Rolf Wortmann zu Putins „Teilmobilisierung“

Putin eskaliert aus Schwäche und wird dadurch bedrohlicher

Putins „Teilmobilisierung“ ist zwar ein Eingeständnis des Scheiterns, aber deshalb nicht weniger gefährlich. Gemäß der Volksweisheit, dass nirgends mehr gelogen wird, als vor der Wahl, nach der Jagd und während eines Krieges war man gut beraten, den Verlautbarungen der Kriegsparteien wie den mehr oder weniger beteiligten Beobachtern von außen zu misstrauen. Mit Putins „Teilmobilmachung“, also die Aktivierung weiterer Teile der Streitkräfte, die 300.000 Reservisten betrifft, die in seiner fünfzehnminütigen Fernsehansprache ans Volk vorsichtshalber genauer qualifiziert werden, erfolgt das öffentliche Eingeständnis, dass die bisherige „militärische Spezialoperation“ gescheitert ist.

Was immer deren definitives Ziel gewesen sein mag, fest steht, dass weder das „neonazistische Regime, das 2014 durch einen bewaffneten Putsch die Macht in der Ukraine ergriffen“ habe – so Putins in seiner Fernsehansprache – gestürzt noch die gesamte Ukraine von den Vasallen des Westens befreit werden konnte. Ob sanktionsbedingter Mangel an Kriegsmaterial oder horrende Verluste an Soldaten (die Verlustzahlen schwanken zwischen 6.000 und 80.000) oder beides der Grund für Putins Schritt sind, der von westlichen Beobachtern schon im Mai am „Tag des Sieges“ erwartet wurde, bleibt im Dunkeln.

Die Teilmobilisierung ist eingebettet in eine weitere politische Eskalationsstrategie. In den „selbständigen Volksrepubliken des Donbass“ werden Referenden zu einem Beitritt zur Russischen Föderation abgehalten. Das Perfide an dieser Aktion ist, dass die Teilmobilisierung die Vorbereitung auf einen faktischen Kriegszustand unter veränderten Vorzeichen ist. Operierten bislang russische Verbände völkerrechtswidrig auf ukrainischem Territorium, so verkehrt sich mit der Eingliederung der „Volksrepubliken“ per Beschluss der Duma als Teil Russlands die Situation. Fortan sind für Russland dann Kiews „Rückeroberungen“ unmittelbare Angriffe auf russisches Territorium, damit wird aus Putins Sicht die Ukraine zum Angreifer und man befindet sich faktisch im Kriegszustand. Damit gelten für das Gebiet auch die Einsatzregeln für Atomwaffen.

In Putins Rede spielt der nun folgende „Verteidigungskrieg“ die entscheidende Rolle für die Notwendigkeit der Teilmobilisierung. Es geht nun um den „Schutz der Souveränität, der Sicherheit und der territorialen Integrität Russlands, um die Unterstützung des Wunsches und des Willens unserer Landsleute, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, und um die aggressive Politik einiger westlicher Eliten, die mit allen Mitteln versuchen, (…) jegliche souveränen, unabhängigen Zentren der Entwicklung zu blockieren und zu unterdrücken, um auch weiterhin anderen Ländern und Völkern ihren Willen grob aufzuzwingen und ihre Pseudo-Werte einzupflanzen.“

Was sich hier wie ein Aufruf einer globalen Volksbefreiungsarmee gegen den westlichen – amerikanischen Imperialismus anhört, konkretisiert sich dann zum Verteidigungsakt gegen die vom Westen entwickelte „totale Russophobie“. Das Ziel des Westens sei die Spaltung und Zerstörung Russlands, die Vollendung dessen, was mit der Spaltung der Sowjetunion 1991 begann. Dazu nutze der Westen auch das Mittel der atomaren Erpressung, Beweis dafür ist der angebliche Beschuss von Atomanlagen durch die Ukraine. Putin hält diesem „Atomterror“ die bekannte Drohung entgegen, dass Russland seine (neue und erweiterte) territoriale Integrität mit allen zur Verfügung stehenden modernen auch atomaren Waffen verteidigen wird. Man werde denen, die „nach der Weltherrschaft streben, die damit drohen, unser Vaterland, unser Heimatland zu zerstückeln und zu versklaven“ mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentreten. Dem Verweis auf Atomwaffen folgt die Feststellung: „Dies ist kein Bluff.“

