Filmische Annäherung an ein amerikanisches Rätsel
New York, 1961. Im Epizentrum der bunt sprühenden Musik- und Kulturszene kommt ein ebenso rätselhafter wie unnahbarere 19-Jähriger aus seiner Heimat Hibbing (Minnesota) ins Green Village, mit einer Gitarre, einer Mundharmonika und einem Talent, das den Lauf der amerikanischen Musik für immer verändern wird.
Während er eigene, um nicht zu sagen eigensinnige Vorstellungen zu einer Musikerkarriere hegt und plant, fühlt er sich von der angesagten Folk-Bewegung umklammert und weigert sich schließlich, die Erwartungen zu erfüllen. Er wählt den Affront mit Freunden sowie Mentoren und verstärkt seine Musik elektrisch. Ein Tabubruch für Folk-Puristen wie Pete Seeger, aber einer, der nachhaltig wirkt. »Wenige Jahre später ist Rock die musikalische Ausdrucksform der kritischen Jugend der Sixties.« (Thomas Waldherr)
Newport 1965: ein kultureller Schockmoment
James Mangolds Biopic Like a Complete Unknow, in dem Timothée Chalamet als Bob Dylan spielt, neben Edward Norton (Pete Seeger) und Monica Barbaro (Joan Baez) ist nicht nur ein Film über berühmte Zeitgenossen, sondern auch über einen kulturellen Schockmoment und wie er die Musik-Welt durchschüttelt., inspiriert durch das Buch Dylan Goes Electric! von Elijah Wald (2015).
Dort wird das kontroverse Nebeneinander von Tradition und Moderne hervorgehoben und eben der Moment fokussiert, in dem Dylan die Codes der Folkmusik brach, um in eine neue musikalische Ära zu wechseln.
Nach Walk the Line über Johnny Cash kehrt James Mangold zum Genre Biopics mit A Complete Unknown zurück, einem Film, der eine entscheidende Zeit in Bob Dylans Karriere ins Bild setzt. Der Film entwirft also keine chronologische biographische Handlung, sondern konzentriert sich auf Dylans frühe Jahre zwischen 1961 und 1965, eine Zeit, in der er in der Folkmusik verwurzelt ist, jedoch einen umstrittenen Sprung zum Elektrischen wagt. Timothée Chalamet spielt den jungen Musiker mit beeindruckender Intensität, was ihm eine Nominierung als bester männlicher Hauptdarsteller bei der diesjährigen Oscar-Verleihung einbringt (übrigens seine zweite).
Like A Complete Unknown ist für die Prämierungen am 2. März 2025 in acht Kategorien nominiert, darunter als bester Film, für die beste männliche Haupt- und Nebenrolle sowie für die beste Regie. Damit geht er in direkte Konkurrenz zu Adrien Brody und The Brutalist.
Überhaupt ist es ein cleverer Zug der Produktion, mit dem amerikanisch-französischen Darsteller Timothée Chalamet ein Zugpferd aufzubieten, dass insbesondere bei einem jungen Publikum äußerst populär und beliebt ist (Little Woman, The King, Dune u.a.). Auch die Besetzung der weiblichen Nebenfiguren (Elle Fanning, Monica Barbaro) zielt darauf, jüngere Generationen anzulocken und für einen Künstler zu erwärmen, der jetzt schon als ein amerikanisches Kulturdenkmal gesehen werden kann. Die bisherigen Zuschauerzahlen zeigen, dass die Rechnung wohl aufgeht.
Zeitdokument im Vintage-Look
Zu Anfang stürzt der Film die Zuschauer in die Hektik von Greenwich Village, wo ein 19-jähriger Robert Zimmerman, der sich selbst das Alias Bob Dylan verliehen hat, frisch aus Minnesota, die von Tabak und Marihuana verqualmten Cafés durchstreift, um sich in Szene zu setzen. Die historische Rekonstitution ist aufwendig gestaltet: akribisch zeitgemäß arrangierte Sets, originalgetreue Kostüme und intensives musikalisches Ambiente. So gelingt es, die rebellische Energie der Jugend der Zeit einzufangen.
