Wortmann wortwörtlich: Willy Brandt – Porträt anlässlich des 50. Jahrestags der Verleihung des Friedensnobelpreises – 3. Teil

Willy Brandt – 3. Teil
(hier geht es zum 1. Teil und hier zum 2. Teil)

V. Brandt als Kanzler – Reformen im Innern und Wandel nach Außen

Brandt musste dann 1969 gezwungenermaßen als Parteivorsitzender und Außenminister ein drittes Mal antreten. Die Chancen standen wieder nicht gut. Kiesinger, Spitzname „König Silberzunge“, war beliebt, Außenpolitik nicht das zentrale Wahlkampfthema, sondern Wirtschaftspolitik. Der Star der SPD war der Wirtschaftsminister Karl Schiller. Er und nicht Willy holte die zusätzlichen Prozentpunkte, die dann am Ende einer langen Wahlnacht, nachdem Kiesinger schon zu seiner Wiederwahl von Präsident Nixon beglückwünscht wurde, doch noch für eine sehr knappe Mehrheit mit der FDP reichten.

Quasi in der Wahlnacht erwachte Brandts Kämpfernatur, als er Helmut Schmidt und Herbert Wehner, die schon öffentlich für eine Weiterführung der Großen Koalition warben, vor vollendete Tatsachen stellte und mit FDP-Chef Walter Scheel der Öffentlichkeit erklärte, „man wolle es miteinander versuchen“. Der Hamlet in ihm war beurlaubt. Er sah die kleine Chance für den großen Wurf, und er nutzte sie mit vollem Risiko. Und das war beträchtlich.

Brandt war davon überzeugt, dass eine Weiterführung der Großen Koalition, in die er nur widerwillig eingetreten war, nicht nur außenpolitisch Stillstand bedeuten würde. Es war auch offenkundig, dass sie der Demokratie nicht gut tat. Die zweite Hälfte der sechziger Jahre war innenpolitisch durch die Jugend- und Studentenrevolte geprägt. Die Diskrepanz der Lebenswelten der etablierten Politik, der älteren Generationen einerseits und der kritischen Jugend andererseits wuchs enorm. Verständnislose Aggressivität bestimmte die Auseinandersetzungen. Ein Teil seines Nimbus als Reformer, der den einst doch rechts eingeordneten Kalten Krieger verschwinden ließ, resultiert aus dieser Zeit.

Während auch in dem überwiegenden Teil der SPD der „antiautoritären Bewegung“ mit autoritärem Verhalten begegnet wurde, gehörte Brandt – wie übrigens auch der damalige Justizminister und spätere (erste sozialdemokratische) Bundespräsident Gustav Heinemann – zu den wenigen, die andere Akzente setzten. Brandt war auf Grund seines politischen Lebensweges im Dritten Reich für diese Jugend eine akzeptable Autorität qua Person, aber er zeichnete sich auch dadurch aus, Autorität zu sein, ohne autoritär zu erscheinen. Lag das daran, dass er sich selbst seiner Jugend und deren „Sünden“ erinnerte und Milde walten ließ oder auch daran, dass er in Gestalt seines ältesten Sohnes Peter familiär betroffen war? Der war Teil der Revolte und das auch noch in einer trotzkistischen Splittergruppe namens Spartacus, die nicht Reformen forderten, sondern die Revolution. Nie ist Vater Willy öffentlich, wie von der konservativen Presse gefordert wurde, gegen ihn aufgetreten – im Gegenteil. Er hörte zu und von den damals führenden Politikern war einer der wenigen, von dem es bei aller Kritik Bereitschaft zum Dialog gab.

Sein knapper Befund für den Konflikt der Generationen lautete: „Wir Älteren messen das, was ist, an dem, was war, an dem Zustand nach dem Krieg. Die Jugend misst es an dem, was ist und morgen sein könnte.“

Brandts Perspektive für ein modernes, reformiertes Deutschland fand seinen Ausdruck in zwei Sätzen in der Regierungserklärung der neuen sozial-liberalen Koalition: „Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein, nach innen wie nach außen.“ Vor allem aber in dem immer wieder zitierten Kernsatz des Regierungsprogramms: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ Demokratie, hier kommt der junge Brandt wieder zum Vorschein, der so lange durch den Primat der Außenpolitik verdeckt wurde. Demokratie ist mehr als eine Summe formaler Wahlakte, es ist eine Lebensform. Die Teilhabe der Vielen muss sich auf alle Bereiche der Gesellschaft, also auch auf die Wirtschaft erstrecken. Die Politik der inneren Reformen – man kann es sich denken – war im Bereich der Wirtschaft aber auch mit der mittlerweile ins Sozialliberale gewandelten FDP letztlich nicht zu machen. Brandts etwas später formulierte Hoffnung auf ein historisches Bündnis der Arbeiterbewegung mit dem aufgeklärten liberalen Bürgertum blieb somit nur eine gut Idee. In der real existierenden FDP war der Bourgeois dann doch stärker als der Citoyen.

