Osnabrücks bekanntester Nazi war nur ein kleines Licht im NS-Apparat
Er platzte fast vor Stolz, wenn er mit Naziuniform und Schaftstiefeln durch die Stadt marschierte. Der Uhrmacher Erwin Kolkmeyer hetzte gegen Juden, schikanierte Andersdenkende und zündete die Synagoge an. In Osnabrück gilt er als das bekannteste Gesicht der Hitlerzeit. Dabei war er als Ortsgruppenleiter nur ein kleines Licht in der NS-Hierarchie.

Mit seinem „Osnabrücker Judenpranger“ hat sich Erwin Kolkmeyer (1899-1961) einen zutiefst unrühmlichen Platz in der Stadtgeschichte gesichert. An der Hasebrücke neben seinem Uhrengeschäft an der Georgstraße stellte er Schaukästen mit denunziatorischen Fotos auf. Zu sehen: Menschen, die in Geschäften von Juden gekauft hatten.
Als Parteikader ohne Wahl ins Rathaus entsandt
Aufgestachelt von der Neugier und der zweifelhaften Mahnung „Volk, bleib wach!“ zog es viele Menschen vor Kolkmeyers „Judenpranger“, wie Fotos aus jener Zeit nahelegen. Garniert wurde diese als Spektakel inszenierte Hetze mit den neuesten Ausgaben der antisemitischen Blätter „Angriff“, „Stürmer“ und „Völkischer Beobachter“.
Schon 1929 hatte sich der Uhrmacher Erwin Kolkmeyer der NSDAP angeschlossen, in den folgenden Jahren gehörte er zeitweise der SA und der SS an. Im Mai 1934 erklärte ihn die Partei zum Ortsgruppenleiter der Altstadt. Als solcher wurde er von Oberbürgermeister Erich Gaertner zusammen mit Kreisleiter Willi Münzer zum Beigeordneten der Stadt berufen – ohne eine Wahl, denn die galt ja seit Hitlers Machtantritt als obsolet.

Gewerkschafter durch ein Spalier aggressiver SS-Männer geschickt
Damit besaß Kolkmeyer zwar kein hohes Amt im Machtapparat der Nazis, wurde aber durch seinen Aktivismus bei den maßgeblichen Verbrechen gegen Juden, Gewerkschafter und Andersdenkende zum Gesicht des braunen Terrors in Osnabrück. Von der NS-Propaganda enthemmt, hielt ihn die Schlichtheit seines Gemüts nicht davon ab, sich größeren Geistern überlegen zu fühlen.
Beim Sturm auf das Gewerkschaftshaus am 11. März 1933 schritt er mit dem Gewehr voran und schoss drohend in die Luft. Wer sich im Gebäude aufhielt, suchte erst einmal Schutz hinter verbarrikadierten Türen oder auf dem Dachboden. Während die Nazis eine Bastion nach der anderen stürmten, erlebten Gewerkschafter, Mitarbeiter und zufällig Anwesende bange Momente. Und fragten sich, ob der wild gewordene Uhrmacher wohl auch auf sie schießen würde.