Daraus den entspannten Schluss zu ziehen, genau deshalb sei es auch einer, wie etliche westliche Strategen beruhigend verkünden, unterstellt jenem Putin allerdings eine Rationalität, die ihm ansonsten nicht mehr zugebilligt wird. Bluff hin oder her, fest steht, künftig werden die militärischen Konflikt mit Russland intensiver und riskanter.

Ob der Kreml mit seinem plumpen Rollentausch vom Aggressor zum Verteidiger seiner territorialen Integrität durch die Einverleibung der „Volksrepubliken“ seine internationale Reputation aufbessert, bleibt abzuwarten. Aufschlussreich ist aber, dass von einer eigentlich noch zu erreichenden Befreiung der Ukraine von den „nazistischen Banden an der Macht“ unmittelbar nicht mehr die Rede ist, sondern ins Zentrum rückt die Verteidigung eines (erweiterten) Russlands gegen einen „kollektiven Westen“ unter amerikanischer Führung bzw. Knute.

Geht man davon aus, dass Putins Teilmobilisierung Ausdruck einer militärischen Schwäche ist, dann zeichnet sich für die russische Führung zugleich ab, dass die Ukraine kein Objekt ist, das kampflos in seinen alten Zustand zurückgeführt werden kann. Das Minimum dürfte wohl sein, dass ein Verlust der Ukraine an den Westen ohne erhebliche Beeinträchtigungen eines Wiederaufbaus unter normalen Bedingungen nicht hingenommen wird. Putins Russland wird alles daran setzen, dass es für die Ukraine und damit für den Westen in dieser Sphäre keine Normalität mehr geben wird.

Putins zunehmenden Risiken zeichnen sich aber ebenfalls ab. Wann, wie und ob die Sanktionen auf das politische Handeln disziplinierend wirken, ist derzeit nicht absehbar. Erkennbar ist, dass in seiner „Einflusszone“ die Ordnungsmacht Russland die Kontrolle verliert. Es gibt Streitigkeiten nicht nur zwischen Armenien und Aserbeidschan und in der gesamten Kaukasusregion mehren sich Anzeichen, dass die sich im Windschatten des Ukrainekrieges zu entfalten drohen.

Das neueste und wohl größte Risiko droht überraschend im eigenen Haus. Die Teilmobilisierung rückt den Krieg näher ans Volk. Eltern sorgen sich um die Kinder als mögliches Kanonenfutter und die Jugendlichen sehen nicht vorbehaltlos ihre Zukunft als militärische Freiheitskämpfer für ein autoritäres Russland. Allen staatlichen Repressionen zum Trotz begibt sich Putin innenpolitisch mit seiner Kriegseskalation auf dünneres Eis.

Ob sich daraus eine innere Opposition entwickelt, die das Land in eine andere Richtung führt, ist zwar wünschenswert, aber leider auch nicht wahrscheinlich. Möglich aber ist, dass es verstärkten Widerstand in Russland gibt. Und da darin die einzige politisch nachhaltige Hoffnung für eine friedliche Zukunft mit Russland besteht, wären die Staaten im Osten Europas gut beraten, ihren Kurs der Kollektivhaftung aller Russen für den Krieg durch repressive Einreisebedingungen für russische Staatsbürger zu revidieren. In Gegenteil, es ist und wird das Gebot der Stunde, die Kontakte zu jenem Russland zu suchen, das bisher schwieg, denn den Heldentod fürs Vaterland werden sich nicht alle Russen sehnlichst wünschen.

Anmerkung: Alle Zitate sind aus Putins Fernsehansprache am 21. September 2022, die auszugsweise in der Frankfurter Rundschau vom 22. September 2022, S. 3 veröffentlicht wurde.

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