Wenngleich die folgenden Jahre ganz im Zeichen dessen stehen, was man neue Ostpolitik und Brandt lieber Friedens- und Entspannungspolitik nannte, darf nicht unterschlagen werden, dass die inneren Reformen nicht zu verachten sind. Die Entrümpelung des Strafgesetzbuches, Bildungspolitik, Städtebau und Sozialpolitik brachten genügend innenpolitischen Konfliktstoff mit den Konservativen. Reform war zu dieser Zeit noch gesellschaftlicher Fortschritt und nicht systemisch erzwungener Abbau von sozialen Errungenschaften.

Aber es gab auch Rückschritte, dazu gehörte vor allem der so genannte „Radikalenerlass“, den Brandt später für seinen größten Fehler hielt. In ihm offenbarte sich noch einmal die gesamte Logik des Kalten Krieges. Er sollte dem Protest deutliche Grenzen insbesondere nach links setzen. Mit ihm sollte demonstriert werden, dass mit der außenpolitischen Öffnung nach Osten keinesfalls der Kommunismus nun auch im Innern hoffähig wird. Faktisch erhielten Schnüffelei durch den Verfassungsschutz und Denunziation ins (überwiegend studentische) Alltagsleben Einzug und für bestimmte vom öffentlichen Dienst abhängige Berufsgruppen bedeutete dieses Werk faktisch ein Berufsverbot. Während man den Staat so vor den „Feinden unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung“ durch eine „wehrhafte Demokratie“ zu schützen glaubte, verlor er bei einem immer größeren Teil dieser kritischen Jugend an Legitimität. Dieser primär auf Druck der CDU / CSU entstandene „Radikalenerlass“ hat die Demokratie mehr geschwächt als gestärkt und der SPD nur geschadet.

Ansonsten sind die inneren Reformen auch Teil einer langfristigen außenpolitischen Strategie anzusehen. Doch zunächst zurück zur außenpolitischen Ausgangslage.

Die Politik des Alles oder Nichts, der Primat der Wiedervereinigung war – wie schon dargelegt – mit dem Mauerbau gescheitert. Die westlichen Verbündeten zeigten immer weniger Bereitschaft sich ihre eigene Politik gegenüber dem Osten, wegen der Hallstein-Doktrin eigentlich sogar der gesamten restlichen Welt, von Bonner nationalen Interessen diktieren zu lassen, die genauer betrachtet nicht ihre waren. Die Wiedervereinigungspolitik führte die BRD in den sechziger Jahren sogar zunehmend in die Isolation. 1967 definierte die NATO in dem „Harmel-Bericht“ Sicherheit nicht mehr in der alten Gleichung: Sicherheit gleich Verteidigung! Sie fügte nun hinzu: Sicherheit ist Verteidigung plus Entspannung! Nicht nur die realpolitischen Fakten verlangten von Bonn nun eine Änderung der Prioritäten. Sie wird jetzt als Norm für das westliche Verteidigungsbündnis eingefordert. Der Außenminister Brandt nimmt sie mit Wohlwollen zur Kenntnis, gibt sie doch Flankenschutz für die eigene Politik, die da gerade entwickelt wird.

Unter dem Entspannungsgebot des westlichen Verteidigungsbündnisses wird Westdeutschland zum letzten Eisblock des Kalten Krieges und für die alten Doktrinen der Adenauerzeit noch schlimmer, dahinter lauert die Forderung nach Anerkennung von Realitäten, die man sich bislang aus innenpolitischen Gründen ersparte. Die BRD wurde mit ihrem Festhalten an ihrer Kernstaatsthese mit dem Anspruch auf die Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 zum letzten Revisor der Nachkriegsordnung, der Unsicherheit für seine östlichen Nachbarn produzierte und eine europäische Entspannung auf der Basis des Status quo erschwerte, wenn nicht sogar unmöglich machte. Aus dieser Notwendigkeit, die einer weiteren Flurbereinigung deutscher Nachkriegsillusionen gleich kam, versuchten Willy Brandt und sein „Architekt einer neuen Ostpolitik“, Egon Bahr, eine Tugend zu machen. Die Anerkennung des territorialen Status quo ist nun die Voraussetzung für die Überwindung der Spaltung Europas, Basis für politische Dynamik im Ost-West-Verhältnis mit dem Ziel einer Entmilitarisierung der Blockkonfrontation und schließlich einer gesamteuropäischen Friedensordnung.

