Ralles Radio 2023
Musikalische Rückblicke sind immer persönlich, spiegeln die musikalischen Vorlieben einer Person und basieren auf deren Vorlieben, Lebenssituation und vor allen Dingen Neugier. Letztere ist seit langen mein Ansporn, genreübergreifend über die mittlerweile fast unendliche musikalische Landschaft zu schauen und mir die Dinge herauszupicken, die ich mag. Einzige Bedingung: Das Medium sollte physikalisch vorliegen, genauso wie das Kaltgetränk, der Tee oder Kaffee, die ich beim Hören dabei genieße. Los gehts also durchs persönliche musikalische Jahr mit Veröffentlichungen, die mich besonders beeindruckt haben und die, wenn es gut läuft, einigen Leserinnen und Lesern ebenfalls gefallen werden.
Den Anfang macht die polnische Band Riverside, die mit ihrem Album ID.Identity ein Werk vorlegt, das dieses Mal deutlich im Sound der Achtziger verortet ist. Das Quartett um den charismatischen Bassisten Mariusz Duda, das im Jahr 2013 ein bemerkenswertes Konzert im Osnabrücker Rosenhof spielte, darf sich inzwischen längst zur Creme des Progressive Rock zählen und erzählt auf dem Album die Geschichte der Entfremdung in der digitalen Welt von Social Media und Echokammern. Dabei gibt es deutliche klangliche Anleihen bei den Norwegern Aha, die, kombiniert mit den slawischen Elementen der Polen, ihren eigenen Reiz entfalten und ID.Identity zu einer Platte machen, die auch Popliebhabern mit offenen Ohren gefallen dürfte. Auf der Special-Edition im Earbook-Format glänzt vor allen Dingen neben dem Artwork der 5.1. Dolby Surround Mix.
Nach dem melancholische Art-Rock Zauber von Riverside muss es dann zur Abwechslung aber auch einmal richtig krachen. Meine Lieblings-Krachmusiker sind in diesem Jahr die Italiener Maneskin. Ihr Album Rush ist gespickt mit ultramodernen Rocknummern und sentimentalen Balladen. Dabei ist das ganze Paket wohltuend politisch unkorrekt. Allein das Artwork der Platte ist mit seinem augenzwinkernden „Upskirting“ alles andere als woke und mit der Musik feiert sich die Band selbst, die Jugend und das Leben.Das Quartett ist nach seinem ESC-Sieg 2021 längst in die Rock-Oberliga aufgestiegen und schlägt mit seinen Songs und den exzentrischen Bühnenoutfits eine Brücke zum Glamrock der Siebziger. Macht Spaß!
Für die ruhigeren Momente hat im Sommer am nordfriesischen Watt ein in Hamburg ansässiges Jazztrio gesorgt. Passend zum Urlaub erscheint das neue Album Birds des Tingvall Trios und nimmt mich bei Spaziergängen am Wattenmeer an die Hand mit seinen kleinen Kunstwerken zeitgenössischer Instrumentalmusik. Natürlich ist das Trio um den schwedischen Pianisten und Namensgeber Martin Tingvall seit 20 Jahren fest im Jazz verortet, es sind aber die Seitenblicke in andere Genres, die die Musik Tingvalls, des deutschen Drummers Jürgen Spiegel und des kubanischen Bassisten Omar Rodriguez Calvo so bemerkenswert und packend machen. Die Stücke der Platte sind kurz, packen den Moment und glänzen durch exquisite thematische Arbeit. „Birds“ wird durch seine intellektuelle Begreifbar- und emotionale Erfahrbarkeit zum Geheimtipp gerade für die ruhigen Tage. Zum Chillen nebenbei und zum aufmerksamen Hören klingt die Vinyl-Version einfach phantastisch.
Bleiben wir für eine Albumlänge noch beim Genre und bei einer der für mich größten Überraschungen des Jahres. Witchy Activities And The Maple Death der Monika Roscher Bigband hilft mir Anfang des Jahres auf inspirierende Weise beim Frühjahrsputz der Gehörgänge. Der süddeutschen Gitarristin und Bandleaderin, die mit ihrer Gastprofessur 2017/18 am IfM durchaus einen Bezug zu Osnabrück hat, gelingt mit diesem Longplayer ein kleiner Geniestreich. Über die gesamte Spielzeit bekomme ich das Schmunzeln nicht aus dem Gesicht. Was das große Ensemble hier präsentiert lässt sich nicht kategorisieren. Jazz, Folklore, Krautrock, Avantgarde und Heavy Metal treffen in einem musikalischen Universum zusammen, in dem Alles geht. Der manisch performante Geist Amon Düüls II trifft in „8 Prinzessinnen“ auf Math-Rock Beats und in der Suite „Witches Brew“ winkt die Band ohne sich anzubiedern dem musikalischen Freigeist des großen Miles zu. Dazwischen gibt es immer wieder kürzere, poppige Songs zum Durchatmen. Das knallige Artwork der Platte ist dabei genau so bunt wie die Musik. Wunderbar!
Bunt aber etwas härter geht es weiter mit den britischen Progmetallern Haken. Ihr Album Fauna beschäftigt sich mit Evolution und Klimakrise und steht dabei im Ansatz deutlich in der Tradition großer progressiver Bands von der Insel wie Gentle Giant oder King Crimson.
Die fünf Instrumentalisten der Band sind alle Meister ihres Faches und Sänger Ross Jennings überzeugt mit seiner flexiblen Stimme. Dabei ist der Tellerrand des Genres nicht die Grenze, sondern die Herausforderung. Songs wie „The Alphabet Of Me“, „Nightingale“ „Elephants Never Forget“ oder „Eyes of Ebony“ überzeugen durch einen fast weltmusikalischen Ansatz, kombinieren ungerade Takte mit Jazz, Metal und
instrumentale Raffinesse mit herausragender thematischer Arbeit. Hier spielt die Haute Cuisine des Progmetal Genres!
