Freitag, 26. April 2024

Heute vor einem Jahr aus der OR-Rubrik „Es war einmal …“: Wir sind dann mal wech …

Wie der Westen versucht, sich so geräuschlos wie möglich vom Hindukusch zurückzuziehen

Nun ist es also soweit, die Bundeswehr ist aus Afghanistan raus – nach zwanzig Jahren!

Was vor Kurzem noch als Tabu gehandelt wurde, sollte plötzlich ganz schnell gehen und möglichst ohne viel Tamtam. Damit man nicht in Erklärungsnöte gerät, wo es niemals etwas zu verstehen gab. Zwanzig Jahre durchgewurstelt, mit Scheinrechtfertigungen rumgeeiert, um zu kaschieren, dass man sich hat da reinziehen lassen von den mächtigen Freunden aus den USA. Aber plötzlich haben die auch die Schnauze voll von Taliban und Autobomben, von Selbstmordattentätern und Hinterhalten, von Drohnenkrieg und der ewigen Mär von der Republik Afghanistan. Ausgerechnet Donald Trump, dessen Amtszeit eigentlich nicht viel Positives zugerechnet wird, hat den Schlussstrich offiziell vollzogen, der jetzt in aller Hektik umgesetzt wird. Raus aus Afghanistan, lieber heute als morgen!

Vom Scheitern darf (noch) nicht gesprochen werden

Dass die Bevölkerung aller Bündnispartner dies begrüßt, mag die Allianz beflügeln. Jetzt geht es nur noch darum, die Sache medial so zu lancieren, dass nicht zu offenbar wird, wie das ganze Unternehmen am Ende zu bewerten ist: als ein Scheitern der westlichen Sicherheitspolitik.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn mit der pandemischen Bedrohung sind die Leute nachrichtentechnisch optimal abgelenkt durch Infektionszahlen und Risikowarnungen. Hinzu kommt, dass an Vorgängen von langer Dauer ohnehin das Interesse schwindet. Haben Angriffe mit Verlusten auf unsere Soldaten*innen in den 2000er Jahren noch für Aufmerksamkeit und Anteilnahme gesorgt, wurde das zum Ende hin eher am Rande wahrgenommen. Ein weiterer Vorteil für die Verbreitung politischer Legenden ist die zunehmend toxische Wirkung von Fake-News. Insbesondere über Ereignisse von multilateraler Tragweite kursieren schnell konkurrierende Wahrheiten im Netz. Dementsprechend kann man im Hinblick auf die Medienlandschaft hierzulande beobachten, wie der Rückzug aus Afghanistan, den man ebenso gut als eine organisierte Flucht beschreiben könnte, von der Prognose bemäntelt werden soll, dass der Demokratisierungsprozess dort um Kabul stabil sei und die republikanischen Strukturen funktionieren. Von der Aussicht eines nachhaltigen zivilen Engagements wird geschrieben und Außenminister Maas sichert weiterhin finanzielle Hilfen zu. Diese würden natürlich nicht an die Taliban gezahlt. Allerdings fällt angesichts der vagen Formulierung solcher Artikel auf, dass die Autoren selbst nicht recht an das glauben, was sie da herbeischreiben sollen. Zumindest zaghaft eingestreute Zweifel scheinen hier und da schon erlaubt.

Dabei muss man nur hinschauen, wie unsere Verteidigungsministerin vehement dafür wirbt, mehr afghanische Ortskräfte in Deutschland aufzunehmen als zunächst geplant (ca. 1500). Selbst wenn dem parlamentarisch stattgegeben wird, müsste es immer noch Tausende geben, die sich im Stich gelassen fühlen.

Taliban werden übernehmen

Allein die Frage, was diese Menschen dazu treibt, jetzt ihre Heimat aufzugeben, da doch angeblich alles so zartrosig republikanisch erscheint, müsste schließlich zu einer anderen Wahrheit führen.

Sämtliche Nachrichten-Ticker aus dem Krisengebiet weisen darauf hin, dass die Islamische Republik Afghanistan in sich zusammenfallen wird wie ein Kartenhaus, wenn die letzten westlichen Truppen sich im Flieger nach Hause angeschnallt haben. Und das auch nur, wenn die Taliban so lange die Füße stillhalten, was sie laut aktuellen Meldungen nicht tun. Zum bitteren Ende müssen die zurückweichenden Mächte sogar fürchten, dass sich Szenen wiederholen, wie sie im finalen Kapitel des Vietnam-Desasters weltweit im TV zu sehen waren. Verzweifelte Seelen, die sich auf ein Hoteldach gerettet haben und von dort aus versuchen in einen der letzten Hubschrauber zu gelangen, die noch aus der Kampfzone rauskommen. Kabul als ein zweites Saigon?