Dafür war aber auch eine Neubestimmung des Verhältnisses zum anderen deutschen Staat, der sich nicht länger als „Gebilde“ umgehen oder in Anführungsstriche setzen ließ, erforderlich. Das neue Verhältnis ist voller selbstgestrickter juristischer Minen, es musste mit dem Grundgesetz konform sein. Die listige Formulierung dafür lautet: es gibt zwei Staaten in Deutschland, die füreinander nicht Ausland sind.

Mit der Anerkennung des territorialen Status quo der Nachkriegsordnung, die eine friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht prinzipiell ausschließt und die sich wechselseitig anerkennen, kann eine Sicherheit geschaffen werden, die das Ost-West-Verhältnis entmilitarisiert und den Systemkonflikt in einen friedlichen Wettstreit verwandelt, wo zugleich Spielraum für inneren Wandel durch nachlassenden Druck von außen ermöglicht wird. Die Deutung des Ost-West-Konfliktes als ein ideologischer oder System-Konflikt verdrängt, dass beide Seiten nicht frei von Fehlern und Problemen sind und verbaut zudem den Blick darauf, dass er auch ein klassischer Staaten- und Machtkonflikt ist. Auch ein demokratisches Polen hat ein Interesse an verlässlichen Westgrenzen und auch ein nichtkommunistisches Russland hat legitime Sicherheitsinteressen.

Anders ausgedrückt: wenn man die klassischen Sicherheitsprobleme löst, erhält der Ideologie- und Systemkonflikt einen anderen, nicht mehr zwingend militärischen Charakter. Wenigstens in Ansätzen geht dieses Kalkül zu Beginn der achtziger Jahre auf, als die Europäer auf den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan ein Festhalten an der Entspannung dem verschärften Konfliktmodus ihrer Führungsmächte entgegensetzten. Es war der Beginn einer „Europäisierung Europas“, wie es der Publizist und einflussreiche Streiter für Brandts Ostpolitik, Peter Bender, nannte. Durch die Reduktion des äußeren Drucks auf die Staaten des Ostblocks konnten sich dort auch im Innern eher Reformkräfte artikulieren. Gleiches gilt übrigens auch für den Westen, wo aus Gründen der Bündnissolidarität innenpolitische Handlungsspielräume ebenfalls eingeengt wurden. Was die Solidarnosc auf der einen Seite, waren die Eurokommunisten in Italien und die Demokratisierungsprozesse in Portugal und Spanien in den 1970er Jahren auf der anderen.

Und noch einen großen Vorteil brachte das Einschwenken auf den Entspannungskurs durch die Regierung Brandt. Sie erhöhte den außenpolitischen Handlungsspielraum und die Eigenständigkeit der BRD. Der damalige amerikanische Sicherheitsberater Henry A. Kissinger unter dem Präsidenten Nixon sah neben der Freude, dass sich Bonn bewegte, darin sofort eine potenziell Gefahr. Es war für Washington neu, dass eine Bonner Regierung ihnen mitteilt, was sie zu tun gedenke, statt vorher zu fragen, ob das auch Unterstützung fände.

Wenn Entspannung Sicherheit schafft, ist man von dem militärischen Teil der amerikanischen Schutzmacht weniger abhängig und somit politisch freier. Brandt hat sein merkwürdiges Schweigen zum Vietnam-Krieg der USA später kritisch gesehen, aber ein Grund dafür war die Rücksichtnahme auf die USA, als Garantiemacht für Berlin. Hier wirkte der Mechanismus des Wohlverhaltens aus der militärischen Abhängigkeit immer noch.

Nach der erfolgreichen innenpolitischen Schlacht um die Ostverträge, deren Einzelheiten wir hier selbstverständlich übergehen müssen, führte Brandt die SPD 1972 nach dem gescheiterten Misstrauensvotum im Frühjahr in der vorgezogenen Bundestagswahl zu einem triumphalen Wahlsieg. Bei über 90% Wahlbeteiligung wird die SPD erstmalig stärkste Partei mit 45,8%. Fast fünfzig Jahre später reichen zwanzig Prozent weniger zu dem gleichen Erfolg.

