Es hat schon seine Gründe, dass nicht jede*r Kolumnist*in auch Journalist*in ist. Journalistische Artikel sind in der Regel mehr oder minder faktenbasiert, während man in Kolumnen faktenbefreit vor sich hinschwadronieren kann. So behauptet taz-Kolumnistin Simone Dede Ayivi einfach mal locker vom Hocker: „Wokeness gibt es nicht.“ Schließlich habe sich in den „hiesigen Diskursen“ keine Bewegung jemals selbst als woke bezeichnet. Nach dieser Logik gäbe es allerdings auch keinen Rassismus, weil sich kaum jemand selbst als rassistisch bezeichnet.
Die US-amerikanische Begriffsgeschichte des Wortes übergeht Ayivi mit der Bemerkung, sie ließe sich „leicht nachlesen“. Stimmt: „Entstanden ist der Begriff Mitte des 20. Jahrhunderts in der afroamerikanischen Bewegung als Ausdruck des Bewusstseins für soziale bzw. rassistische Unterdrückung“, schreibt Matthias Kemter in der „Stuttgarter Zeitung“. Das Oxford English Dictionary definiert „woke“ (übersetzt) so: „Ursprünglich: Gut informiert, auf dem neusten Stand. – Jetzt hauptsächlich: Wachsam gegenüber rassistischer oder gesellschaftlicher Diskriminierung und Ungerechtigkeit; häufiger Gebrauch: `wachsam bleiben´.“ (2017) Der Begriff war also ursprünglich positiv konnotiert, und so wurde er anfangs auch im deutschsprachigen Raum auf Twitter verwendet: „Der Begriff woke selbst ist dementsprechend in den ersten Belegen [2014, PR] auch fast ausschließlich in die von den Aktivisten als Erkennungszeichen genutzte Phrase stay woke eingebettet.“ (L. Bettag u.a.: Woke – ein Stigmawort zwischen Begriff und Chiffre, Sprachreport, 2023)
Auch „political correctness“, so Ayivi, sei eine „Beschimpfung“ und „aus der politischen Rechten“ nach Deutschland gelangt. Die Bundeszentrale für politische Bildung sieht das anders: „Die systematische Bewegung hin zu einer `politischen Korrektheit´ entstand … erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen von Antidiskriminierungsbestrebungen seitens der Neuen Linken in den USA. … In Deutschland eingeführt wurde der Ausdruck Anfang der 1990er Jahre durch Zeitungsartikel, die über die amerikanische PC-Debatte und deren Auswirkung auf Kunst, Politik und Gesellschaft berichteten.“ (I. Forster, Political Correctness / Politische Korrektheit, bpb, 2010)
Dass beide Begriffe in der Folge hier wie dort zunehmend abwertend verwendet wurden, liegt auch an der Pervertierung ihres Inhalts durch die Identitätspolitik selbst. Aus Moral wurde Moralin: „diskriminierungssensible“ Sprachregelungen und Manipulationen an belletristischen Texten, Auftrittsverbote für weiße Musiker*innen mit Dreadlocks, Entfernung missliebiger Statuen aus dem öffentlichen Raum und dergleichen mehr. Dieser Ungeist ist allerdings schon im Wort „woke“ selbst mit seinen Anklängen an religiöses Sektierertum und rechtsradikale Verschwörungstheorien angelegt: „Verschwörungsgläubige sehen sich als `Erwachte´ und als Berufene, die noch unwissenden `Schlafschafe´ aufzuwecken und von der `Wahrheit´ zu überzeugen.“ (Wikipedia, Schlafschaf) Das hat den ursprünglich positiven Bedeutungsgehalt des Wortes von vornherein kontaminiert: Es war, ist und bleibt ein Symbol für das elitäre Selbstverständnis derjenigen, die es im politischen Kontext geprägt und verwendet haben.
Heute sind „Wokeness“ und „politische Korrektheit“ fast nur noch Chiffren für die linke Kritik am identitätspolitischen Denken (und für die rechte Denunziation alles „Links-Grün-Versifften“ überhaupt). Ayivis Versuch, nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ die Begriffe nun einfach der Rechten in die Schuhe zu schieben, ist ein typisches Beispiel für die Praxis der Delegitimierung: Ist das Wort ohnehin „rechts“, braucht man sich mit seinem Bedeutungsgehalt nicht mehr auseinanderzusetzen, ja, es gibt ihn gar nicht mehr. Das hat etwas von einem Exorzismus und entspricht dem identitätspolitischen Irrglauben, mit der Auslöschung von Wörtern sei quasi automatisch auch das ausgelöscht, wofür sie stehen. Aber so leicht lassen sich die Dämonen nun mal nicht vertreiben. Leider. Oder zum Glück.