Sie waren Kinder …
… und mussten zwischen Bergen von Leichen spielen. 56 dieser ehemaligen Kinder nahmen auf Einladung des Landes Niedersachsen jetzt an der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen Belsen teil. Unter ihnen war auch Annette Kaufman, die mit ihrem Ehemann Eitan aus Raanana, Bramsches Partnerstadt in Israel, angereist war.
Ich bin am frühen Vormittag gestartet, um die knapp 200 km lange Strecke nach Bergen Belsen zu fahren. Ab Bremen geht es über die A 27 und schließlich ein kurzes Stück über die A 7 Richtung Osten. Blühende Rapsfelder links und rechts der Straße strahlen in der Frühlingssonne. Sie hat was Idyllisches, diese Landschaft am Rande der Lüneburger Heide.
Doch je weiter ich fahre, umso eintöniger wird die Landschaft: lange Straßenabschnitte durch Wälder, in die gelegentlich für mich mit kryptischen Abkürzungen beschriftete Schilder auf Abzweigungen in militärische Bereiche hindeuten. Nur gelegentlich komme ich an einzeln gelegenen Häusern oder Bauernhöfen vorbei. Menschen sieht man hier in dieser Einöde kaum.
Schließlich erreiche in den auf einem Gelände einer Panzerwaschanlage eingerichteten Park-and-Ride-Platz, wo bereits viele Pkw parken und etliche bereitstehende Shuttlebusse warten, um die Besucher zur Gedenkstätte Bergen Belsen zu bringen. Die eigentliche Zufahrt ist durch Polizei großräumig abgesperrt. Dieses deutet schon an, dass hier ein besonderes Ereignis stattfindet.
Als ich auf dem Gelände vor dem Eingang den Shuttlebus verlasse, sehe ich schon von Weitem Eitan Kaufman, der sich suchend umblickt und mir mit ausgebreiteten Armen entgegenkommt als er mich sieht. „Schön dich zu sehen, ich habe für dich einen Platz im Zelt organisiert, das für die Überlebenden und ihre Begleiter reserviert ist. Annette wartet schon auf dich“, erzählt er mir, während wir in das neben den Gedenkstättengebäuden errichtete Zelt gehen.
Es gibt noch einige leere Plätze, so dass ich gleich vom Eingang aus das vertraute Gesicht von Annette Kaufman sehe, die mich auch sofort erkennt und mir mit ausgebreiteten Armen entgegengeht. Nach dieser herzlichen Begrüßung muss ich mich zwischen die beiden setzen und sie lassen sich natürlich nicht davon abhalten, mir etwas zu trinken und zu essen zu holen.
Annette und Eitan Kaufman habe ich 2016 kennengelernt. Anlass war eine Reise des Städtepartnerschaftsvereins Bramsche in die Stadt Raanana in Israel, mit der die Stadt Bramsche seit 1979 eine Städtepartnerschaft unterhält. Die Übernachtung war bei Gasteltern, und offenbar hatten sich Kaufmans speziell mich und meine Frau „ausgesucht“.
Später im Gespräch hat sich dann herausgestellt, dass mein polnischer Familienname der Grund war. Annette Kaufman war nämlich in Polen geboren und erhoffte sich, dass ich – wegen meines Nachnamens – auch polnisch sprechen konnte, was leider nicht der Fall war. Dennoch haben wir uns auf Anhieb sehr gut verstanden und pflegen seit einem Gegenbesuch wenige Jahre später einen sehr engen Kontakt miteinander über Telefon mittels social media. Beim ersten Zusammentreffen hat mir Annette auch ihre Geschichte erzählt:
Sie ist 1942 im jüdischen Ghetto von Piotrkow Trybunalski geboren, einer Stadt südlich von Lodz. Ihren Vater habe sie nie kennengelernt, der sei noch im Jahr ihrer Geburt in Skarzysko, einem Nachbarort, von den Deutschen ermordet worden. Nach der Auflösung des Ghettos wurden Annette Niechcicka, wie sie mit Mädchennamen heißt, und ihre Mutter Maria im Dezember 1944 mit einem Sondertransport in das KZ Ravensbrück deportiert. Im Februar 1945 sei sie dann mit ihrer Mutter nach Bergen Belsen geschickt und dort im April 1945 befreit worden.
Annette und Eitan Kaufman wohnen mit anderen der eingeladenen Überlebenden in einem Hotel in Hannover. Man sei schnell miteinander ins Gespräch gekommen und habe Erinnerungen ausgetauscht. Einer davon, ein älterer Herr, sitzt uns an unserem Tisch gegenüber. „Er ist als Kind von Bergen Belsen aus in die Schweiz gebracht worden“, erläutert mir Eitan. „Ich bin damals mit über 1.600 anderen Juden mit dem sogenannten Kasztner-Zug in die Schweiz gebracht worden“, ergänzt Peter Iczkovits, so sein Name.