Dabei war nichts ungewisser, als der Sieg in dieser Wahl. Im Frühjahr hob Oppositionschef Rainer Barzel zum konstruktiven Misstrauensvotum an, nachdem immer mehr Abgeordnete des nationalliberalen Flügels der FDP, aber auch einer der SPD, wegen der Ostverträge ihre Fraktionen verlassen hatten. Die Kanzlermehrheit schien dahin. Überraschend fehlten Barzel dann aber doch zwei Stimmen, die Gründe dafür wären ein eigenes Kapitel über Kauf und Rückkauf von einer Stimme.

Dann verließ im Sommer Wirtschaftsminister Karl Schiller, der eigentliche Wahlsieger von 1969, nicht nur die Regierung, angeblich war er der Streitereien vor allem mit Helmut Schmidt überdrüssig, sondern auch noch die Partei. Und zu allem Überfluss machte er ausgerechnet mit Ludwig Erhard eine Anzeigenkampagne gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Brandt. Die Wahl schien gelaufen. Die Springer-Presse voran, gefolgt von den üblichen Verdächtigen der konservativen Presse startete im Verbund mit Großanzeigen der Unternehmerverbände eine millionenschwere einzigartige Kampagne.

Und da ergab sich ein kleines Wunder. Die Partei kämpfte und an der Spitze der Kanzler, der nun auf völlig überfüllten Marktplätzen der „Macht der Millionäre die Macht der Millionen“ entgegensetzte. In einem bis heute einzigartigen Wahlkampf wurde eine Gegenöffentlichkeit hergestellt, an der sich nicht nur eine nie wieder erreichte Menge Prominenter (z.B. Romy Schneider) beteiligten, Wählerinitiativen „Willy wählen“ entstanden nahezu in jedem Ort. Ungezählte Menschen bekannten sich öffentlich zu ihrer Wahlentscheidung. Einen solchen Grad der Politisierung und des zivilen Engagements gab es nicht zuvor und auch nicht danach.

Der Wahlkampf war ganz auf „Willy“ zugeschnitten und ohne das große Ansehen, die Begeisterung, die er zu wecken verstand, ist dieser grandiose Wahlsieg nicht erklärbar. Aber es nur seinem Charisma, das ihm ja auch erst einmal zugeschrieben werden musste, zuzurechnen, wäre eine gefährliche Verkürzung. Vielmehr verkörperte sich in seiner Person ein politisch mobilisierbares Gefühl für die Notwendigkeit einer anderen Politik. Man könnte auch sagen, es war der plebiszitäre Abschied vom CDU-Staat.

Was war da geschehen nach 1969? Das Programm und das zielstrebige Handeln der sozial-liberalen Regierung beeindruckten, polarisierten aber auch in manchen Familien bis zum Bersten. Es ging noch einmal um die gesamte deutsche Vergangenheit, Flucht und Vertreibung, die Schuld und Hitlers Krieg. Da war jene unbeschreibliche Geste, die heute alle Geschichtsbücher über diese Zeit ziert, der kniende Willy Brandt vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos im Dezember 1970. Er, „der das nicht musste und es tat für die, die es nicht konnten oder wollten“, schrieb damals der SPIEGEL-Korrespondent Hermann Schreiber als Augenzeuge des Geschehens. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung fand diese Geste der Demut damals übertrieben. Interessanterweise insbesondere die 30 bis 50-jährigen.

Ein Jahr später erhielt er den Friedensnobelpreis für seine Politik der Versöhnung und des Ausgleichs. Wer in ihm nicht den Verzichtspolitiker sah, der konnte nicht umhin zu erkennen, dass er nicht nur sein, sondern vor allem Deutschlands Ansehen in der Welt gemehrt und verändert hatte, wie keiner zuvor. In diesem Sinne, dass Frieden und Deutschland nicht mehr als Gegensätze erschienen, konnten Deutsche wieder stolz sein auf ihr Land, wie der Wahlkampfslogan hieß.

Und Brandt öffnete die Partei für jenen kritischen Teil der Jugend, der sich um Reformen und gesellschaftliche Veränderungen willen engagieren wollte, jenseits neuer totalitärer Ansprüche in alten Kostümen. Da diese Öffnung etlichen auch so weit ging, formierte sich mit dem Seeheimer Kreis zu Beginn der 70er auch die Parteirechte.

