geisterhaft flackernde Blaulichter auf. Ich verlangsame das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit.

»Ein Unfall«, sage ich automatisch.

»O nein, wie furchtbar! Sehen Sie nur, ist das dahinten nicht ein Taxi? Mein Gott …!«

Wir werden von einem Polizisten eingewiesen und rollen langsam an drei vollkommen zerstörten Autos vorbei. Ein blutüberströmter Mann wird aus einem Taxi gezogen und auf eine Bahre gelegt und ich glaube für einen kurzen Augenblick, Claus zu erkennen. Aber das, was von dem Taxi noch übrig ist, kann vorher nie und nimmer ein Mercedes gewesen sein; also ist das da auch nicht Claus.

Ich konzentriere mich wieder auf die Straße; Unfälle interessieren mich nicht, jede Nacht knallt es irgendwo.

»Ich glaube, es waren sogar zwei Taxen«, sagt Frau Kramer, kurz bevor ich in die vierte Straße hinter der Kreuzung nach rechts abbiege.

»Der Rekord war übrigens Silvester vor drei Jahren. Vier Taxis ineinander gekeilt, alle Totalschaden.«

»Und die Fahrer?«

»Weiß ich nicht.«

»Ach … dahinten ist schon das Haus.«

»Und Sie meinen wirklich nicht, dass ich störe?«, frage ich und öffne bereits, ohne die Antwort abzuwarten, die Fahrertür.

Ich nehme Frau Kramer zwei Tüten ab und wir stampfen durch den tiefen Schnee auf das Haus zu. Nirgendwo brennt Licht, wahrscheinlich liegt das Wohnzimmer nach hinten raus.

»Ich muss gleich erst mal einen Schnaps auf den Schrecken trinken. Hier, halten Sie bitte mal«, sagt Frau Kramer. Sie gibt mir auch noch ihre beiden Tüten und sucht in der Handtasche nach einem Schlüssel.

»Wieso klingeln wir denn nicht einfach?«

»Die sind bestimmt noch in der Kirche. Ich wollte sowieso die Pakete vorher unter den Weihnachtsbaum legen und die Kerzen am Baum anzünden. Die Kinder sollen doch glauben, dass das Christkind schon da war und alles vorbereitet hat.«

Ich nicke verständig und wir gehen hinein.

»Nehmen Sie doch schon mal im Wohnzimmer Platz, ich komme gleich nach.«

Ich setze mich auf das schwarze Ledersofa des karg eingerichteten Zimmers. Frau Kramer ist in die Küche gegangen, um mir Kaffee zu kochen. Mein Blick bleibt auf der bis an die Decke reichenden Blautanne haften. Sie ist mit Lametta und vielen silbernen Kugeln behangen. Auch wenn der Anblick eines solcher Baumschmucks einige Menschen eher frösteln lässt, für mich ist das der schönste Weihnachtsbaum, den es auf der Welt gibt.

»Herr Albers, können Sie mich verstehen?«, ruft Frau Kramer aus der Küche herüber.

»Ja, was ist denn?«

»Sind Sie so lieb und zünden schon einmal die Kerzen an? Die anderen müssten gleich kommen. Lange Streichhölzer liegen auf dem Tisch. Ja?«

»Klar, gerne.« Ich nehme die Streichhölzer und stelle die bereitstehende Klappleiter vorsichtig zwischen die liebevoll eingewickelten Pakete. Es mögen an die fünfzig Kerzen sein, die ich zum Leben erweckt habe, als Frau Kramer mit dem Tablett hereinkommt. Mit dem Ellenbogen kippt sie den Lichtschalter neben der Tür um.

»Wie wunderbar«, haucht Frau Kramer in feierlichem Ton und ich muss mich zurückhalten, um ihr nicht um den Hals zu fallen und »Ja, Mama!« zu seufzen.

Mich überläuft es heiß und kalt, als ich diese eisig warme Pracht aus silbernem Glanz und weißem Kerzenlicht vor mir leuchten sehe. Nach einer Weile fasse ich mich wieder und als ich glaube, dass meine Tränen in den Augen nicht mehr zu sehen sind, setze ich mich wieder aufs Sofa.