Danach wird es erst Chaos geben, das, so muss man befürchten, viele Menschen das Leben kosten wird. Bis die Taliban die Sache unter Kontrolle haben, u. a. mit Hilfe des Iran. Dann werden dort am Hindukusch die Verhältnisse wiederhergestellt werden, wie sie vor dem Einmarsch des Westens gewesen sind. Ein Gottesstaat mit dem Koran als verfassungsgebend.  Was das für Frauen heißt, muss hier nicht weiter illustriert werden. Ein Unterschied zu damals wird drin liegen, dass es keiner Nation mehr einfallen wird, dort noch einmal einzumarschieren.

Das kann man, ohne zu übertreiben, für die Menschen die es dann trifft, als ein Horrorszenario voraussehen. Genau deshalb wollen ja so viele Afghanen mit den Amis und den Deutschen zusammen abhauen.
Eine afghanische Politikerin formuliert es laut Bild-Zeitung so: „Die Deutschen werden erst merken, was sie falsch gemacht haben, wenn es eine große Flüchtlingswelle gibt, diesmal nicht aus Syrien, sondern aus Afghanistan…“

Erschütternde Bilanz

Angesichts solcher Aussichten müsste jedem, der seine Gedanken noch einigermaßen geordnet hat, die Frage aufploppen, was das aufwendige Unternehmen nun gebracht hat.

Die Antwort fällt so schlicht wie erschütternd aus: nix.

Ungleich komplexer sieht die Sache aus, wenn man auf die Ressourcen schaut, die dafür aufgewendet wurden. Da wären zunächst die offiziell als „einsatzbedingte Zusatzausgaben“ bezifferten Zahlen, die je nach Quelle erheblich differieren. So nennt die ARD 16,4 Milliarden Euro (April 2021), während DIE WELT aufgrund einer Hochrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schon 2010 zu einer geschätzten Zahl von mindestens 26 Milliarden Euro kommt. Während der zwanzig Jahre im latenten Kampfeinsatz haben sieben Verteidigungsminister daran mitgewirkt, die Armee so umzukrempeln, dass deutsche Soldaten*innen stets damit rechnen müssen, für ähnliche „Friedensmissionen“ ihr Leben zu riskieren. Begleitend gibt es seit 2009 ein Ehrenmahl für gefallene Bundeswehrsoldaten*innen in Berlin sowie den aus Kundus evakuierten „Heldenhain“, für den noch ein Platz in der Heimat gefunden werden muss. Dort soll u. a. der 59 Soldaten gedacht werden kann, die in Afghanistan zu Tode gekommen sind.

Wir haben gelernt, was ein PTBS ist und dass manche „Veteranen“ damit künftig leben müssen und wir können uns mittlerweile Genaueres unter dem Begriff Kollateralschaden vorstellen. Je länger die im Strategiejargon als asymmetrisch umschriebenen Kampfhandlungen sich hingezogen haben, ist es zu Situationen gekommen, in die sich auch deutsches Militär zweifelhaft verstrickt hat. Der vom deutschen Oberst Klein befehligte Luftangriff auf zwei entführte Tanklastwagen, bei dem 2009 mindestens 30 Zivilisten getötet wurden, war so eine. Das gehört ebenso zu einer „ehrlichen Bilanz“, wie Bundestagspräsident Schäuble sie jüngst im Parlament gefordert hat.

Wenn Kramp-Karrenbauer von „harten Lektionen“ spricht, sollte man dabei nicht außer Acht lassen, wie wir Deutschen, die wir uns doch nach dem II. Weltkrieg so ausnehmend rücksichtsvoll und friedlich verstanden haben, in einen solchen Schlamassel geraten konnten.