Den grandiosen Wahlerfolg von 1972 primär als Folge der Ostpolitik zu interpretieren, wäre ebenfalls eine unzulässige Verkürzung. Sie erhielt damit ihre Bestätigung und ihren plebiszitären Segen. Es ging im Wahlkampf um innenpolitische Reformen von der Bildungs- bis zur Bodenreform, verallgemeinernd um die Reform einer als verknöchert und ungerecht empfundene Gesellschaft. Es war der definitive Abschied von den fünfziger Jahren. Reform war hier der Begriff für die zielgerichtete Veränderung der Gesellschaft zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Gegen die verdeckten Wahlkampfspender der CDU aus dem Unternehmenslager gab es die vielen kleinen Anzeigen von einfachen Menschen oder lokalen Prominenzen, die ihre Geldquellen offenlegten. Es war der Beginn einer selbstbewussten Zivilgesellschaft gegen die Macht der alten Eliten und der Wirtschaft.

Auf den großen Triumph folgte für Brandt vorerst sein körperlicher Zusammenbruch, die folgenden Koalitionsverhandlungen fanden ohne ihn statt, er hütete das Krankenbett. Nach erfolgter Genesung fasst er und mit ihm die Regierung nicht mehr richtig Tritt, der Wahlsieg schien mangels weiterem Reformelan zu verpuffen. Man weiß nicht, was geschehen wäre, hätte man den Spion im Kanzleramt nicht enttarnt, aber die Vermutung liegt nahe, dass der Rücktritt 1974 nicht nur wegen der Guillaume-Affäre erfolgte. Eigentlich hätten da auch andere dran glauben können oder sogar müssen. Ein Kandidat wäre der damalige FDP-Innenminister Hans-Dietrich Genscher gewesen. Das für die Binnenstabilität im Führungszentrum so wichtige Verhältnis mit Herbert Wehner war zu diesem Zeitpunkt komplett zerrüttet. Helmut Schmidt übernahm 1974 die Kanzlerschaft und damit auch Korrekturen in der Innen- und Außenpolitik, die später zu neuen Auseinandersetzungen führten. Brandt bleibt aber Parteivorsitzender, was nicht nur für die Partei sicherlich ein Segen war.

VI. „Willy Internationale“ und der Kampf um Entspannung

Blickt man zurück, dann scheint der Rücktritt für ihn eine Befreiung gewesen zu sein. Die Ölkrise, die beginnende strukturelle Wirtschaftskrise daheim und weltweit, signalisierten eine Veränderung der politischen Agenda. Seine Themen waren das nicht. 1973 markiert im Nachhinein einen Wendepunkt in der Nachkriegsentwicklung. Es ist das „Ende vom Traum der ewigen Prosperität“, die Geisel der Massenarbeitslosigkeit kehrt zurück und die Verteilungskämpfe nehmen zu. Hinzu kommt, dass der renommierte „Club of Rome“ die „Grenzen des Wachstums“ auch noch in der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen offenlegt. Die Rede von der „Krise des Kapitalismus“ gewinnt an Plausibilität. Und für weitere soziale Reformen fehlt nun in der Krise der finanzielle Handlungsspielraum.

Im Ost-West-Verhältnis erfolgte nach dem erfolgreichen Abschluss der Helsinki-Akte mit der KSZE 1975 zwar eine Institutionalisierung des Entspannungsprozesses, aber darüber hinaus herrschte für einige Jahre relativer Stillstand. Brandts Nachfolger im Kanzleramt begrenzte das innenpolitische Reformprogramm auf das Machbare, was auch einer machtbewussteren und nun wieder ins Wirtschaftsliberale gewendeten FDP entgegenkam. Außenpolitisch verlagerten sich die Akzente in die Richtung eines Primats der atlantischen Orientierung. Helmut Schmidt war zwar ein Anhänger der Entspannung, aber ihr Fundament sah er im militärischen Gleichgewicht. Darüber hinaus reichende Perspektiven hielt er für unrealistisch.

Brandt nutzte die Zeit nicht nur zur Genesung, er schrieb ein von innenpolitischen Themen geprägtes Buch mit dem Titel „Über den Tag hinaus“. Zu sehr sah er sein gesamtes politisches Schaffen einseitig von der Außenpolitik dominiert, dadurch führten die inneren Reformen ein Schattendasein. Nach einer Ruhephase von ungefähr zwei Jahren und befreit von den negativen Seiten der Macht, die er die „Ohnmacht der Mächtigen“ nannte (so der Titel seiner späteren Ausführungen auf einem Evangelischen Kirchentag), wird er mit dem Schub eines zweiten Frühlings die Weltbühne betreten. Er wäre sicherlich ein idealer UNO-Generalsekretär gewesen, aber soweit reichte es nicht.