Frau Kramer klappt die Leiter wieder zusammen und trägt sie aus dem Zimmer – ein praktischer Akt, der mich kurz in die Realität zurückholt.

»Ich schenke mir schon mal ‘ne Tasse ein, in Ordnung?«, frage ich mit gedämpfter Stimme, denn der erleuchtete Baum gibt dem Zimmer etwas Heiliges.

Frau Kramers naturblondes Haar glänzt im Kerzenlicht, als sie im Türrahmen steht und antwortet: »Bedienen Sie sich ruhig. Ich brauch noch ein paar Minuten in der Küche. Sie essen doch mit uns, oder?«

»Ähm … ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann, ich muss heute doch noch arbeiten …«

»Na, dann überlegen Sie es sich in aller Ruhe. Ich fände es jedenfalls wunderbar.«

Frau Kramer bringt mir noch einen Teller Spekulatiusplätzchen, die mir nur einmal im Jahr schmecken und auch nur dann, wenn die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen – aber wehe, es gab Weihnachten keine Spekulatius, dann musste Mama zu den Nachbarn hinüberlaufen, weil Weihnachten sonst nicht Weihnachten gewesen wäre.

Ich habe mir bereits eine zweite Tasse Kaffee eingeschenkt. Sobald ich nur lange genug auf den Weihnachtsbaum sehe, verschwimmen Kerzenlicht und Lametta hinter meinen Tränen zu einem silbrig glänzenden See. Ich lehne mich zurück und reibe mir die Augen. Als ich auf die Pakete blicke, entdecke ich ein Namenskärtchen, auf dem mit Bleistift mein Name geschrieben steht. Neugierig erhebe ich mich, um genauer nachzuschauen. Auf dem Kärtchen an dem ebenfalls in rotes Geschenkpapier eingeschlagenen Paket darunter steht auch mein Name – aber das ist kein Wunder, denn meine Pakete sind immer in rotes Papier eingeschlagen und die von Martin in blaues. Ich bin beruhigt, Martins blauen Paketstapel ein Stückchen weiter entfernt zu entdecken, denn Martin ist kleiner als ich und würde es nie verstehen, wenn ich etwas geschenkt bekomme und er nicht.

Endlich kommt Mama herein. »Hört zu, Kinder, Papa und Opa sind gleich aus der Kirche zurück. Ihr singt dann doch, oder?«

Martin und ich halten Händchen und nicken aufgeregt. Wir wissen genau, warum wir nicht mit in die Kirche gehen durften – wir sollten dieses Jahr lieber noch einmal aussetzen, hat Papa gesagt. Nur weil Martin letztes Jahr, als der Pastor gesagt hat: »Lasset uns gehen nach Bethlehem«, gerufen hat: »Komm, Papa, wir können gehen!«, und daraufhin alle Kinder in der Kirche ihre Eltern bedrängt haben, endlich nach Hause zu gehen, und der Pastor den Gottesdienst aufgrund des entstandenen Tohuwabohus abbrechen musste.

Dennoch ist das Warten heute genauso unerträglich schön wie letztes Jahr in der Kirche. Endlich kommen Opa und Papa nach Hause und Martin und ich singen Alle Jahre wieder, weil Martin schwerere Lieder noch nicht so gut kann, aber er ist ja nicht einmal fünf und ich bin schon fast sechs Jahre alt. Dann sitzen wir alle gemütlich zusammen am Tisch und es gibt Kakao und Kuchen und für die Großen Kaffee, den ich schon die ganze Zeit gerochen habe.

Danach singen wir gemeinsam mein Lieblingslied Es kommt ein Schiff geladen. Irgendwie sind wir in diesem Moment alle eins und ich weiß gar nicht mehr genau, wer ich von uns fünfen bin. Ich habe meine Eltern sogar mitten im letzten Sommer einmal gebeten, das Lied gemeinsam zu singen und wir haben uns alle ins Wohnzimmer gesetzt, die Rollos heruntergelassen, Kerzen angezündet und das Lied gesungen. Immer wieder von vorne, bis wir diesen Zustand erreichten, in dem sich niemand mehr allein fühlt.

