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Auf den Spuren des Holocaust in Litauen und Lettland – Teil 1

„Ein Land voller Massengräber und niemand, der ein Kaddisch sagen kann“

Am 13. Dezember 1941 wurden 35 Osnabrückerinnen und Osnabrücker gezwungen, in einen Zug zu steigen, der sie in mehrtägiger Fahrt nach Riga in Lettland brachte. Sie selber kannten das Ziel nicht. Ihren Besitz mussten sie zurücklassen. Fünfzig Kilo an Gepäck waren alles, was sie mitnehmen durften, und auch das nahm man ihnen bei der Ankunft weg.

Sie wurden sie mit Eisenstangen aus dem Zug in die eisige Kälte von minus 30 bis 40 Grad geprügelt. Kleine Kinder und alle, die den weiten Weg in das Ghetto nicht schafften, wurden gleich ermordet. „Keiner von uns hat geglaubt, dass so viel Sadismus möglich war“, lautete der Titel eines Vortrags im Rahmen der internationalen Wanderausstellung „Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland“ in der Gedenkstätte Augustaschacht im September 2024.

Der Satz stammt von einem der fünf Osnabrücker Überlebenden dieser Deportation, Ewald Aul, längjähriger Vorsitzender der Jüdischen Nachkriegsgemeinde in Osnabrück. Im Rahmen der Ausstellung unternahmen Mitarbeitende der Gedenkstätte mit Mitgliedern des Gedenkstättenvereins und MultiplikatorInnen aus dem Osnabrücker Raum und Berlin vom 26. August bis 1. September 2024 eine Reise nach Litauen und Lettland zu den Orten des Holocaust im Baltikum. Begleitet wurden sie von Baruch Chauskin, dem Kantor der jüdischen Gemeinde Osnabrück und Projektleiter des Vereins DREI STUFEN, der selber aus Lettland stammt.

Ich bin eingeladen worden, an dieser Reise teilzunehmen. Dass ich in mehreren Teilen über die Reise berichte, hat nicht nur mit den vielen Eindrücken zu tun, die diese Reise bis heute bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern hinterlassen hat, sondern auch damit, dass diese Eindrücke genau wie bei ihnen auch für die Leserinnen und Leser nur schwer zu verkraften sein dürften. Bei einem Film würde man eine Triggerwahrnehmung einblenden: Der folgende Bericht enthält Szenen physischer Gewalt, die nicht für Kinder oder Jugendliche bestimmt sind. Dabei sind zigtausende Kinder Opfer dieser Brutalität geworden, darunter auch drei kleine Kinder aus Osnabrück.

Diese Reise war nicht leicht. Es war eine Reise auf den Spuren von Massenmorden, die auch emotional belastete. Und dennoch eine Reismge mit vielen wertvollen Begegnungen mit Menschen, die sich dafür engagieren, die Menschen, die diesen Morden zum Opfer fielen, der Vergessenheit zu entreißen, wo das noch möglich ist, und ihnen dadurch ihre Würde zurückzugeben. Unter diesen Menschen, für die niemand das Kaddish, das jüdische Totengebet, sprach, sind 30 Osnabrückerinnen und Osnabrücker.


Keine Spur mehr vom „Jerusalem des Nordens“

Erste Station der Reise war die Besichtigung des ehemaligen Ghettos in der auch für „normale“ Touristen attraktiven litauischen Hauptstadt Vilnius (Wilna), eine Stadt, die wegen ihres hohen Anteils an jüdischen EinwohnerInnen einst als das „Jerusalem des Nordens“ galt. Jeder zweite Bewohner von Vilnius war jüdisch, es gab mehr als 100 Synagogen. Die Herrenmenschen-Ideologie der Nationalsoialisten und ihre wissenschaftlich unhaltbare Rassentheorie Rassenwahn der Nationalsozialisten beendete dieses reiche religiöse und kulturelle Leben. Sie entwarfen eine jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Rassentheorie, aufgrund dere sie sich zum millionenfachen Mord an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern für berechtigt hielten.

Am 31. Juli 1941 wurde der Leiter des Reichssicherheitshauptamts Reinhard Heydrich von Reichswirtschaftsminister Hermann Göring mit der Vorbereitung der Endlösung der Judenfrage beauftragt, der systematischen Ermordung aller europäischen Juden. Im Oktober 1941 ordnete Hitler die Deportation der jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Reichsgebiet an. Sie wurden in Transporten von je 1.000 Personen in die polnischen Ghettos Lodz und Minsk, Kowno (Kaunas) und Vilnius in Litauen und das lettische Riga gebracht.