Die strategischen Finten der Ära Bush

Dazu müssen wir uns etwas mehr als ein Vierteljahrhundert zurückdenken: Nachdem sie den sowjetischen Einmarsch mithilfe westlicher Gratislieferungen an Waffen und Munition zurückgeschlagen hatten, verhielten sich die afghanischen Widerstandsgruppen nicht so, wie der Westen, insbesondere die USA, gehofft hatten. Sie bildeten keine pro-westliche Zentralregierung, sondern bekämpften sich gegenseitig in einem Guerillakrieg. Was in einer Region, die traditionell ethnisch heterogen besiedelt ist, nicht unbedingt überrascht, wenn man die Geschichte des Landes ernsthaft reflektiert. Daraus könnte man lernen, dass Invasoren, so übermächtig sie auch erschienen, dort allesamt verlustreich gescheitert sind. Allein ein genauerer Blick auf die geografische Bezeichnung der Region, könnte einen darauf bringen, dass man dort mit vorschnellen Aktionen eine Büchse der Pandora öffnet. Hindukusch heißt übersetzt Hindu Mörder …

Dies alles war bekannt, als die Verantwortlichen für den Afghanistankrieg anfingen, die Geschehnisse nach ihren Interessen zu manipulieren. In den USA offenbar nicht. Dort hatte eine ultrakonservative Clique der Republikaner eine Ideologie zusammengebastelt, die ihrer Legitimation vor allem aus dem von S. Huntington vorausgesagten Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen) zieht. Demnach würden sich die weltpolitischen Geschicke in einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen westlich-christlicher Demokratie und islamischer Hegemonie entscheiden. Darauf müsste sich der Westen vorbereiten. Als mit Bush Junior ein Präsident ins Amt kam, der auf dieses Theorem geeicht war, verschärfte sich der diplomatische Umgang mit dem Taliban-Regime, das seit 1996 in Afghanistan die Macht erkämpft hatte und einen islamistischen Fundamentalismus auslebte, auf den man aus unserer Sicht nur mit Kopfschütteln und Abscheu blicken kann. Schwer auszuhalten, wie dort nach archaischen Prinzipien Menschen terrorisiert und insbesondere Frauen gedemütigt werden. Trotzdem wäre es keiner Regierung der Bundesrepublik Deutschland damals eingefallen, dort zur Durchsetzung westlicher Moralvorstellungen militärisch zu intervenieren.

Die USA erhöhten derweil den Druck, indem sie das Taliban-Regime beschuldigten, die Terrororganisation Al Kaida aktiv zu unterstützen, ihren Kämpfern Schutz und Unterschlupf zu bieten. Einer der Chefstrategen der Bush-Administration, Paul Wolfowitz, erklärte das Land zum „Schurkenstaat“. Tatsächlich war es in den neunziger Jahren zu einigen verheerenden Anschlägen auf amerikanische Botschaften und Militäreinrichtungen gekommen. Al Kaida hatte den Kampf der Kulturen angenommen.

Und dann kam der 11. September 2001. Damit hatte Al Kaida, angeführt von Osama Bin Laden, den Bogen mehr als überspannt und es gab plötzlich sehr viele im demokratischen Westen, die Forderungen nach einer Vergeltung befürworteten. Auch in Deutschland.

Die damalige Führung der USA hatte jedoch, und das ist ein entscheidender Punkt, mehr im Sinn. Sie sah den Anschlag nicht nur als eine nationale Katastrophe, sondern interpretierte ihn als einen Angriff auf ihre Kultur im Ganzen.

Dementsprechend strategisch ging sie die Sache an. Jetzt schlug die Stunde von Rumsfeld, Wolfowitz und Cheney, die als die eigentlichen Drahtzieher des Afghanistan Krieges zu markieren sind. Um es nicht nach einer einseitigen Strafaktion der USA aussehen zu lassen, riefen sie die Weltgemeinschaft zu Hilfe, besorgten sich eine UNO-Resolution und riefen zum bisher einzigen Mal in der Geschichte den Bündnisfall in der NATO aus. Unter dem Schock der Ereignisse wurde beiden Ersuchen mehrheitlich zugestimmt.

Wie die Bundeswehr an den Hindukusch gekommen ist

Dabei muss man der rot-grünen Regierung von 2001 zugutehalten, es zumindest geschafft zu haben, dass sich die Bundeswehr nicht an dem unmittelbaren Feldzug gegen Afghanistan beteiligt hat. Was zu einer der größten Stimmungskrise seit dem II. Weltkrieg zwischen den USA und der BRD geführt hat. Unverhohlen bezeichneten Bush & Co. die Deutschen als Feiglinge und machten sich über die Gebote des Grundgesetzes lustig.

Noch einmal verschärft wurde der Ton, als sich Gerhard Schröder und Joschka Fischer 2003 standhaft weigerten, an der Seite der US-Marines in den Irak-Krieg zu ziehen.