„Ein ungarisch-jüdischer Journalist, Rudolf Kasztner, hat mit Eichmann damals einen Deal über den Freikauf von 1600 Juden geschlossen. Ich war damals 2 Jahre alt und bin auf diese Weise aus Bergen Belsen gerettet worden.“ Er zeigt mir ein Buch mit dem Titel „Rettung vom Totenwagen“ in dem seine Geschichte erzählt werde.
Vor zwei Tagen seien sie alle hier in Bergen Belsen gewesen und man habe ihnen gezeigt, wo auf dem Gelände sich früher welche Lagerbereiche befunden haben. Inzwischen hat sich das Zelt nach und nach gefüllt. Neben Politprominenz wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und seinem designierten Nachfolger Olaf Lies oder Kultusministerin Julia Willie Hamburg sieht man auch den Landesvorsitzenden der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen Michael Fürst.
Aus dem Osnabrücker Raum sind Michael Gander, Leiter der Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller, und Baruch Chauskin, Kantor der Jüdischen Gemeinde Osnabrück, zu sehen, die sich mit Albrecht Weinberg unterhalten, der zusammen mit seiner Schwester nach einer Odyssee durch die Lager, beginnend als Zwangsarbeiter in dem von den Nazis umfunktionierten ehemaligen Hachschara-Lager Landwerk Neuendorf über das KZ Auschwitz und mehreren Todesmärschen sowie dem KZ Mittelbau-Dora schließlich in Bergen Belsen befreit wurde.
Gegen 13 Uhr wird es unruhig im Zelt, viele erheben sich und gehen nach draußen. Auf dem Weg ins Außengelände werden Tulpen verteilt, die man an den Erinnerungstafeln niederlegen kann. Annette hakt sich bei mir unter als wir über das weitläufige, ehemalige Lagergelände gehen, vorbei an den Hügeln der Massengräber. In der Ferne ragt der Obelisk wie ein Fingerzeig in den blauem Himmel.
Dort sind die Stuhlreihen für die Gedenkveranstaltung aufgebaut. Wir müssen allerdings getrennt sitzen, denn der mit grünen Farbbändern markierte Bereich ist ausschließlich für die Überlebenden und deren Begleitung sowie für die prominenteren Gäste reserviert. Diesmal bleibt auch die Überredungskunst von Eitan Kaufman ohne Erfolg. Aber in dem orangenen Bereich für die übrigen Gäste habe ich einen ebenso guten Blick auf das Geschehen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil erinnert in seiner Begrüßungsrede an Anita Lasker-Walwisch, eine Überlebende, die am 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen Belsen, „einem der Orte des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte“, sagte: „Nur wer damals hier in Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebende reden. Nichts als Leichen, Leichen, Leichen.“
Und genau deshalb wolle er von der eigentlich protokollarisch vorgesehenen Reihenfolge der Begrüßung abweichen und als Erstes „die 56 Überlebenden, die heute unter uns sind“ begrüßen. „Wir sind Ihnen unendlich dankbar dafür, dass Sie trotz Ihres hohen Alters, trotz aller Beschwerlichkeiten, trotz der furchtbaren Erinnerungen, die Strapazen dieser langen Reise auf sich genommen haben.“
Und er bat sie, sich zu erheben, „damit wir sie noch einmal herzlich begrüßen können“. Der große Applaus der fast 1.000 Teilnehmer dieser Veranstaltung bestätigte die Bedeutung dieser Geste. Selbstverständlich bezog Weil auch jene 17 Gäste mit ein, die nach der Befreiung im benachbarten Displaced Persons Camp geboren worden sind. Auch in Bezug auf die Frage nach dem Unterschied des KZs Bergen Belsen im Vergleich beispielsweise zu Auschwitz-Birkenau verwies Weil auf die Antwort von Anita Lasker-Walfisch: „In Bergen Belsen ist man einfach krepiert.“
Nach Grußworten von Angela Rayner, der stellvertretenden britischen Premierministerin, Gruß- und zugleich mahnenden Worten von Ron Prosor, dem Botschafter Israels, kamen schließlich Überlebende zu Wort. Stellvertretend dafür sei Mala Tribich erwähnt, die als Mala Helfgott in Piotrkow Trybunalski geboren wurde, demselben Ort, aus dem auch Annette Kaufman stammt. Sie habe dort ein glückliches Leben mit ihrer Familie geführt, bevor die Deutschen kamen und alles zerstörten.
In Piotrkow wurde 1939 das erste Ghetto in Polen errichtet. 1942 trieben die Deutschen ihre Mutter, ihre Schwester und den größten Teil ihrer Großfamilie und 560 andere Menschen in einen nahegelegenen Wald und ermordeten sie. Mala und ihre 7 Jahre jüngere Cousine wurden nach Ravensbrück deportiert. Der Vater und der Bruder kamen nach Buchenwald. Mala kam schließlich nach Bergen Belsen. „Aber als wir in Bergen-Belsen ankamen, war das das Schlimmste. Es war entsetzlich, jenseits des menschlich Erträglichen. Das erste, was einem auffällt war der Geruch und der Smog.
