Wer älter als etwa 40 Jahre ist, bekommt allein bei der Nennung des Namens „Bäckerei Meyer“ sofort einen wehmütigen Blick und seufzt, zumeist begleitet von einer ausladenden Handbewegung: „O ja, Schnotten-Meyer … (Kinder aus besseren Familien sagten damals auch ‚Schmöttke-Meyer‘) … da haste nachm Schwümmn fürn paar Pfennich sooon Eis gekricht!“
Dass sich ein nur wenig mit Ästhetik behafteter Begriff wie „Schnotten-“ oder „Schmöttke-Meyer“ letztendlich zu einem absoluten Gütesiegel verkehrte, spricht natürlich zum einen für die Spitzenqualität, die in der Bäckerei durchgehend geliefert wurde, steht aus kindlicher Sicht aber vor allem für das legendäre „Meyer-Eis“, das stets größer war als der Preis.
Für mich befand sich die Bäckerei Meyer auch nicht am Pottgraben, sondern zunächst an der Ecke Lotter Straße/Uhlandstraße. Nach dem Krieg war das Stammhaus nur noch eine Ruine und da an der Lotterstraße ein Backofen stand, begann man dort erst einmal mit einer Filiale, während das Stammhaus am Pottgraben wiederaufgebaut wurde.
Um mir ein Eis zu holen, durfte ich an besonders heißen Tagen hin und wieder mit dem Roller von der Augustenburger Straße 88 bis zu Schnotten-Meyer fahren – also weit über die Gellertstraße hinaus, die sich für mich normalerweise als unüberwindliche Ostgrenze darstellte.
Gleich hinter der Eingangstür rechts standen zwei Eimer voll mit Eis, dahinter meistens eine große Frau, die mit einem riesigen Esslöffel und manchmal auch mit einem Holzlöffel so lange Eis auf die große Waffel anhäufte, bis es so hoch wie der Piesberg war und es unter seiner eigenen Masse zusammenzubrechen drohte.
Diese Eisbombe kostete ganze zehn Pfennige. Für uns Kinder war Meyer-Eis somit eine der ersten erlebten wahrhaftigen Sensationen. Anfang der 60er Jahre wurde dieses Schauspiel im wiederaufgebauten Stammhaus am Pottgraben unter ähnlichen Vorzeichen fortgesetzt. Ende der 60er Jahre verbrachte ich schließlich den größten Teil meiner Schulzeit in dem im ersten Stock befindlichen Café. Auch wenn man dort bei nur einer einzigen Cola sechs Schulstunden absaß, gab es keine vorwurfsvollen Blicke oder dumme Bemerkungen.
Bäcker aus Überzeugung
Fünfzig Jahre später fahre ich nun mit Manfred nach Bad Laer, um Thomas Meyer in seiner Bäckerei zu besuchen. Er ist Bäcker- und Konditormeister in der vierten Generation, und das offenkundig mit großer Leidenschaft. Wenn er vom Bäckerhandwerk erzählt, kommt man aus dem Staunen über sein Fachwissen nicht mehr heraus.
Bei ihm ist generell vieles anders und doch so entspannend normal. Er verzichtet beim Backen auf unnötige Zusatzstoffe, seine Backwaren sind für Allergiker geeignet und schmecken umwerfend gut. Ich habe dort „inkognito“ mit meiner Tochter, als sie aus Hamburg zu Besuch und wie immer auf irgendeinem neuen Ernährungstrip war, Dinkel-Nussecken und Dinkelbrot mit Körnern und Haselnüssen für sie kaufen müssen.
Für meine Tochter mag das okay sein, aber ich und Dinkel? Das passt einfach nicht zusammen. Dachte ich jedenfalls. Was soll ich sagen? Ich will nie wieder ein anderes Brot essen und Jule bestellt es sich demnächst aus Hamburg, denn auf Wunsch kommt alles per Post nach Hause.
Die Bäckerei Meyer hat nämlich eine Online-Filiale. Bei Ebay kann man vom Springbrötchen bis hin zum laktose- oder glutenfreien Brot fast alles bestellen, was es auch im Laden gibt. Der Versand dauert meistens nur einen Tag.
Frau Meyer kommt herein und begrüßt uns lächelnd: „Ich war im Supermarkt, die mussten wieder eine zweite Kasse für uns öffnen.“ Die Meyers haben sage und schreibe 13 Kinder. Tochter Franziska (18) hilft heute im Verkauf aus. Als ich sie frage, wie das Leben mit 12 Geschwistern sei, antwortete sie strahlend: „Einfach toll, es ist immer was los und man ist nie alleine!“
„Der Sonntag gehört Gott und meiner Familie“, sagt Thomas Meyer mit derselben Überzeugung, mit der er sich weigert, Backmittel einzusetzen. „Ich brauche kein Bio-Zertifikat, das ist mir alles viel zu bürokratisch. Ich weiß auch so, dass ich nur einwandfreie Zutaten verwende.“
Er ist Überzeugungstäter und wirkt auf mich mit seiner in sich ruhenden Ausstrahlung fast wie ein Heiliger des Bäckerhandwerks. Die meisten seiner Kunden kommen ganz bewusst zu ihm nach Bad Laer und ganz bestimmt nicht nur Allergiker.
Natürlich will ich noch wissen, woher der Name „Schnotten-Meyer“ eigentlich kommt.
Sein Vater gehe bis heute zwar nicht so locker damit um, auch wenn er längst wisse, dass dieser etwas anrüchige Kosename von den Menschen ausschließlich mit positiven Kindheitserlebnissen verbunden werde, erklärt Thomas Meyer. Er selbst habe damit gar kein Problem.
Dabei ist die Erklärung recht einfach: Tatsächlich entstanden ist der Name in den Kriegsjahren, als alle Backzutaten generell rar waren. Eines Tages konnte die Bäckerei ein Süßungsmittel ergattern – es gab keinen Zucker –, mit dem eine Puddingfüllung für einen Kuchen gesüßt wurde. Statt eine feste Masse zu bilden, verflüssigte sich der Pudding völlig und lief aus den Seiten heraus. Die Schüler aus der gegenüberliegenden Volksschule, für die der Kuchen eigentlich vorgesehen war, gaben der Bäckerei dann diesen unsäglichen Beinamen. Thema abgehakt.
Und ich habe noch eine Frage an Thomas Meyer: „Warum gibt es Springbrötchen eigentlich nur in Osnabrück?“
Die Antwort fällt, wie erwartet, ausführlich und kompetent aus. Ich aber werde alles laienhaft zusammenfassen: In und um Osnabrück herum wuchs und wächst wegen des übermäßigen Regens kein hochwertiges Getreide. Das daraus gewonnene, recht schwere Mehl mit minderer Qualität ist letztendlich die Ursache für die Springbrötchen mit ihrem festen Teig.
Man kann also behaupten: Die Natur hat das Springbrötchen notgedrungen erfunden. Heute wird zwischen Wiehengebirge und Teutoburger Wald kaum noch Getreide angebaut und das schwere Getreide für die Springbrötchen muss extra gemischt werden. Sehen Sie es mir bitte nach, Herr Meyer, wenn ich einiges etwas einfach und flapsig ausgedrückt habe. Der Besuch bei Ihnen war jedenfalls eine wirkliche Bereicherung.