Dorothee Elmiger liest aus ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Die Holländerinnen“
Am Freitag, dem 28. November, fand im gut besuchten Hörsaal des Juridicums eine Lesung mit der Schweizer Autorin und Übersetzerin Dorothee Elmiger statt. Die Lesung musste wegen der hohen Nachfrage vom Ledenhof verlegt werden. Vor 200 Zuhörenden las die Trägerin des Deutschen, Schweizer und Bayerischen Buchpreises aus ihrem jüngsten Roman Die Holländerinnen. Die Veranstaltung wurde vom Literaturbüro Westniedersachsen in Kooperation mit den Altstädter Bücherstuben und der Universität Osnabrück (vertreten durch Prof. Dr. Olav Krämer) ausgerichtet. Osnabrück ist seit 2020 das neueste Mitglied der LiteraTour Nord, die jährlich fünf Autorinnen und Autoren zur Lesereise nach Norddeutschland einlädt und einen gleichnamigen Literaturpreis vergibt. Die Lesung bildete den Abschluss dieser Reise in sieben Städten.
Die Krise des Erzählens als poetischer Ausgangspunkt. In ihrer Poetikvorlesung – der Erzählsituation, die den Romanauftakt bildet – beschreibt die Schriftstellerin, aus deren Perspektive der Text größtenteils erzählt wird, zunächst eine tiefe Schreibkrise: Jeder Versuch einer klaren Bestimmung ihres Werkes sei ihr unmöglich geworden. Einer „gespensterhaften Penelope“ gleich, habe sie nächtlich alles wieder aufgetrennt, was sie tagsüber aufgeschrieben hatte, während sich ihr stattdessen fragmentarische Bilder und unvermittelte Blitzlichter aufgedrängt hätten. Ihr Schreiben löse sich auf, der Text werde zunehmend formlos. Die Erzählerin lehnt es ab, dies nur als Spiegelung der „schlechten, ja, tödlichen“ gegenwärtigen Verhältnisse zu deuten. Für sie sei der Text stets ein Ausdruck einer „irren, gellenden Lebendigkeit“ gewesen, eine „Notiz aus dem Chaos, dem Malstrom des Lebens“.
Im ersten Interview-Teil erklärte Dorothee Elmiger gegenüber Dr. Peters, dass diese Entscheidung für die Poetikvorlesung als Ausgangspunkt einen banalen Grund habe: Die Aufforderung, über das eigene Werk zu sprechen, kann die Autorin selbst in eine Krise führen. Für sie war es ein interessanter Ansatzpunkt, die Geschichte aus einem „Moment der Krise“ der fiktiven Schriftstellerin erzählen zu lassen.
Der Umweg der indirekten Rede
Auf die Frage nach der durchgehenden Verwendung der indirekten Rede als Erzählweise antwortete Elmiger, dass dieser „Umweg“ für sie wichtig gewesen sei. Das „gebrochene Erzählen“ – von Dr. Peters in Anlehnung an W.G. Sebald als „periskopisches Erzählen“ bezeichnet – ermöglicht es ihr, die Fragen, die das Erzählen an sich stellen, mit in den Text zu transportieren. Sie empfand das „Kolportage-Prinzip“ als passend, bei dem Geschichten erzählt werden, man aber nicht genau wisse, ob sie stimmen.
Das titelgebende Schicksal der beiden „Holländerinnen“ – zwei Frauen, die im Dschungel zwischen den Wendekreisen verschwinden und deren Fall auf einem realen Ereignis beruht – war entgegen der Erwartung nicht der ursprüngliche Kern des Schreibprojekts. Im Zentrum stand zunächst Elmigers Wahrnehmung der Gegenwart als von Gewalt und „Düsterkeit“ geprägt. Die Geschichte der Holländerinnen bildete sich erst als roter Faden heraus, da der Theatermacher, der die Schriftstellerin für sein Projekt anwirbt, genau diesen Fall als „Rekonstruktion eines Falls“ erforschen will. Elmiger betonte im Interview zudem, dass fast alles in ihrem Text fiktionalisiert wurde, um eine größtmögliche Distanz zum realen Fall zu schaffen.
Die Reise ins Chaos und die Furcht vor der Natur
Die Erzählerin begibt sich für ein Theaterprojekt in eine Lodge namens „Ojo del Sol” (Auge der Sonne) in einer dicht bewaldeten Landmasse „zwischen den Wendekreisen“. Dort erfährt sie mehr über die beiden Rucksacktouristinnen aus Leiden, die dort eine Zeit lang als Helferinnen arbeiteten. Ihr letzter gesicherter Kontakt war ein deutscher Tourist (ein Sportwissenschaftler aus Freiburg), der nach einer Yahi-Zeremonie barfuß im Regenwald unterwegs war und die Frauen mit ihrer Digitalkamera vor einem riesigen, schwarzen Baum fotografierte.
Die Erzählerin selbst erlebt in ihrem Bungalow „Viento del Norte“ eine Nacht der „lächerlichen Furcht“. Der Urwald sei von einem „ungeheuren, ja höllischen Lärm“ erfüllt, einem „keuchenden, dampfenden Organismus“. Angesichts dieser massiven, gewalttätigen Natur reflektiert sie die Möglichkeit eines Gottes, nämlich eines „großen, leeren Gottes, einer enormen Abwesenheit“.
Das zweite Interview knüpfte an diese sprachgewaltige Naturdarstellung an: Elmiger erklärte, dass sie mit der indirekten Rede und kleinen Störungen (Räuspern, Umblättern) in der Lesung ein Bewusstsein schaffen wolle für die Verführungskraft von Erzählungen. Sie wolle die emotionale Sogwirkung unterbrechen und daran erinnern, dass es ein Text sei, der erzählt wird.
Im dritten und letzten Leseabschnitt trifft die Schriftstellerin auf einen weiteren deutschen Emigranten (Klaus), der eine illegale Brennerei betreibt und sich über Politik und Zuwanderung echauffiert. Dessen Deutsch klingt „ältlich“, als hätte es seit seiner Auswanderung in den 90er Jahren kaum Veränderungen erfahren. Die Erzählerin erlebt einen Moment der extremen Angst, als sie dem Mann mit nacktem Oberkörper begegnet und seine Augen im Dämmerlicht „komplett weiß“ erscheinen. Sie schließt sich im Bad ein und entkommt der Situation schließlich, indem sie sich ohne umzublicken entfernt. Die Lesung Elmiger präsentierte damit ein komplexes literarisches Projekt, das die Krise des Erzählens und die Faszination für Gewalt und „schreckliche Geschichten“ thematisiert, ohne dabei einfache Urteile zu fällen.
Wer bislang noch nicht bei einer der Lesungen vom Literaturbüro Westniedersachsen dabei war, hat am 12. Dezember um 19 Uhr die nächste Möglichkeit. Dann wird Daniela Dröscher aus ihrem Buch “Junge Frau mit Katze” im Renaissance-Saals am Ledenhof 3-5 lesen. Tickets können bei den Altstädter Bücherstuben unter der folgenden Nummer vorbestellt werden: 0541-26391