Die Live-Musiksequenzen verleihen dem Film eine seltene Authentizität. Timothée Chalamet selbst singt Dylans Lieder, ein gewagtes Spiel, das die Verbindung zwischen Schauspieler und Charakter verstärkt. (A Complete Unknown, Original Motion Picture Soundtrack, Columbia 2024).
Dramaturgisch zugespitzt läuft die Handlung auf ihren Höhepunkt beim Newport Folk Festival 1965 zu, wo Dylan das Publikum verstört und empört, indem er seinen Sound elektrisch tuned. Wobei man ihm nicht allein den musikalischen Bruch übelnimmt, sondern zunehmend auch seine immer neue Lyrik beargwöhnt, die sich nicht mehr so einfach auf Vietnamkrieg und Bürgerrechtsbewegung beziehen lässt. Statt Masters of War jetzt It´s Al Over Now Baby Blue. Weniger Botschaft, mehr Sentiment und Deutungsspielraum – zu viel für Hardlinerin der Folkszene. Dass der Geschmähte trotzdem oder gerade deswegen zum »Poet Laureate« seiner Peergroup avanciert, weckt Neid und bad vibes.
Einen Künstler wie Dylan, so nah am Puls der Zeit und gleichzeitig weltentrückt, auf die Leinwand zu bringen, ist ein Coup. Timothée Chalamet handhabt es brillant. Anstatt einfach das Vorbild nachzuahmen, fängt er seine Aura, seinen schwer fassbaren Blick, seine distanzierte Haltung und seine einzigartige Phrasierung ein. Er versucht nicht, Dylan zugänglicher zu machen, sondern unterstreicht im Gegenteil sein geheimnisvolles Charisma und seine kompromisslose Unabhängigkeit, die sich weigert, auf eine Identität festgelegt zu werden.
Mit ihm liefert Monica Barbaro eine beeindruckende Interpretation von Joan Baez. Ihre Stimme, ihre Gesten und ihr Bühnencharisma erinnern an die Sängerin mit auffallender Genauigkeit. Die Beziehung zwischen Dylan und Baez wird mit Finesse, zwischen gegenseitiger Bewunderung und aufkeimenden Differenzen gezeichnet. Ihre Live-Duette gehören zu den denkwürdigsten Momenten des Films.
Edward Norton spielt einen nuancierten Pete Seeger, weit weg vom einfachen wohlwollenden Mentor. Sein Charakter verkörpert die Spannungen, die sich damals durch die Folkszene ziehen, zwischen der Bindung an die Tradition und der Weigerung, die Musik zu weiterzuentwickeln oder sich von Ideologien zu lösen.
Aus filmtechnischer Sicht kümmert sich James Mangold um jedes Detail, um das Publikum in diese vergangene Ära zu versetzen. Die Kamera inszeniert zuweilen ein Wechselspiel zwischen Nahaufnahmen, erfasst intensiv die Emotionen der Charaktere und setzt jede Szene in ihren historischen und musikalischen Kontext. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, die Energie der Aufführungen zu spüren und gleichzeitig ein echtes Eintauchen in das New York der 60er Jahre.
Optisch nehmen die Bilder eine Farbpalette an, die an Vintage-Fotografien aus der Zeit erinnern. Gedimmte Clublichter, die belebten Straßen von Greenwich Village und Konzertszenen, die in Schatten gehüllt sind.
Die Aura eines Ausnahmekünstlers
Der Soundtrack, von ikonischen Bob-Dylan-Tracks dominiert, wird live von Timothée Chalamet aufgeführt. Stille Momente werden intelligent verwendet, was die dramatischen Spannungen verstärkt und die Reflexionsmomente des Charakters hervorhebt. Während der Konzerte fängt der Mix die Intensität des Augenblicks mit purer Energie ein und zollt der Kraft des jungen Dylan auf der Bühne und seinem Einfluss auf das damaligen Publikum Tribut.