Die Erfahrungen aus der Kampfzone am Hindukusch hatten in Deutschland viele Befürworter bereits desillusioniert. Die Trauer um bis dato 16 gefallene Soldaten wirkte in die Gesellschaft hinein. Zudem dämmerte selbst kühnsten Optimisten, dass das gesetzte Ziel, um Kabul eine Zivilgesellschaft nach westlichem Muster zu schaffen, utopisch war. Zu groß die religiösen Unterschiede, zu krass die Kluft zwischen den Kulturen, zu fremd standen sich die Menschen gegenüber, zu kontrovers die Auffassungen über die zivilen Verhältnisse, die Stellung von Mann und Frau, aufgeklärter Okzident hier, starr religiös verwurzelter Orient dort.

Gleichwohl musste jedem auch immer bewusster werden, dass die Bundesrepublik aus dieser Nummer nicht so leicht herauskommen würde. Man stand bei den mächtigen amerikanischen Freunden im Wort und hätte sich vor der Weltgemeinschaft (UN) bis auf die Knochen blamiert.

Rhetorik der Hilflosigkeit

Da in diese Richtung also nicht gedacht werden durfte, musste irgendwie Sinn konstruiert werden, um die heikle Mission – der Begriff Himmelfahrtskommando verbot sich in diesen Jahren selbstredend – vor den Leuten daheim zu erklären. Aus dieser Not heraus fiel dann 2004 der wohl bescheuertste Satz der bundesdeutschen Geschichte, abgesondert vom damaligen Verteidigungsminister Peter Struck (SPD): „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Damals schien keinem etwas Besseres einzufallen und so schaffte es dieser Unsinn ohne große Diskussion bis in Lehrbücher für Oberstufenschüler, die das dann erörtern sollten. So etwas wurde bis vor etwa fünf Jahren immer wieder unhinterfragt neu aufgelegt.

Als politische Legitimation hatte sich die verkorkste Rhetorik rascher erledigt und wurde unter dem Einfluss christdemokratischer Verteidigungsminister durch das Diktum von der „Bündnistreue“ ersetzt.

Parallel wurden die Mandate für die Einsätze der Bundeswehr vom Bundestag regelmäßig durchgewinkt, bis 2009 auch von den GRÜNEN. Einzig die LINKEN haben sich von Anfang an dagegen ausgesprochen, was jedoch hierzulande traditionell kaum politisches Gewicht hat. Und so wurde in die linke Schublade jegliche kritische Stimme gesteckt, die das Engagement in Afghanistan infrage stellt. Polarisierung statt Diskurs.

Durchhalteparolen statt Plan B

Vielleicht wäre ein geeigneter Wendepunkt die Ergreifung und Tötung Osama Bin Ladens am 2. Mai 2011 gewesen. Damit hatte sich immerhin ein Hauptziel der ursprünglichen Stoßrichtung erfüllt. Das hätte der Friedensnobelpreis-Träger Barack Obama als Grund für einen gut vorbereiteten Abzug nutzen können.

Diese Hypothese übersieht jedoch, dass die westliche Rüstungsindustrie und führende Militärs das Gelände am Hindukusch als ideales Experimentierfeld für neuste Waffentechnik zu schätzen wussten. Auf die uranverstärkten Artilleriegranaten folgten die Tarnkappenbomber und schließlich die Drohnen. Wo kann man die besser ausprobieren als in einem richtigen Einsatz? Wer fragt da schon noch nach Ziel und Zweck?

Fakt bleibt, dass es kaum eine Stimme mit Gewicht gewagt hat, sich dieser „Logik“ entgegenzustellen. Auch deshalb wurde nie über einen Plan B nachgedacht.

Was 2001 als politisches Ziel ausgegeben wurde, verkam zur Parole: Afghanistan werde eines Tages zu einer stabilen Zivilgesellschaft nach westlichem Muster, unser Verbündeter. Schluss der Debatte! Alles andere offiziell und öffentlich undenkbar.

In privateren Gesprächsrunden ist man sich dagegen schon längst einig, dass dort nichts mehr zu gewinnen ist. Tatsächlich wurde mit den Jahren seit Bin Ladens Ende immer sehnlicher auf ein Abbruchsignal aus den USA gehofft. Das hat Trump jetzt verblasen.

Wie nachtragend uns das Afghanistan-Desaster noch verfolgen wird, kann nur die Zukunft zeigen. Inwieweit wir daraus gelernt haben, liegt in unserer Hand.

 

 

 

 

 

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