Da waren Skelette, die ziellos umherschlurften in und während sie schlurften, brachen sie zusammen und starben. Überall gab es Tote, überall Leichen und Haufen von nackten, verdrehten, verwesenden Leichen.“ Mala sei schließlich an Typhus erkrankt. Auf meiner Pritsche am Fenster einer Baracke sei sie zu Bewusstsein gekommen und habe gesehen, wie Menschen draußen rannten. „Das war am 15. April 1945. Ich kann nicht beschreiben, was es bedeutete, von diesen britischen Soldaten mit Freundlichkeit – als menschliche Wesen – behandelt zu werden.“
Was diese Aussage bedeutet, mag ein Blick zurück auf die Berichte aus der Britischen Army veranschaulichen. Als die ersten Einheiten am 15. April 1945 in das Lager Bergen Belsen einrückten, empfing sie ein bestialischer Gestank von schätzungsweise 10.000 unbeerdigten Leichen. Ca. 60.000 zum großen Teil abgemagerte Menschen, die Hälfte davon Juden, jubelten den Befreiern mit letzter Kraft zu, bettelten aber zugleich um Nahrung und vor allem Wasser.
Der Bau einer Wasserleitung aus einem nahegelegenen Fluss, die Beschaffung von Nahrung und die medizinische Versorgung in vier improvisierten Hospitälern sowie schließlich die Evakuierung des „Horror Camps“, wie die Briten das besonders in den letzten Wochen davor zunehmend verwahrloste Lager bezeichneten, waren die dringendsten Aufgaben der Befreier.
Um der Seuchengefahr zu begegnen, wurden nach der Räumung der Baracken die Gefangenenunterkünfte sofort niedergebrannt. Trotz aller Bemühungen der Briten, die sogar Medizinstudenten zur Unterstützung einfliegen ließen, ging das Sterben weiter.
Zwischen dem 15. April und dem 26. Mai 1945 starben trotz aller Anstrengungen der Briten 13.000 Menschen an den Folgen ihrer Haft, allein am 23. April ca. 1.700 Männer und Frauen. Annette Kaufman und ihre Mutter überlebten.
Während im Anschluss an die Reden und nach der Verlesung der Namen der im vergangenen Jahr verstorbenen Überlebenden die Kränze an der Inschriftenwand niedergelegt wurden und Landesbischof Meister und Bischof Dr. Wilmer am Hochkreuz das Christliche Gedenken vornahmen, tauschte Annette Kaufman mit Mala Tribich die Adressen aus. Mir gestand sie, dass sie sich davon erhoffte, mehr über ihre Kindheit im Ghetto Piotrkow zu erfahren. „Weißt du, ich war noch zu jung, um diese Zeit zu erinnern und Mala war schon älter, da bekommt kann man schon mehr registrieren“, verrät sie mir anschließend.
Ich begleite Annette und Eitan Kaufman zur Zeremonie am Jüdischen Mahnmal, wo Dr. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seiner Ansprache darauf verwies, dass 10 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch nie der Shoah gehört habe und 40 Prozent nicht wissen, dass etwa 6 Millionen Juden in der Shoah ermordet worden seien. Es sei bedenklich, dass ein großer Teil der Jugendlichen völlig unwissend in Bezug auf diese Zeit sind. Das müsse dazu führen, dass eine andere Art der Erinnerung stattfinden müsse, um auch diese Menschen zu erreichen.
Die Möglichkeiten der digitalen Entwicklung müssten genutzt werden, indem Zeitzeugengespräche digitalisiert und an authentischen Orten mit digitalen Modellierungen die Dimension dieses Menschheitsverbrechens sichtbar gemacht werden. Aber auch bei der Nutzung neuer Technologie müsse gelten: Handlungsleitlinie muss der Respekt vor den Opfern sein.
Zum Abschluss wird das Lied gesungen, das die Überlebenden von Bergen Belsen bei ihrer Befreiung als Zeichen der Hoffnung gesungen haben: die Hatikva, die Nationalhymne Israels. Annette Kaufman hält dabei stolz ihre Israelfahne in die Höhe.
Danach gehen wir schweigend zurück zum Eingang. Erst jetzt wird einem bewusst, dass die ganze Veranstaltung knapp Stunden gedauert hat. Annette und Eitan bemühen sich, nicht erschöpft zu wirken. Dennoch scheinen sie froh, als der Bus bereit steht, der sie ins Hotel nach Hannover bringt. Zum Abschied umarmen wir uns ein letztes Mal. „Besuch uns doch mit deiner Frau in Israel“, rufen sie mir noch zu, bevor sie in den Bus steigen.
Im Shuttlebus setzt sich Michael Grünberg, der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Osnabrücks, neben mich und wir unterhalten uns auf dem Weg zum Park-and-Ride-Parkplatz ein wenig.
Ein eindrucksvoller Tag, einer der ganz wichtigen in meinem Leben, in Bergen Belsen geht zu Ende als ich in mein Auto steige und in die Abendsonne fahre. Meine Gedanken wandern zu Annette und Eitan. Werde ich sie wohl wiedersehen? Ich habe das Gefühl, die Rapsfelder links und rechts der Straße strahlen jetzt ganz besonders …