Weihnachten 1984 im Taxi
(… eine wahre Geschichte aus dem Buch „Sind Sie frei?“ von Kalla Wefel)
Die vielen betrieblichen Weihnachtsfeiern, das recht locker sitzende Weihnachtsgeld und die um diese Jahreszeit vorherrschenden barmherzigen Gefühle meiner Mitmenschen bewirken, dass mein Verdienst auf eine neue Rekordmarke schnellt.
»Seien Sie bloß vorsichtig, junger Mann! Es ist nämlich furchtbar glatt draußen.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, man kann das zwar kaum sehen, aber ich wäre eben beinahe ausgerutscht.«
Die Tipps meiner Fahrgäste versetzen mich immer wieder in Erstaunen.
»Und warum müssen Sie ausgerechnet am Heiligen Abend Taxi fahren?«
»Weil meine drei Kinder sonst nichts unterm Weihnachtsbaum vorgefunden hätten, verstehen Sie?«
»Ach, dann haben Sie heute schon gefeiert?«
»Nein, meine Familie musste wie immer ohne mich feiern!«
»Och, das ist aber traurig.«
»Ja …«, seufze ich mit tränenerstickter Stimme.
Das sind zwölf Mark Trinkgeld. Da der wahre Grund, weshalb ich heute Taxi fahren muss, nur für sieben Mark Trinkgeld langt und sich bislang lediglich im oberen Mittelfeld platzieren konnte, gebe ich noch so manch abenteuerliche Geschichte von mir. Viel hängt allerdings davon ab, wie das Publikum reagiert.
So fahre ich eine ältere Dame von der Spätvorstellung im Michel nach Blankenese. Ihr christliches Gehabe lässt mich zur Höchstform auflaufen.
Vor mir steht wieder mal so ein Weihnachtsmann aus Pinneberg, der offenbar meint, auf die göttliche Eingebung warten zu müssen, um losfahren zu können, obwohl die Ampel bereits auf Grün steht. Als ich wohl ein wenig zu laut vor mich hin schimpfe: »Mein Gott, nun fahr schon los, du Depp! Oder hast du deinen Führerschein zu Weihnachten geschenkt bekommen?«, meldet sich erbost eine Stimme aus dem Hintergrund.
»So schnell rufen Sie Gott an?«
»Hä?« Ich denke, ich höre nicht richtig. »Was ist los …?«
»Na, Sie halten wohl nicht viel von Gott und Weihnachten, wie?«, wird die alte Dame mit schnippischer Stimme nun deutlicher.
»Ach nein …“, seufze ich und atme tief durch, um Zeit zu gewinnen. „Schon seit vier Jahren nicht mehr.«
»Wieso denn seit vier Jahren nicht mehr?«
Mhm, eine interessante Frage. Was könnte nur der Grund sein? Ich beginne vorsichtig: »Nun ja, also vor vier Jahren da …« Ja, was kann denn nun vor Jahren gewesen sein? Gar nicht so einfach. »Also vor vier Jahren da … da hatten meine Eltern einen Autounfall …« Na, das klingt für den Anfang doch ganz vielversprechend.
»Och …!« Oma sammelt sich im Fond und scheint von nun an auf das Schlimmste gefasst zu sein, bevor sie nachhakt: »Und?«
»Wie und?«, stelle ich mich dumm, um sie ein wenig schmoren zu lassen.
»Na ja, ich meine, Ihren Eltern ist doch hoffentlich nichts allzu Schlimmes zugestoßen, oder?«
»Na ja, wie soll ich mal sagen? Beide tot.«
»Ach, wie furchtbar!«, seufzt es von der Rückbank herüber.
»Tja, und das Ganze geschah eben damals am Heiligabend.«
»Ach, wie schrecklich! Na, dann kann ich auch verstehen …«
»Was können Sie verstehen?«
»Na ja, dass Sie Ihren Glauben verlo…« Oma verschlägt es bei einem für sie offenbar ketzerischen Gedanken die Sprache.
»Dass ich was?«, hake ich nach.
»… also, dass Sie Ihren Glauben … also, dass Sie zumindest in Ihrem Glauben doch stark erschüttert worden sind. Gott wollte Sie bestimmt nur prüfen.«
Ich habe Christen nie verstanden: Geht etwas gut, ist es allein von Gottes Gnaden geschehen, geht etwas schief, will Gott jemanden prüfen. Wütend setze ich noch eins drauf: »Na ja, das ist ja noch nicht mal alles. Das waren nämlich gar nicht meine leiblichen Eltern, sondern nur meine Pflegeeltern.«
Mich muss der Teufel reiten. Oma ist mittlerweile mit den Nerven am Ende und kämpft mit den Tränen, doch ihre christliche Neugierde lässt ihr einfach keine Ruhe.