Einige mögen den Film dafür kritisieren, dass er sich nur auf ein paar Jahre des Lebens von Dylan konzentriert und andere Aspekte seiner Werke und Persönlichkeit auslässt. Der Film versucht nicht, die ganze Geschichte zu erzählen – und tut gut daran. Vielleicht hatte sich Mangold an das Projekt von Todd Haynes erinnert (I´m Not There, 2007), in dem gleich sechs Darsteller:Innen (u.a. Cate Blanchett, Richard Gere und Christian Bale) aufgeboten wurden, um die multiple Künstlerpersönlichkeit fassbar zu machen. Die Kritiken zeigten sich zwiespältig.
Im Fokus des aktuellen Versuchs steht der Moment, in dem alles auf den Kopf gestellt wurde, als Dylan der freie, unkontrollierbare Künstler wurde, den wir heute kennen.
Es ist beileibe kein Dokumentarfilm, sondern Kino – ob und wie groß, mögen die Oscars und die Zuschauer entscheiden. An den Kinokassen schlägt er sich überraschend gut. A Complete Unknown hat bis dato 66 Millionen US-Dollar und international 20 Millionen US-Dollar eingespielt und könnte es zu einem der 40 umsatzstärksten Filme aller Zeiten bringen, die auf einem Buch basieren.
Der Versuch einer Annäherung an das Genie eines schwer fassbaren Künstlers, ein Film, der künstlerische Freiheit und Mut zur Erneuerung feiert, belässt es weitestgehend bei einer Außensicht. Dabei kann man beobachten, wie Menschen, die Dylan nahestehen, ihm begegnen oder im Konzert erleben, von Faszination gepackt werden unter dem Eindruck seiner künstlerischen Strahlkraft. Heute lässt Joan Baez in Interviews durchblicken, dass ihr schon der junge Dylan in seiner ganzen geheimnisumwobenen Art weit herausgehoben schien von allem, was damals ihre Welt ausmachte – und dass er ihr nicht guttat. »That talent is too great to have any resentment about it.«
His Bobness: Eine zeitlose Figur der Musikszene
James Mangolds Film ist keine klassische Erfolgsgeschichte, sondern Porträt eines Künstlers in Zeiten, die sich ändern, der zwischen seinen Ursprüngen und seinem Drang nach Neuem hin- und hergerissen ist. Durch die livehaftigen Auftritte von Timothée Chalamet und Monica Barbaro fängt der Film nostalgisch eine entscheidende Ära in der amerikanischen Musik ein.
Mehr als eine Hommage erinnert uns das Filmepos daran, warum Dylan, heute auch His Bobness genannt, eine zeitlose Ausnahme in der Musikszene bleibt. Und was meint Dylan selbst dazu? Aus Insiderkreisen will man gehört haben, dass ihm der Film durchaus gefalle. Auch habe er sich lobend über den Hauptdarsteller geäußert. Mehr wird man nicht erwarten können, schließlich hatte er sich über den Literaturnobelpreis auch nur beiläufig öffentlich gefreut.
Wenn die Oscar-Verleihung vorbei ist, wird der »fahrende Sänger« wieder dort sein, wo für ihn das Leben spielt: On the road. Über 50 Termine im mittleren Westen der USA, an Ost- Und Westküste stehen zwischen März und September an. Man darf gespannt sein, wie viele aus jüngeren Kohorten sich unter die Boomer mischen, die Dylans Touren heutzutage begleiten. Frische Gesichter, die durch den Film neugierig geworden sind und die Gelegenheit nicht verpassen wollen, das Phänomen einmal leibhaftig musizierend zu erleben. Auf alle Fälle werden sich diese Newcomer daran gewöhnen müssen, dass bei Dylans (Hallen)-Konzerten absolutes Handyverbot herrscht. Auch ein kleiner Schock.
James Mangold
Like A Complete Unknown (Searchlight Pictures/Disney) USA, 2024; 140 Min.
Ab 27.02.25 im Kino.