Wohnungen werden durch Massenmorde frei gemacht

In diesen Orten wurden durch Massenmorde an jüdischen Familien Wohnungen im Gebiet des vorgesehenen Ghettos „frei“ gemacht. Im Sprachgebrauch der Täter wurde das deutsche Wort „Aktion“ zu einem Synonym für „Massenerschießungen“. Die Opfer der „Aktionen“ wurden in den nahegelegenen Wäldern ermordet. In Vilnius wurde ein am Rand von Ponary liegendes Wäldchen zwischen Juli 1941 und Juli 1944 von der deutschen Besatzungsmacht und deren litauischen Kollaborateuren drei Jahre lang für Massenexekutionen von 100.000 Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern genutzt. Darunter waren ungefähr 70.000 Juden, 20.000 Polen, 10.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie eine unbekannte Zahl von Roma und nichtjüdischen Litauern. Im „Großen Ghetto“ von Vilnius wurden anschließend 29.000 Menschen zusammengepfercht, im „Kleinen Ghetto“ nebenan noch einmal 11.000. Sie hatten nichts zu heizen und zu essen. Junge Menschen gründeten im Januar 1942 eine Partisanenorganisation, fanden aber im Ghetto nur wenig Unterstützung. Wer konnte, floh in die Wälder zu den sowjetischen Widerstandskämpfern.

Heute erinnert in der idyllischen Altstadt von Vilnius nichts mehr an das Grauen dieser Zeit. Bis 1991 war Litauen eine Sozialistische Sowjetrepublik. Deshalb gab es kein eigenständiges Erinnerungsmal für die jüdischen Opfer, die vom sowjetischen Regime nach 1944 pauschal zu den zivilen Opfern des deutschen Überfalls gezählt wurden. 1990 wurde im Parlament beschlossen, jüdische Friedhöfe wiederherzustellen und an den über 200 Mordstätten in Litauen Gedenktafeln anzubringen. Das Denkmal für die ermordeten ca. 70.000 Juden wurde erst 1991 errichtet. Hier findet seit mehreren Jahren am 23. September, dem Tag der Liquidierung des Ghettos von Vilnius, die staatliche Gedenkfeier zu Ehren der litauischen Holocaust-Opfer statt. Die Inschrift auf dem Denkmal spricht aus, was vielfach noch ein Tabu ist: „Zur ewigen Erinnerung an 70.000 Juden von Vilnius und der Region, die hier von den Nazi-Schlächtern und ihren Kollaborateuren ermordet und verbrannt worden sind.“


Litauische Beteiligung: Die Männer mit den weißen Armbinden

In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wurde der Holocaust über Jahrzehnte verdrängt und tabuisiert. Neue Verbrechen durch das stalinistische Regime überlagerten die Erinnerung an die deutsche Besatzung und die Verfolgung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen. Dass es litauische Polizeibataillone waren, die die Massenexekutionen durchführten, ist vielfach weiter ein Tabu. Wir merken das am Sprachgebrauch, bei dem von „Litauern und Juden“ die Rede ist, als hätten diese verschiedenen Völkern angehört.

Ziel der Partisanengruppe Litauische Aktivisten Front (LAF), die von 1940 bis 1941 in Litauen aktiv war, war die Befreiung Litauens von der russischen Besatzung und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Doch zur Ideologie der Männer mit den weißen Armbinden gehörte auch Antisemitismus. Sie wollten das Land „von Juden, Parasiten und Monstern reinigen“. Jüdische Litauer sollten nach Ansicht der antisemitischen Partisanen das Land verlassen, ihr Eigentum an den Staat Litauen fallen.

 

Euthanasie ging den Litauern zu weit

Die Litauische Aktivisten Front wurde ein wichtiger Helfer der Vernichtungspolitik der Nazis. Bevor die deutschen Einsatzkommandos ihre Mordaktionen begannen, hatte die litauischen Aktivisten schon 4.000 jüdische Litauer ermordet. In seinem Bericht vom 1. Dezember 1941 listet der deutsche Kommandeur der Sicherheitspolizei von Kaunas, SS-Standartenführer Karl Jäger, in seinem Report mehr als 130.000 meist jüdische Opfer, überwiegend Frauen und Kinder, auf, die in Litauen und Vilnius, vom Einsatzkommando 3 mit litauischen Helfern durchgeführt worden waren. Der „Jäger-Report“ stellte fest, „das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen“, sei vom EK 3 erreicht worden. Das alles geschah noch vor der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942.