Er wird auf Drängen Österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreiskys und Olof Palmes, dem schwedischen Ministerpräsidenten, Präsident der „Sozialistischen Internationale“ (SI). Diesen bis dahin exklusive Club europäischer sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien will er für Parteien und Befreiungsbewegungen aus der Dritten Welt öffnen, um ihnen ein Forum zu bieten. Die SI bleibt ein lockerer Zusammenschluss ohne Direktionsgewalt der Zentrale, aber sie erhält für die folgenden Jahre bis zum Ende der Präsidentschaft Brandts kurz vor seinem Tode 1992 einen zuvor nie gekannten weltpolitischen Einfluss, der ganz maßgeblich etwas mit der Autorität und dem weltweiten Ansehen ihres Präsidenten zu tun hatte. Spötter sprachen von ihm und seiner SI als der Dritten Weltmacht neben Russen und Amerikanern, oder von „Willy Internationale“ und nannten ihn „Willy Wolke“. Letzteres trifft zumindest seine enorme Reisetätigkeit, die an die Krisenzeit als Regierender Bürgermeister Berlins erinnerte.

Damit nicht genug mehrt sich seine internationale Reputation, als ihm der Vorsitz der Nord-Süd-Kommission angetragen wird, die im Auftrage der Weltbank unter der Schirmherrschaft der UNO einen Bericht über die Weltlage und die Entwicklungsländer vorlegen soll. Dies geschieht nach mehrjähriger Arbeit und wird im Jahre 1980 unter dem Titel: „Das Überlebern sichern“ publiziert.

Der „Brandt-Bericht“, wie er auch hieß, enthält auf über 300 Seiten eine Vielzahl konkreter Reformempfehlungen. Sein Grundtenor entspricht dem sich anbahnenden Paradigmenwechsel in den siebziger Jahren. In der Reihenfolge der großen Weltprobleme tritt der Nord-Süd-Konflikt an die Stelle des Ost-West-Konfliktes. Die weltweite Bekämpfung von Armut, Hunger und Elend sowie der Ausplünderung des Planeten muss Priorität haben, sonst wird es keinen Frieden geben. Erforderlich sei dafür eine neue Weltwirtschaftsordnung, die keine grundlegende Revolution erfordert, aber der Forderungskatalog enthält realistische Reformschritte für eine gerechteren Weltwirtschaftsordnung durch Umverteilung im Geiste eines globalen Keynesianismus, der zudem um die ersten Ansätze einer Harmonisierung von Ökonomie und Ökologie angereichert wird. Seiner Zeit weit vorauseilend, fordert er eine „Weltinnenpolitik“ unter der Führung der UNO. Wie wichtig ihm die Themen sind, belegt seine „Stiftung Entwicklung und Frieden“, die er mit den stattlichen Einnahmen aus der Nobelpreisverleihung in den achtziger Jahren gründet und die heute an der Universität Duisburg-Essen residiert.

Als der Bericht erschien, der naturgemäß den einen zu weit und den anderen nicht weit genug ging, entzogen ihm die Veränderungen der politischen Verhältnisse in den USA durch den Amtsantritt Ronald Reagans sogleich die politische Basis. Statt Keynes begann nun nicht nur in den USA, sondern sogleich auf die Welt erweitert, der Siegeszug des heute unter dem Label „Neoliberalismus“ bekannten Programms der Deregulierung, Privatisierung und Entwicklung zu Marktgesellschaften, der dann entwicklungspolitisch im „Washingtoner Konsens“ seinen Niederschlag fand. Das Reformprogramm der „Nord-Süd-Kommission“ war mit seinem Erscheinen faktisch Makulatur geworden.

Die vielfältigen Aktivitäten der SI, die insbesondere die Transformationsprozesse von der Diktatur zur Demokratie in Portugal und Spanien betreffen, müssen hier übergangen werden. Zu Beginn der achtziger Jahre, Reagans Amtsantritt ist dafür die Zäsur, sieht Brandt die Früchte seiner Friedenspolitik gefährdet.

Was sich hier, verbunden mit dem Einmarsch der Sowjets im Dezember 1979 in Afghanistan abzeichnete, war die Rückkehr des Kalten Krieges auf neuem Niveau. Im Unterschied zu den Europäern war für die USA Entspannung geografisch unteilbar. Die amerikanische Forderung sowjetischen Wohlverhaltens beschränkte sich nicht auf Europa, der Kampf mit dem „Reich des Bösen“ vollzog sich weltweit und mit dem Teufel macht man bekanntlich keine Kompromisse. Reagans Verteidigungsminister Caspar Weinberger stellte schon 1981 der UdSSR die Alternative sich mit einem „Winseln oder einem Knall“ aus der Weltgeschichte zu verabschieden. Das war mehr als die Rollback-Rhetorik der fünfziger Jahre.