Aber so schön wie heute Abend ist es noch nie zuvor gewesen. Wir geben uns alle die Hände und singen ganz leise und als wir irgendwann das Lied beendet haben, umarmen wir uns alle. Dann stellen wir uns vor den Weihnachtsbaum. Ich hüpfe bei Mama auf den Arm und Martin bei Papa und in der Mitte steht Opa und sagt: »Genießt diesen Augenblick, Kinder«, und er drückt uns alle und ganz besonders Mama.

»Ist es nicht wunderbar, Heiner?«, haucht mir Mama sanft ins Ohr.

Und nach einem andächtigen Schweigen gibt Papa mit seiner tiefen Stimme das Startzeichen: »So ihr beiden, los geht’s und jetzt ran an die Geschenke!«

Martin darf immer das erste Paket auspacken, weil er der Kleinste ist. Ich bin heute Abend genauso aufgeregt wie er und vergesse über seiner Holzlokomotive fast, meine Pakete auszupacken. Im ersten ist eine richtige Tankstelle und nach und nach gesellen sich Wikinger-Autos und sogar ein Tankwagen hinzu.

Immer wieder hüpfe ich, nachdem ich mir eine Marzipankartoffel, ein Spekulatius oder ein buntes Schokoladenplätzchen vom Weihnachtsteller herausgepickt habe, zwischendurch bei Mama auf den Schoß und wenn der gerade von Martin besetzt ist, müssen eben Opa oder Papa herhalten. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass sich auch die Erwachsenen über ihre Geschenke freuen; das sind alles nur Bücher, Sachen zum Anziehen oder für den Haushalt; mit nichts davon kann man spielen, aber sie scheinen genauso glücklich wie wir zu sein.

Irgendwann gibt es noch Schnittchen und für uns Kinder das Leckerste auf der Welt: Kabelsalat – klein geschnittene Makkaroni mit Erbsen, Mayonnaise und Ketchup.

Irgendwann schläft Martin neben dem Holzzug und all den anderen Geschenken ein und wird ins Bett getragen. Wir dürfen heute solange aufbleiben, wie wir wollen, und es ist schon fast zehn Uhr, als ich erschöpft und glücklich auf dem Sofa einnicke. Ich höre noch, wie Mama sagt: »Wir lassen ihn dort einfach liegen und decken ihn nur etwas zu.«

Ich habe wunderbare Träume von Tankstellen und mit Spekulatius beladenen Schiffen und Holzzügen und immer wieder singen wir Es kommt ein Schiff geladen. Ich freue mich schon in meinen Träumen auf das Aufwachen, auf den ersten Weihnachtstag, wenn wir mit Papas großem Wagen zum anderen Opa und der Oma in den Nachbarort fahren.

Und dann öffne ich die Augen und sehe die rotglimmende Digitalanzeige meines Weckers und reiße das Kalenderblatt ab.

24. Dezember
Heute werden Sie einen besinnlichen Tag verleben
und viel Freude schenken und erfahren!

Dreihundertvierundsechzigmal hat sich mein Horoskop geirrt, doch zweifellos bin ich der Anpassungsfähigste von uns dreien. Also stehe ich auf und packe meine Sachen. Dann klingele ich bei der verdutzt dreinblickenden Frau Kramer, wünsche ihr von ganzem Herzen frohe Weihnachten und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.

In der Tiefgarage angelangt, reiße ich schließlich das Taxischild vom Autodach und schmeiße es gegen die Wand, wo es in tausend Stücke zerspringt. Es wird ein langer Weg zurück nach Hause zu meinen Eltern – und auch Martin wird mit seiner Familie kommen, wie mir meine Mutter eben am Telefon gesagt hat –, aber bis zur Bescherung werde ich es schon schaffen.

Was mit Jan und Claus ist, weiß ich nicht. Ich glaube, die schlafen immer noch …

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