Beim Rundgang durch das jüdische Vilnius mit MitarbeiterInnen des Jüdischen Museums erfahren die ReiseteilnehmerInnen, dass etliche Litauer zwar zur Kollaboration beim Judenmord bereit waren. Als es jedoch bei der Euthanasie um ihre eigenen Verwandten ging, machten sie nicht mehr mit und widersetzten sich.

Doch litauische Hilfstruppen unterstützten die deutschen Einsatzgruppen unter Walter Kaltenecker bei der „Vorbereitung und Mitwirkung bei der Durchführung größerer Liquidierungsaktionen“, wie Kaltenecker lobend erwähnte. Lange Zeit wurde die Kollaboration der Litauer mit den Nationalsozialisten als ehrenhafter Aufstand gegen die Sowjets dargestellt und mit dem Kampf um Unabhängigkeit des von der Sowjetunion annektierten Landes gerechtfertigt. Doch die Deutschen hatten nie vor, dem Land Unabhängigkeit zu verleihen. Als nach der Unabhängigkeit Litauens der damalige Präsident Algirdas Brazauskas 1995 in Jerusalem für die Untaten von Litauern um Vergebung bat, erntete er dafür in der Heimat viel Kritik.


Von einem Schtetl blieben nur drei Stufen zurück

Abb. 2 Historische Fotos geben jetzt als Open-Air-Ausstellung Einblicke in das alltägliche Leben des ehemaligen Schtetls Višķi. Foto Giulia Lambert, Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht
Abb. 2. Historische Fotos geben jetzt als Open-Air-Ausstellung Einblicke in das alltägliche Leben des ehemaligen Schtetls Višķi. Foto Giulia Lambert, Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht.

Nächste Station der Reise ist Višķi in Lettland. Bis 1941 lebten in dem Dorf mehr als vierhundert jüdische Menschen. Doch innerhalb von zwei Tagen hörte das überwiegend von jüdischen Familien bewohnte Schetl auf zu existieren. Die jüdischen Einwohner wurden in das Ghetto nach Daugavpils gebracht und anschließend bei Massenerschießungen in den umliegenden Wäldern ermordet.

Baruch Chauskins 1912 geborene Großmutter Haja Kovnats entkam mit ihrer Tochter der Vernichtung, weil sie das Schtetl als 16jährige verlassen hatte und nach Riga gegangen war. Bei einem Besuch auf den Spuren seiner Familie fand der Kantor 2012 keine Spuren jüdischen Lebens in Višķi mehr, bis auf einen zugewucherten Friedhof und drei Stufen im hohen Gras einer Wiese, die einst zur Synagoge geführt hatten. Nach diesen Stufen hat er sein Projekt benannt, das die Geschichte jüdischen Lebens in Lettland lebendig erhalten soll. Tatkräftig unterstützt wurde er dabei von Anfang an von Višķis Bürgermeister Janis Proms. Bis zu Baruch Chauskins Besuch hatte Proms wie viele seiner Generation nichts von der jüdischen Geschichte des Ortes gewusst.

Der Bürgermeister erfuhr erst durch den Besuch des Kantors, dass es einst eine blühende jüdische Gemeinde im Dorf gegeben hatte, die sechzig Prozent der Bevölkerung ausmachte. Heute engagiert er sich auf beeindruckende Weise für die Erinnerung und das DREI STUFEN-Projekt. Er hat sogar den Weg zum Jüdischen Friedhof frisch mähen lassen, den wir besuchen. Hier liegen nur Menschen, die vor 1941 gestorben sind – Menschen, die noch ein richtiges Begräbnis entsprechend den religiösen Vorschriften erhielten. Beim gemeinsamen Abendessen treffen wir junge Frauen und Männer aus Deutschland, die an einem Sommerlager der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ teilnehmen und bei der Herrichtung des lange verfallenenen Friedhofs schon Beachtliches geleistet haben. Es gibt interessante Gespräche. Wie fühlt sich zum Beispiel eine junge Frau aus Deutschland bei diesem Projekt, deren Eltern einen Migrationshintergrund haben? Beeindruckend, wie auch sie die Verantwortung für dafür übernimmt, dass die Erinnerung wachgehalten wird, in der Erkenntnis, dass es wichtig ist, aus der Geschichte zu lernen. Heute mehr denn je.

Abb. 3 Kantor Baruch Chauskin und Valdis Grebežs mit einer der von ihm geschaffenen Stelen
Abb. 3. Kantor Baruch Chauskin und Valdis Grebežs mit einer der von ihm geschaffenen Stelen. Giulia Lambert/Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht.

