Dienstag, 23. April 2024

Realistisch bleiben? Das Völkerrecht und die militärischen Kriegsziele der Ukraine …

Wenn es etwas gibt, das die Staaten der EU und sämtliche westliche Demokratien eint, dann ist es die öffentliche Solidarität mit der Ukraine. Landauf landab medienwirksame Zeichen der Verbundenheit, keine Zeitungsausgabe ohne Artikel über die Unterstützung für das ukrainische Volk und seine Regierung. Ob ESC oder Champions-League, internationale Großereignisse stellen sich ganz in den Dienst der hehren Sache, die landläufig als Frieden bezeichnet wird – Frieden für die Ukraine. Aber kann es sein, dass wir bei all den guten Wünschen und berechtigten Hoffnungen den klaren Blick für die politischen und – in diesem Fall besonders wichtig – militärischen Realitäten behalten? Wissen wir tatsächlich noch, worum es geht?

 

Die hehren Ziele des Westens

Wer das Mediengeschehen zur Ukraine verfolgt, muss feststellen, dass es im Augenblick vorrangig darum zu gehen scheint, ob jemand etwas vermeintlich Falsches sagt oder tut.

Scholz´ Zögerlichkeit, Schröders Verbohrtheit, Lamprechts fehlende Entschlossenheit, Melnyks rhetorische Unverschämtheit.

Bei aller Wertschätzung der Bedeutung dieser Vorgänge, sind es doch Nebengeräusche zu einem Geschehen, das unsere Gegenwart massiv beeinträchtigt und unsere Zukunft infrage stellt.

Der politische Status quo aus westlicher Sicht besteht aktuell darin, die Ukraine so umfassend aufzurüsten, wie es unter Putins Verdikt (es werde etwas geschehen, was historisch noch nie dagewesen sei) gerade noch geboten scheint. Aber schon hinsichtlich des Ziels, das damit verfolgt werden soll, verflüchtigt sich das Konkrete ins Nebulöse.

Wo sich die westliche Staatengemeinschaft trifft, NATO-Gipfel, G7-Treffen, Weltwirtschaftsforum, wird demonstrative Einigkeit hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine geübt und das Engagement, so scheint es, klar begründet. Die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, das Völkerrecht müsse eingehalten bzw. durchgesetzt werden, die Existenz des ukrainischen Staates müsse gewährleistet bzw. verteidigt werden. Russland dürfe nicht gewinnen. Alles Ziele, die niemand im Westen in Zweifel zieht.

 

Das wichtigste militärische Ziel ist erreicht

Die Frage ist nur, inwieweit bestimmte Teile dieser berechtigten Forderungen schon erreicht sind.

Kein militärischer Experte aus dem Westen würde heute noch die Gefahr sehen, dass die Ukraine als Staatengebilde von Putins Russland erobert werden könnte. Die nationale Integrität der Ukraine ist durch den Verteidigungskrieg gewahrt worden und nicht mehr direkt gefährdet.

Damit ist aus ukrainischer und aus westlicher Sicht immens viel erreicht.

Wenn ein Staat angegriffen wird, hat er das Recht auf Verteidigung. Das ist im Völkerrecht klar niedergelegt. Andersrum: Nichts rechtfertigt den russischen Angriffskrieg! Insofern steht außer Frage, dass Putins Russland sich die Krim und alle anderen bisher eroberten Gebiete im Süden und Osten der Ukraine rechtswidrig aneignet.

Das ist der Modus, auf den sich die Weltgemeinschaft unter dem Dach der UN geeinigt hat. Auf der anderen Seite steht die Realität, wie Putins Russland mit UN und Völkerrecht verfährt.

Damit kommt die Komponente der Durchsetzbarkeit ins Spiel. Wie es damit bestellt ist, haben wir durch den Ukraine-Krieg auch erfahren müssen. Uns allen stehen Bilder vor Augen, wie UN-Generalsekretär Guterres sich von Putin demütigen lassen musste. Nicht nur in Moskau, sondern auch bei seinem Besuch in Kiew. Da flogen ihm die nachgesendeten Granaten beinahe um die Ohren.

 

Die Lage hat sich festgefahren

Das Ziel der ukrainischen Regierung hat ihr Präsident vor Kurzem vor dem Wirtschaftsforum in Davos noch einmal bekräftigt: „Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurückhat.“ Er sei bereit zu Gesprächen mit Moskau, wenn Russland sich auf die Frontlinien von vor dem 24. Februar zurückziehe. (pst/dpa)

Russlands Außenminister Sergej Lawrow wiederum nennt die Einnahme des Donbass eine „bedingungslose Priorität“ für sein Land und spricht dabei von einer Befreiung. Russland erkenne Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, sagt Lawrow dem französischen Sender TF1 einer Meldung der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Die anderen Teile der Ukraine sollten selbst über ihre Zukunft entscheiden.