Den unbequemen Redakteur mit Schlägen durch die Stadt getrieben
Am Ende wurden sie geschubst, geschlagen und beschimpft, durch ein Spalier aggressiver SS-Männer geschickt und zu allem Überfluss auch noch von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen. Kolkmeyer und seine Truppe plünderten derweil die Büros, zertrümmerten das Mobiliar und warfen Berge von Akten aus den Fenstern.
Drei Wochen später hatte der Uhrmacher mit dem Hitlerbärtchen seinen nächsten großen Auftritt. Es war der 1. April, den die Nationalsozialisten zum Tag des „Judenboykotts“ ausgerufen hatten. Wo der Staat Willkür und Gewalt tolerierte und sogar befeuerte, bot sich für die Naziclique Gelegenheit, auch andere Rechnungen zu begleichen. Josef Burgdorf, genannt Ilex, hatte sich als Chefredakteur der SPD-Zeitung „Freie Presse“ immer wieder mit spitzer Feder über die tumben Parteigrößen im „Braunen Haus“ lustig gemacht und dabei manches peinliche Detail an die Öffentlichkeit gebracht.
Für ein „Pfui“ vier Zähne ausgeschlagen
Eine Schlägertruppe der SA holte den stadtbekannten Journalisten aus seiner Wohnung und brachte ihn ins Hauptquartier der NSDAP am Kanzlerwall (heute die Villa am Heger-Tor-Wall). Burgdorf wurde mit Schlägen und Tritten misshandelt und die Treppe hinuntergestoßen. Die Nazi-Schergen drückten ihm ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin Ilex“ in die Hand und trieben ihn durch die Stadt.
Dabei bekam der Redakteur fortlaufend Schläge an den Kopf und Tritte in die Knie, man riss an seinen Haaren und warf seinen Hut in den Dreck. Ortsgruppenführer Erwin Kolkmeyer tat sich dabei besonders hervor. Einem Passanten, der das makabre Geschehen mit einem „Pfui“-Ruf kommentiert hatte, schlug der Uhrmacher vier Zähne aus.
Von NS-Kreisleiter Willi Münzer belobigt
Am Polizeigefängnis Turnerstraße endete der Spießrutenlauf damit, dass Burgdorf für sechs Tage in „Schutzhaft“ gesteckt wurde. Der fanatisierte Uhrmacher wollte jedoch nicht von seinem Opfer ablassen. Er schlug dem Redakteur zum Abschied „mit wutverzerrtem Gesicht von vorne mit der Faust ins Gesicht“, wie Burgdorf es später in einem Gerichtsverfahren beschrieb.
Kolkmeyer fand noch viele Anlässe, um durch die Stadt zu marschieren und Hetze zu verbreiten. Mit seiner NSDAP-Ortsgruppe Altstadt setzte er sich an die Spitze von Propagandaumzügen. Mit bis zu 500 Getreuen paradierte er im Gleichschritt über die Hauptstraßen, um sich stark zu fühlen und um andere einzuschüchtern. Etwa mit der Parole: „Die Juden sind unser Unglück“.
Beim Synagogenbrand den biederen Wutbürger gemimt
Trotz dieser permanenten Aufstachelung und trotz der kompromittierenden Fotos in Kolkmeyers Schaukästen gab es weiterhin couragierte Osnabrücker, die in den Geschäften jüdischer Inhaber einkauften. Am 20. August 1935 organisierte der Ortsgruppenleiter eine Großkundgebung auf dem Ledenhof, um auch diese „abtrünnigen Volksgenossen“ mit öffentlichen Schmähungen auf Linie zu trimmen. Mehr als 25.000 Menschen nahmen daran teil. Dass es anschließend zu Übergriffen auf „jüdische“ Geschäfte kam, war gewollt. Und brachte dem Uhrmacher eine Belobigung von NS-Kreisleiter Willi Münzer ein.
Hetzen, um die öffentliche Empörung auf jüdische Einrichtungen zu lenken – dieses Muster funktionierte aber nicht immer so reibungslos, wie es sich die Nazi-Funktionäre wünschten. Dass in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 die Osnabrücker Synagoge brannte, wollten sie dem Volkszorn zuschreiben. Tatsächlich kamen die Brandstifter in Zivil. Es waren aber die sonst so uniformverliebten Gestalten aus dem „Braunen Haus“ mit Erwin Kolkmeyer an der Spitze, die sich als biedere Wutbürger gaben und zündelten.
Nach dem Krieg in einem kleinen Dorf versteckt
Die brennende Synagoge lockte eine beträchtliche Menschenmenge zur Rolandstraße, und den vielen Augenzeugen entging nicht, dass der fanatische Ortsgruppenleiter bei diesem öffentlich aufgeführten Terrorakt eine maßgebliche Rolle spielte.
Nach diesem Tabubruch kamen Kolkmeyer offensichtlich auch die letzten Reste seines Unrechtsbewusstseins abhanden. Am Tag nach dem Synagogenbrand wurde er dabei beobachtet, wie er das Bekleidungsgeschäft „Samson David“ an der Krahnstraße verwüstete. Zusammen mit mehreren SA-Männern zerschlug er Schaufensterscheiben, stürzte Regale um und warf Waren aus dem Lager auf die Straße. Zahlreiche weitere Attacken auf Juden und deren Eigentum sind aktenkundig.
Belastungszeugen massiv eingeschüchtert
Als der Krieg zu Ende ging, tauchte der Uhrmacher in Cleebronn unter, einem kleinen Dorf bei Heilbronn. Bei einer Polizeiaktion gegen Schwarzhandel wurde er dort eher zufällig festgenommen und wegen seiner NS-Vergangenheit in einem Spruchkammerverfahren zu zwei Jahren Haft verurteilt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft überstellte ihn die amerikanische Besatzungsbehörde im Mai 1948 nach Osnabrück ins Untersuchungsgefängnis.
In drei Verfahren musste sich der ehemalige Ortsgruppenleiter ab 1949 vor dem Landgericht verantworten. Es ging um den Prangermarsch mit dem Redakteur Josef Burgdorf, um die Erstürmung des Gewerkschaftshauses und um die Brandstiftung in der Synagoge. In den polizeilichen Ermittlungen hatten Dutzende Zeugen den NS-Funktionär schwer belastet, doch vor Gericht versagte bei vielen von ihnen die Erinnerung – angeblich jedenfalls. Der Staatsanwaltschaft Osnabrück liegen Hinweise vor, dass die Zeugen wohl deshalb umkippten, weil sie massiv eingeschüchtert wurden.

Sein Konterfei hing noch lange im Treppenhaus
Am Ende kam Kolkmeyer glimpflich davon. Weil er am 1. April 1933 den Redakteur „Ilex“ mit Schlägen und Tritten durch die Stadt getrieben hatte, verurteilte ihn das Landgericht wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Die anderen Straftaten ließ die überforderte Justiz hingegen ungesühnt.
Auch im Entnazifizierungsverfahren wurde gnädig mit dem Judenhasser umgegangen. Am Ende stand die Einstufung in die Kategorie III als „Minderbelasteter“. Eine leitende Funktion in seinem 1950 wiedereröffneten Uhrmachergeschäft war Kolkmeyer damit allerdings untersagt, und so wurde seine Ehefrau Leni zur Chefin erklärt. Bis zu seinem Tod im Jahr 1961 fungierte der Gatte als angestellte Hilfskraft.
Am Ende doch noch eine Distanzierung
Sein Konterfei mit dem Hitlerbärtchen zierte allerdings noch jahrzehntelang das Treppenhaus – unübersehbar für alle, die ihre Uhr zur Reparatur in die Werkstatt brachten. Ein Wort des Bedauerns, eine Distanzierung? Lange wurde geschwiegen. Aber inzwischen, nach einem weiteren Generationswechsel, bekennt sich Geschäftsführer Dirk Kolkmeyer zur Vergangenheit des Uhrenhauses.
Als aktiver Nationalsozialist habe sein Großvater Erwin „das Unternehmen zur Diffamierung und Verfolgung von jüdischen Mitbürgern und deren Unterstützern“ genutzt, vermerkt der Enkel auf der Internetseite des Unternehmens. Von der Familie werde dieses Unrecht missbilligt.
