Das Toppalbum dieses Jahres ist für mich allerdings das Werk eines Mannes, der seit Jahren an seiner Vision einer allumfassenden Popmusik arbeitet. Mit The Harmony Codex kommt der Brite Steven Wilson, der mit seiner Art-Rock Band Porcupine Tree nach zehnjähriger Abstinenz erst im letzten Jahr ein klasse Comeback inkl. einer bemerkenswerten Platte hinlegte, diesem Ziel sehr nahe. Wilson, bekannt auch für seine exquisiten Remixe der Alben von Yes, Gentle Giant, ELP, Jethro Tull, Tears For Fears oder Tangerine Dream, kennt und möchte keine Genregrenzen und mischt auf seinem aktuellen Soloalbum unterschiedliche Stile gekonnt zu einer akustischen Skulptur zusammen. Akustische Skulptur deshalb, weil The Harmony Codex vielleicht das erste Album ist, das mit voller Absicht für Dolby Atmos – Systeme produziert wurde. Diejenigen, die die Möglichkeit haben, das Werk in dieser Form zu genießen, bekommen einen makellosen Sound geliefert, der keine Wünsche offen lässt. Die musikalische Reise startet mit dem sphärischen, von wuchtigen Industrial-Rhythmen getragenen „Inclination“, in dem Nils Petter Molvaer mit seiner Trompete spannende Akzente setzt, bevor Wilsons raumfüllender Gesang einsetzt. Der Weg führt weiter über „What Life Brings“, eine wunderschön getragene Rockballade, bevor das elektronische, auf einer vertrackten Moog-Sequenz basierende „Economies Of Scale“ übernimmt. Getragene Violinentöne leiten dann das zwölfminütige, durchaus an Pink Floyds „One Of These Days“ erinnernde, Groovemonster „Impossible Tightrope“ ein. Hier ist die Wilson Band im Freiflug und Soft Machine Saxophonist Theo Travis sowie ex-Miles Davis Keyboarder Adam Holzman liefern feurige Soli ab.
Die zweite Hälfte des ambitionierten Projekts wird eingeläutet durch „Rock Bottom“, einem intensiven Duett Wilsons mit seiner langjährigen musikalischen Partnerin, der israelischen Sängerin Ninet Tayeb, die mit ihrer ausdrucksstarken Stimme dem Song das Sahnehäubchen aufsetzt. Hier befinden wir uns wieder im ruhigeren Gewässer des klassischen Rockmediums, lassen uns von Wohlklang und Emotion einhüllen, sind bereit für die weiteren musikalischen und akustischen Abenteuer, die The Harmony Codex bietet. Nur soviel: Die Reise bleibt weiterhin spannend und abwechslungsreich und es ist erstaunlich mit welch leichter Hand Steven Wilson hier scheinbar unvereinbare Stile miteinander kombiniert.
Dazu kommt das gesamtkünstlerische Konzept, das neben der Musik die Literatur – The Harmony Codex basiert auf einer gleichnamigen Short Story Wilsons -, die Kunst mit den Bildern des Deutschen Hajo Müller sowie eindrucksvolle Videos zu einzelnen Stücken einschließt. Hierzu gehören das wundervolle One-shot Tanzvideo zu „Economies Of Scale“ (https://youtu.be/wmtyvKz8ubQ?si= PO_UFaIZ9TZduxoR) die beiden Computeraminationen „Impossible Tightrope“ (https://youtu.be/qbGkZ31Fmp8?si = o0VYzVrtrEEpFc-2) und „Beautiful Scarecrow“(https://youtu.be/Pu6oIN5D1fA?si =4fgVWdgmZjBSKM6L). The Harmony Codex ist eine großartige multimediale Geschichte, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Denjenigen, die nicht in der Lage sind, die Dolby Atmos – Version zu genießen sei versichert, dass auch die anderen Formate, CD und Vinyl, einfach klasse klingen.
Auf die letzte Minute… Nach 20 Jahren hat Peter Gabriel mit I/O seit einigen Tagen ein neues Album auf dem Markt. Produktionstechnisch geht er dabei ähnliche Wege wie Steven Wilson. Auch er setzt wie schon oft auf ein ganzheitliches Konzept aus Musik, Kunst und Video. Der erste Eindruck: Gabriel hat auch im Jahr 2023 nichts von seiner stimmlichen Klasse verloren. Mit ihr zieht er die Zuhörer in ihren Bann, hüllt sie ein mit ihrer Magie. Alle Songs auf I/O sind großartig gesungen, topp produziert und die klassische Gabriel-Crew, Omar Halim am Schlagzeug, David Rhodes an der Gitarre und Tony Levin am Bass und Chapman Stick sorgt für den unwiderstehlichen Groove.
Der Unterschied: Während Wilson ein ultimatives Destillat von 65 Minuten Spielzeit anbietet, kann sich Gabriel nicht entscheiden. Er bietet I/O im Brightside -, Darkside – und Inside Mix an, die sich alle nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Das kann für Komplettisten ganz schön ins Geld gehen. Die preisgünstigste Alternative ist hier das Dreierpack aus zwei CD ’s und einer BluRay mit dem tollen Dolby Atmos – Mix.
Zum Schluss bleibt mir nur, euch allen ein musikalisch spannendes Jahr 2024 zu wünschen.
Bis bald und bleibt neugierig!