Nicht dass der Bundeskanzler Helmut Schmidt von dieser Entwicklung begeistert war – wenngleich ihm persönlich Reagan wegen seiner Berechenbarkeit sympathischer erschien als dessen Vorgänger Jimmy Carter, den er offensichtlich nicht ausstehen konnte -, aber er wurde zum Gefangenen seiner eigenen Logik. Beim Einmarsch der Sowjets in Afghanistan hatte Schmidt mit seinem Freund Giscard d’Estaing, dem Staatspräsidenten Frankreichs, noch mehr oder weniger erfolgreich versucht, den europäischen Entspannungsprozess gegen eine drohende Verschlechterung der Beziehungen der Supermächte abzuschirmen. Teile der USA reagiert darauf, so Schmidt, als seien die Russen in Texas einmarschiert. Mit Reagan wurden die Daumenschrauben der Bündnissolidarität (Germans to the Front) gegenüber den Europäern noch einmal kräftig angezogen, was gegenüber Thatchers Großbritannien gar nicht erst erforderlich war. Schon an dieser Stelle entstanden erste Risse in der SPD zwischen Atlantikern um Helmut Schmidt und dem Entspannungsflügel um Egon Bahr (während sich Brandt als Parteivorsitzender aus taktischen Gründen zunächst zurück hielt), die auf „Äquidistanz“ zu den Supermächten gingen.

Die sich anbahnenden Differenzen wurden dann zusätzlich beflügelt mit einem zweiten Streitthema, das sich in der öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung darüber legte: die Kontroverse um den sogenannten NATO-Doppelbeschluss. Er sah für den Fall, dass die Sowjets nicht auf ihre neuen Mittelstreckenraketen durch Rüstungskontrollverhandlungen verzichten würden, eine Neustationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme auf deutschem Boden vor. Die ursprüngliche Idee stammte von Helmut Schmidt, der damit eine Ausdehnung der Rüstungskontrollverhandlungen der Supermächte auf europäische Waffensysteme erreichen wollte. Jetzt, angesichts des neuen Konfrontationskurses unter Reagan, passten diese Waffen aber in ein anderes Konzept und erhielten einen anderen Charakter. Und als sich dann in Westdeutschland gegen diese Politik eine rasant wachsende Friedensbewegung formierte, die mit bis zu einer Millionen Demonstranten weit über das sonst übliche Protestpotenzial hinausging, wurde die Lage auch für die SPD kritisch, weil sich immer mehr Sozialdemokraten – auch Prominente – hier einreihten.

Als Schmidt beim Vorsitzenden wieder einmal Führungsstärke und ein entschiedenes Machtwort gegen diesen Pazifismus anmahnte, erklärte der Vorsitzende nicht nur, dass mit der Faust auf den Tisch schlagen bekanntlich nur die Faust beeindrucke, und er ansonsten schon Schlimmeres in der deutschen Geschichte gesehen habe, als das Menschen für den Frieden demonstrieren. Wo Schmidt einer verantwortungslosen Gesinnungsethik seiner Kritiker eine Verantwortungsethik und Berechenbarkeit sowie Verlässlichkeit entgegenstellte, dafür von Oskar Lafontaine, als Hüter von Sekundärtugenden mit denen man auch ein KZ bewachen könne, gescholten wurde und sein ewiger Widersacher Erhard Eppler auf einer der großen Massendemonstrationen gegen die Raketenstationierung redete, da war der Bruch in der Partei nicht mehr übersehbar, der neben anderem 1982 zum Ende der sozialliberalen Koalition führte.

Brandt stellte den zentralen Wert des Friedens im Atomwaffenzeitalter heraus: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Der Friede, dies dem ungenannten Verantwortungsethiker Schmidt ins Stammbuch, sei eben aus Verantwortung das höchste Gut, weil er zur conditio sine qua non menschlichen Daseins geworden ist.

Auf dem Parteitag 1983, nach der Wende zum Bundeskanzler Kohl, wird Schmidts Nachrüstungspolitik bei einer Handvoll Gegenstimmen begraben. Gegen die von Washington forcierte Konfrontation der Supermächte setzt Egon Bahr das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“. Der Grundsatz ist recht einfach. Schon Henry Kissinger hatte in den sechziger Jahren konstatiert, dass im Atomwaffenzeitalter selbst Feindschaft kompliziert wird. Bahr knüpfte daran an und erklärte, unter dem Diktat des Risikos eines die Menschheit auslöschenden Atomkrieges – auch aus Versehen – gebe es „Sicherheit voreinander nur noch als Sicherheit miteinander“.