Der 2017 gegründete Verein DREI STUFEN setzte sich zunächst für die Errichtung einer Gedenkstätte in Višķi ein

Eine Gedenktafel mit Informationen informiert mittlerweile über die einstige Jüdische Gemeinde des Ortes. Am Ortseingang hängt eine Reihe gerade fertiggestellter großformatiger Plakate, die kürzlich entdeckte Bilder aus der jüdischen Geschichte des Ortes zeigen. Von dem Künster Valdis Grebežs geschaffene Wegweiser führen zum Jüdischen Friedhof und dem Ort, wo sich einst die Synagoge befand. Auch sie erinnern an die vergessene Geschichte, die Baruch Chauskin mit seinem Engagement wieder sichtbar gemacht hat, der auch diese Wegweiser gestiftet hat. Gerade erst ist Bürgermeister Janis Proms in Osnabrück zu Besuch gewesen, um an der Eröffnung einer Ausstellung über das DREI STUFEN-Projekt in der Volkshochschule teilzunehmen.


Memorial für eine untergegangene Welt: Das Lost Schtetl-Museum in Šeduva

Beim Besuch in Rēzeknes schöner „Grüner Synagoge“ und dem angeschlossenen Museum werden wir herzlich empfangen und bewirtet. Es ist eine der wenigen Synagogen, die in diesem Land mit reicher jüdischer Kultur die Zerstörung überstanden. Während der Sowjetzeit waren jüdische Litauer weitgehend abgeschnitten von ihrer Religion. So kommt es, dass Baruch Chauskin beim Besuch in der Grünen Synagoge einem der Männer, die sich für ihren Erhalt engagieren zeigt, wie man die Gebetsriemen richtig anlegt. Wir dürfen dabei zusehen. Der Kantor erklärt, der um 1990 auf vielen jüdischen Hochzeiten hier aufgespielt hat, erklärt uns, wie wichtig damals die jüdische Musik war, auch wenn es keine religiöse Zeremonie unter der Chuppa gab.

Danach geht es noch einmal zurück nach Litauen. Alle Menschen, denen wir begegnen, eint das Anliegen, die wenigen Relikte jüdischen Lebens und auch die Orte der Morde, soweit sie bekannt sind, in einen würdigen Zustand zu versetzen. Sie wollen daran erinnern, dass hier Menschen ermordet wurden, weil sie Juden waren, um die Opfer der Vergessenheit zu entreißen. Mit dem Versuch, sie zu identifizieren und ihnen mit den Namen auch ihre Würde wieder zu geben, beschäftigt sich das Projekt in Šeduva. Die Mörder interessierten sich nicht für die Namen der Emordeten. Die deutschen Statistiken unterschieden nur nach Männern, Frauen und Kindern. Gelegentlich wird der Name eines Rabbiners genannt. Doch in Šeduva ist es in mühsamer Kleinarbeit bis jetzt gelungen, 400 von 700 Toten zu identifizieren und ihnen ihre Identität wiederzugeben.

Abb. 4 Lost Shtetl-Musumsprojekt in Šeduva
Abb. 4. Lost Shtetl-Musumsprojekt in Šeduva. Giulia Lambert/Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht.

Für die Sowjetunion gab es keine jüdischen Opfer und damit auch keinen Holocaust. Die Ermordeten waren alle Sowjetbürger. Es ging um Heldengedenken, alle Toten waren gleichermaßen „Opfer des Faschismus“. Die Erinnerung an die massive Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Morden wird den Litauern und Letten auch heute kaum zugemutet. Sergey Kanovich, Executive Director des „Lost Shetl Museums“ in Šeduva, spricht Klartext und will und kann das auch in der im Entstehen begriffenen Ausstellung tun. Kanovich ist unabhängig, weil das Museum seine Entstehung der „Jewish Memorial Foundation“ verdankt, der privaten Stifitung eines Nachkommens der Menschen im vernichteten Schtetl.

Sergey Kanovich und seinen MitarbeiterInnen ist es wichtig, die Ermordeten nicht auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren. Deshalb will man hier mit dem „Lost Shtetl Museum Project“ „The Lost Shtetl- Museum of Šeduva Jewish History“ zeigen, wie ihr Leben war, das Leben in einem Schtetl, wo die jüdischen Gesetzesvorschriften das Leben bestimmten. In den vorwiegend von Handwerkern, Kleinhändlern und Tagelöhnern bewohnten Schtetln herrschte große Armut. Oft hatte sie weder Kanalisation noch befestigte Straßen. Gleichzeitig gab es dort aber ein reiches religiöses Leben. Dieses jüdische Leben soll in dem Museum dargestellt und wieder lebendig werden. Die Reisegruppe erhält eine exklusive Führung durch das im Bau befindliche Museumsgebäude mit Chefkuratorin Milda Jakulytė-Vasil, die im August zu einem Vortrag in der Gedenkstätte Augustaschacht zu Besuch war. Die Eröffnung des Museums mit seiner beeindruckenden Architektur ist für 2025 geplant.
Direkt neben dem zukünftigen Museum in Šeduva haben Sergey Kanovich und seine MitarbeiterInnen einen weitläufigen jüdischen Friedhof freigelegt. Ein Großteil der Gräber lag unter einer dicken Erdschicht. Doch es gibt noch eine Art des Unsichtbarchens der jüdischen Geschichte: Grabsteine des Friedhofs in Šeduva wurden bis vor einiger Zeit abtransportiert, abgeschliffen und für christliche Gräber wieder verwendet.