»Und … und was ist mit Ihren leiblichen Eltern?«, hakt sie nach.
Ich steigere mich behutsam: »Meine Mutter starb bei meiner Geburt …«
»Neihein …!«, kreischt es aus dem Fond herüber.
»Na ja, und mein Vater, Gott habe ihn selig, der …«, quetsche ich mit tief betrübter Stimme hervor und atme danach erst einmal tief durch, was die alte Dame als meinen Kampf mit den Seelenqualen missdeutet.
»Ach, lassen Sie nur, wenn es Ihnen zu schwerfällt, müssen Sie nicht unbedingt weitererzählen«, wimmert sie, wobei mir der Tonfall des ›Unbedingt‹ sämtliche Optionen offenlässt.
Also nutze ich die Zeit, um mir einen möglichst starken Abgang für meinen Vater zu überlegen. Es soll etwas Todschickes sein.
Und richtig, auf der Höhe des Anlegers ›Teufelsbrück‹ meldet sich erneut die Stimme aus dem Hintergrund: »Und … und wie alt waren Sie denn, als Ihr Vater starb?«
Hä? Wie alt? Sie hat mich kalt erwischt, denn so weit hatte ich noch gar nicht gedacht, geschweige denn gerechnet.
»Fünf«, schlage ich schließlich beim Anblick meiner rechten Hand vor.
»Fünf Jahre?! Mein Gott, wie schrecklich!«
»Ja, dass Gott das hat geschehen lassen …«
»Wie hat denn der Herr Ihren Vater zu sich genommen?«
Upps, nicht so drängeln, gnä’ Frau! Genau bei diesem Gedanken haben Sie mich nämlich eben unterbrochen. Mhm, mal überlegen … Moment! Jetzt hab ich’s wieder: Das Stichwort war ›Unser erster Familienurlaub‹ und der war …
»… auf Borkum!«
»Auf Borkum?«
»Na ja, nicht direkt auf Borkum, sondern eher vor Borkum …«, korrigiere ich mich und mache dabei eine ausladende Handbewegung. Wie ein weißer Hai, der sich in die Nordsee verirrt hat, habe ich mittlerweile viel zu viel Blut geleckt, als dass mich ein nahe dem Ersticken hervorgepresstes Piepsen auf der Rückbank noch an einem Gemetzel hindern könnte und gnadenlos fahre ich fort: »Und dabei wollte er meine beiden kleinen Schwesterchen doch nur vor dem Ertrinken retten.«
»Zwei kleine Schwesterchen? Mein Gott, wie furchtbar!«, jault Oma mit sich überschlagender Stimme.
»Ja, zwei furchtbar kleine Schwestern«, wimmere ich und verkneife mir zu sagen, dass zwei große noch furchtbarer sein können.
»Und …?«
Kurz und schmerzlos hole ich zum letzten Schlag aus: »Alle tot.«
Was soll ich sagen? Statt sechsundzwanzig Mark und vierzig gab es sage und schreibe einen Fünfziger.
›Mit die Doofen ist Gott‹, hieß es schon immer bei uns zu Hause. Wohl wahr, denn wer nichts weiß, muss alles glauben.
Bei der Kaffeepause mit Levent, Regina und anderen Kollegen erfahre ich, dass auch sie eine satte Kollekte eingefahren haben. Selbst Levent hat an einem solchen Tag mal einen leichten Stand, weil man ihm seine morgenländische Herkunft offenbar in christlicher Nächstenliebe großmütig verzeiht.
Wir hatten vor der heutigen Schicht gewettet, dass derjenige, der seinen Fahrgästen die schrecklichste Geschichte erzählt, den Jackpot von siebzig Mark erhält.
Ich gewinne.
Eine Woche später:
Das neue Jahr beginnt mit einem Paukenschlag. Eigentlich hatte ich mich mit Levent und Regina zum Anstoßen um zwölf Uhr am Grindel verabredet. Gerade als die Funkerin allen Kolleginnen und Kollegen ein frohes neues Jahr wünschen will, ruft Levent um Hilfe:
»Notruf, Zwo-Acht-Sieben! Notruf!«
Sofort herrscht absolute Ruhe im Funk. Die Funkerin fragt besorgt nach: »Was ist denn, Zwo-Acht-Sieben?«
»Ach, ich wollte nur sagen: Es ist soweit, wir haben ›1984‹!«
