Bei den Bemühungen in Europa und im deutsch-deutschen Verhältnis die globale neue Eiszeit zwischen den Supermächten zu konterkarieren oder mindestens zu unterlaufen, gewinnen entspannungsfördernde kleine Schritte um die besonderen Interessen der Europäer, aber auch der Deutschen, die schließlich das potenzielle Schlachtfeld eines Armageddon wären, zu stärken, an Bedeutung.

Der Streit über den Doppelbeschluss, wo Brandt schließlich offen die Gegenposition zu Schmidt vertrat, gewann auch deshalb an Schärfe, weil mit ihm noch ein weiterer, grundsätzlicherer Streitpunkt parallel lief und die gesamte Partei zerlegte.

Es ging beim Umgang mit der Friedensbewegung auch um die Frage einer weiteren Öffnung für neue soziale Bewegungen, für ökologische Fragen, die sich nicht mehr auf die AKW-Frage reduzierte. Auf dem Münchener Parteitag 1982 saßen sich ein gewerkschaftlich-ökonomischer und ein ökologisch-pazifistischer Flügel gegenüber. Die erste Integration der APO-Reste vollzog sich Anfang der siebziger Jahre durch Masseneintritte und wurde mehr oder weniger murrend von der Parteirechten ertragen, nun aber ging es ja perspektivisch auch um eine Zusammenarbeit mit einer potenziell neuen Kraft und eigenen Partei, den Grünen. Brandt hatte mit seinem sicherem Instinkt für neue Entwicklungen, Themen und Bewegungen schon frühzeitig ein Auge auf dieses neue Phänomen geworfen und sehen müssen, dass sich hier etwas mit großer Zukunftsfähigkeit außerhalb der SPD, ja sogar mitverursacht durch die SPD auch gegen sie entwickelte.

Der Streit nahm auch dadurch eine ganz andere Form an, weil er in eine offene Kritik am Vorsitzenden überging. Brandts alter Freund Richard Löwenthal, eine Art Parteitheoretiker, hat diesen Konflikt in sechs Thesen mit der Unterstützung namhafter Gewerkschaftsvertreter wie Hermann Rappe, aber auch Annemarie Renger, Herbert Ehrenberg, Egon Franke und verdeckt auch Schmidt und Wehner zugespitzt. Hier die Verteidigung der hochtechnisierten modernen Industriegesellschaft mit der ihr eigenen ökonomischen Rationalität und dort die Flucht aus dieser Realität mit einem gefährlich-illusionären Rückfall in die politische Romantik.

Sicherlich war Brandts Politik des „Sowohl als auch“ hier an ihre inhaltlichen Grenzen gelangt, mit der Entscheidung für den stufenweisen Ausstieg aus der Atomenergie war ein Etappensieg für den veränderten Kurs erreicht. Programmatisch wurde er im Berliner Programm 1988 mit der Formel vollzogen, es könne ökonomisch nicht sinnvoll sein, was ökologisch schädlich sei.

Mit dem Rückzug Schmidts und Wehners 1983 aus der aktiven Politik war Brandt der letzte Aktivist der sagenumwobenen Troika, aber auf dem Weg, die Partei auf die Höhe der Zeit zu bringen, war noch viel zu tun. 1987 verstärkte sich die Kritik an Brandt erneut, weil er nicht zuletzt durch die zahlreichen internationalen Verpflichtungen kaum noch präsent war und „die Zügel wieder einmal schleifen ließ“. Dass er letztlich wegen einer sehr eigenwilligen Personalie, die Besetzung der Position des Parteisprechers mit einer etwas schwierigen Dame (wie sich bald herausstellen sollte) nicht im Frieden mit der Partei das Amt abgibt, ist für eine solche Erfolgsgeschichte sicherlich deprimierend. Aber – wie Brandt es formulierte – „es trägt nicht mehr“, er wurde Ehrenvorsitzender und in dieser Rolle bedeutender als man sich denken konnte und etlichen lieb war.

Für die weitere Reformarbeit und seine Nachfolge hatte er sich seinen Lieblingsenkel auserkoren, doch Oskar Lafontaine verzichtet zugunsten Hans-Jochen Vogels als einem Vertreter der Zwischengeneration. Lafontaine fiel dann in einem neuen und für Brandts Leben letzten dramatischen Akt in Ungnade: Der Frage der deutschen Einheit.

 

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