A propos Christen

Zwischen Vilnius und Riga, der nächsten Station unserer Reise, liegt Kowno , unter dem deutschen Namen Kaunas als ein weiterer Ort von Massenerschießungen bekannt. Der Ort ist keine Station der Reise, doch auch zu ihm gibt es einen Osnabrücker Bezug. In einem Bericht vom 14. Februar 1942, den Margarete Sommer, die Geschäftsführerin des 1938 gegründeten Hilfswerks beim Bischöflichen Ordinariat Berlin für zum Katholizismus konvertierte Juden für den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, den Breslauer Erzbischof Adolf Bertram verfasst hatte, hieß es: „Nur die Oktobertransporte gingen nach Litzmannstadt. Seit November wird nach Riga, Kaunas, Minsk transportiert. Nachrichten von abtransportierten Juden sind nur aus Litzmannstadt eingetroffen. […] Mitteilungen aus Riga und Minsk wurden nur ganz gelegentlich (aus Minsk, soweit bekannt geworden, nur zweimal) von Urlaubern heimlich gebracht. Aus Kowno noch nie ein Wort von Abtransportierten erfahren. Bis jetzt keine Stelle in Deutschland. Nicht nur die Juden aus der großen Kownoer jüdischen Gemeinde sind zu Zehntausenden erschossen worden, sondern auch die aus Deutschland dorthin transportierten. […] Mit Sicherheit bejahte er [der Gewährsmann des Kardinals] die wiederholte Frage, ob bestimmt der aus Berlin nach K. gegangene Transport erschossen worden sei. Er erhielt folgenden Bericht über diese Erschießung von einem Menschen, der sich selbst an der Erschießung beteiligt hat und diese Exekution voller Zustimmung schilderte: Die aus D[eutschland] kommenden Juden mußten sich völlig entkleiden (es seien 18 Grad Kälte gewesen), dann in vorher von russischen Kriegsgefangenen ausgehobene Gruben steigen. Darauf wurden sie mit Maschinengewehren erschossen; Granaten wurden hintendrein geschleudert. Ohne Kontrolle, ob alle tot waren, ertönte das Kommando, die Gruben zuzuschütten.“ Bischof Bernings Biograf Clemens August Recker ist sich sicher, dass der Osnabrücker Bischof mit Sicherheit Kenntnis vom wesentlichem Inhalt dieses Berichts erhielt. Weniger als die Hälfte der im Holocaust getöteten Juden starb in den Gaskammern.“ Daneben gab es einen „Holocaust durch Erschießung“.

Bernings Kenntnis von den Massenerschießungen bedeutet daher Kenntnis vom Holocaust. Das geht aus den Aufzeichnungen des Bischofs auch deutlich hervor. Nach dem Gespräch mit Frau Sommer notierte er im Februar 1942: „Es besteht wohl der Plan, die Juden ganz auszurotten. Was kann geschehen? Können die Bischöfe eine öffentliche Anklage von den Kanzeln dagegen erheben?“ Diese öffentliche Anklage kam nie zustande. Der Bischof äußerte sich nach de Krieg nie dazu, warum er zum Holocaust geschwiegen hatte, und behauptete sogar, davon nicht gewusst zu haben. Dabei hatte Franz Lucas, ein aus Osnabrück stammender Arzt, der 1943 an der Rampe in Auschwitz zur Selektion eingesetzt war, dem Bischof darüber sogar persönlich berichtet. „Was hätte er mehr tun können oder müssen?“ fragte der Spiegel in einem Artikel schon vor 50 Jahren. In Osnabrück steht die Beantwortung dieser Frage noch aus. Nicht nur im Baltikum ist noch die Kollaboration mit dem NS-Regime während der NS-Zeit aufzuarbeiten, die unzählige jüdische Menschen das Leben kostete.

Der nächste Teil des Reiseberichts erscheint am 20. Dezember 2024.

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