Das deckt sich mit Einschätzungen des Militärhistorikers Sönke Neitzel, der die strategischen Ziele Russlands in einem Interview wie folgt umrissen hat: „Die Landbrücke zur Krim halten, die Oblaste im Osten erobern und den Feind im Donbass einkesseln. Dort standen schon immer die besten ukrainischen Verbände. Gelingt ihm das, könnte er Kiews Militär das Rückgrat brechen. Er wäre dann in einer Position, eine Waffenruhe auszurufen. Das brächte die Ukraine in eine sehr schwierige Lage. Würde sie dann weiter russische Stellungen attackieren, würde das Putins Propaganda stützen, aus dem Angegriffenen den Aggressor zu machen.“ (NOZ)

Zwei unvereinbare Positionen im militärischen Streit, dessen Austragung sich auf den Süd-Osten der Ukraine konzentriert und mit unerbittlicher Brutalität geführt wird. Wie die unmittelbare Entwicklung dieser verfahrenen Lage aussehen kann, hat Neitzel wie folgt skizziert:

„Ob die Ukraine überhaupt in die Lage versetzt werden könnte, einen modernen Angriffskrieg zu führen? Es wäre auch zu erwarten, dass die Moral der russischen Truppen gestärkt würde, wenn es für sie darum geht, „ihre“ Gebiete, die sie ja als Vaterland betrachten, zu verteidigen …

Die Geschichte ist reich an Beispielen für endlose Kriege. Der Wunsch nach Frieden vernebelt vielen den Blick auf die Realität. Meine Befürchtung: Der russisch-ukrainische Krieg wird noch viele Jahre fortdauern.“ (NOZ)

 

Wann ist der Krieg gewonnen?

Wie also weitermachen aus westlicher Sicht. Noch mehr Waffen? Noch schärfere Sanktionen?

Wenn man die Sache illusionslos analysiert, muss man einräumen, dass Russland eine Atommacht ist und eine der größten Armeen der Welt stellt, außerdem über Ressourcen verfügt, denen die Ukraine viel weniger entgegenzusetzen hat, mag Kiew noch so viele Waffen erhalten. Die Sanktionen gegen Russland sind zwar einschränkend und ökonomisch dämpfend, aber sie werden Putins Russen nicht zum Rückzug bewegen.

Kann es da noch ernsthaft das Ziel es Westens sein, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt? Und was heißt das überhaupt: den Krieg gewinnen?

Wie also raus aus dem Dilemma?

Aufhorchen ließ eine Stimme auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort hat sich kein Geringerer als der ehemalige Außenminister der USA und ausgewiesene Außen- und Sicherheitsexperte Henry Kissinger zu der Frage nach dem weiteren Umgang mit dem Konflikt geäußert. Er schlägt vor, die Ukraine solle Russland die 2014 annektierte Krim überlassen.

Dass eine Position, die quer zu allen offiziellen Statements aus westlicher Sicht steht, auf Empörung stößt, mag nicht verwundern. So wies Präsident Wolodymyr Selenskyj den Vorstoß scharf zurück, „Man hat den Eindruck, dass Herr Kissinger nicht das Jahr 2022 auf seinem Kalender stehen hat, sondern das Jahr 1938, und dass er glaubt, er spreche nicht in Davos, sondern in München zu einem Publikum von damals.“

Auch die ukrainische Zeitung „The Kyiv Independent“ verwahrt sich dagegen, dass die Ukraine „schmerzhafte territoriale Entscheidungen fällen“ müsse, um den Konflikt zu beenden.

Nun sollte man nicht der Vorstellung verfallen, hier habe sich ein verirrter Greis von damals im Thema vergriffen. Alles, was Kissinger anstößt war und ist wohl durchdacht und er ist bei Weitem nicht der Einzige, der so denkt. Die Zeitung „The New York Times“ hatte am 19. Mai einen Leitartikel veröffentlicht, in dem ein „entscheidender militärischer Sieg“ der Ukraine, bei dem das Land die von Russland besetzten Territorien zurückgewinnt, als unrealistisch eingeschätzt wird. Das deutet an, dass mit Kissinger nicht zufällig einer vorgeschickt wird, um eine auf den ersten Blick unbequeme Einschätzung ins Gespräch zu bringen, die höchstwahrscheinlich auch im Weißen Haus längst als diskutable Option gehandelt wird. Kissinger weiß, was Realpolitik bewirken kann, auch wenn sie das Völkerrecht ad absurdum führt. Er war es, der die Verhandlungen mit Nordvietnam 1970 geführt hat, um die USA aus dem für sie verlustreichen und sinnlos gewordenen Krieg in Südostasien herauszutüfteln. Als Bauernopfer dieses diplomatischen Erfolges wurde fünf Jahre später ein ganzer Staat von der geopolitischen Karte der Welt extrahiert: Südvietnam.

 

Zugeständnisse der Ukraine unumgänglich?

In der aktuellen Diskussion um die sinnvollste Strategie für die Ukraine spielt der Kissinger-Vorschlag (noch) keine große Rolle. Andererseits beruhen sämtliche Projektionen einer entscheidenden Wende zugunsten der Ukraine auf Spekulation.

Wenn der Westen also vermeiden will, dass der Krieg in der Ukraine zu einem militärischen Fass ohne Boden wird, sollte man da die ukrainische Regierung nicht davon überzeugen, dass sie sich irgendwann mit Putin und seine Kamarilla hinsetzen und verhandeln muss? Natürlich wird sie dabei – wohl oder übel – schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen, um die nationale Sicherheit und die Existenz ihres „Reststaates“ auf dem Verhandlungsweg zu gewährleisten. Aber was wären die Alternativen?

Am Ende werden Verhandlungen stehen, das steht außer Frage. Es geht nurmehr um die Positionen, die man dann eingenommen hat. Und es geht auch darum, abzuwägen, wie viele Ressourcen man dafür noch aufwenden will oder konkreter: wie viele Menschleben dieser Krieg noch kosten soll?

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