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Freitag, 26. Dezember 2025

Als ich zur Hitler-Jugend kam

Erinnerungen einer Zeitzeugin
Von Christel Schulze, Jahrgang 1927

Als ich keine sechs Jahre alt war, kam Hitler an die Macht. Weil ich noch ziemlich klein war und noch nicht zur Schule ging, kann ich mich an die Zeit davor kaum wirklich erinnern. Gut erinnern kann ich mich aber, dass die Nationalsozialisten schon seit meiner Einschulung in die Schinkeler Lutherschule einen großen Einfluss auf den Schulunterricht besaßen.

Schrieb ihre Erinnerungen persönlich auf: die Autorin Christel Schulze (98)
Schrieb ihre Erinnerungen persönlich auf: die Autorin Christel Schulze (98)

Wenn ein Lehrer oder die Lehrerin die Klasse betrat, standen wir auf und riefen „Heil Hitler!“ Die Lehrperson erwiderte den Gruß und befahl „Setzen!“. Eine Ausnahme bildete nur meine erste Lehrerin, Fräulein Seegers an der Lutherschule. Die Lehrerinnen und Lehrer der Backhaus-Mittelschule erzählten aber im Unterricht nur Gutes über Adolf Hitler, dessen Foto mit dem merkwürdigen Nasenbart hoch im Klassenzimmer hing. Mit seinen stechenden Augen schien er irgendwie auf uns alle herabzuschauen.

Unser Jahrgang 1934 auf der Lutherschule, nahe dem Fußballplatz an der Bremer Brücke. Unsere Lehrerin, Frau Seegers, zählte zu den seltenen Lehrpersonen, die ich nie habe "Heil Hitler" sagen hörte. Foto: Archiv Heiko Schulze
Unser Mädchen-Jahrgang 1934 auf der Lutherschule, nahe dem Fußballplatz an der Bremer Brücke. Unsere Lehrerin, Fräulein Seegers, zählte zu den seltenen Lehrpersonen, die ich nie habe „Heil Hitler“ sagen hörte. Die Autorin steht in der zweiten Reihe, vierte von rechts. Foto: Archiv Heiko Schulze

Dass wir selbst beim Einkaufen, beispielsweise im Tante-Emma-Laden von Frau Müller, zwei Häuser weiter, bei Fräulein Lisbeth im Schlachtergeschäft Essen oder in der Bäckerei Brackmann in unmittelbarer Nähe schon beim Hereinkommen „Heil Hitler!“ riefen, passierte im Laufe der Jahre fast schon automatisch.

Meine Eltern waren immer sozialdemokratisch gewesen und damit klar gegen die Nationalsozialisten eingestellt. Mutti war Hausfrau. Vati war Hornist im Orchester des Osnabrücker Theaters. Wohl auch wegen der distanzierten Einstellung meiner Eltern bekam ich vom Geschehen in Deutschland nicht viel mit. Oft hat man gemerkt, dass meine Eltern, Verwandte und auch Freunde immer sehr vorsichtig mit Bemerkungen blieben, sobald wir als Kinder dazukamen. Verhindern wollten alle, dass Kinder unbedacht irgendetwas weiter erzählten und ihre Eltern dadurch in Gefahr gerieten.

Als ich zehn Jahre alt war, bekam ich mit, dass die NSDAP, deren SA-Männer ja immer überall mit ihren braunen Uniformen zu sehen waren und deren lauten Märsche und vollmundigen Reden man viel im Radio hörte, in Osnabrück sogenannte Ortsgruppen besaßen. Im Adressbuch von 1937 ist nachzulesen, dass es damals in den Stadtteilen zwölf dieser Zusammenschlüsse gab. Diese Ortsgruppen bekamen nach der Machtergreifung Ende Januar 1933 eine wichtige neue Aufgabe: Sie hatten neben anderen festen Pflichten auch neue Mitglieder für die Hitlerjugend zu gewinnen.


Besuch vom Blockwart

Weil ich gemeinsam mit Vati und Mutti in der Alten Poststraße wohnte, war für uns automatisch die NSDAP-Ortsgruppe Schinkel-Nord zuständig. Ortsgruppenleiter war, das ist noch heute im Adressbuch von 1937 nachzulesen, ein gewisser Karl Neumann, wohnhaft in der Weißenburger Straße 22. Für die einzelnen Straßenzüge waren unter Neumanns Führerschaft Untergebene zuständig, die „Blockwarte“ hießen. Unser Blockwart trug den Namen Emil Viertel und wohnte zwei Häuser weiter, in der Alten Poststraße 21. Nie vergessen werde ich, dass er uns manchmal sogar an einem Sonntag belästigte, um in unsere Töpfe auf dem Herd zu schauen. Denn die Nazis hatten angeordnet, dass „Gute Deutsche“ auch mal aufs sonntägliche Fleisch verzichten müssten. Dafür sollte es den „Eintopfsonntag“, zumeist mit Erbsensuppe, geben. Das eingesparte Geld sollte an die Volkswohlfahrt der NSDAP gespendet werden.

Zu den Aufgaben der Blockwarte zählte aber auch, wie beschrieben, das Werben neuer Mitglieder für die Hitlerjugend. Spätestens ab 1936 war es für alle Mädchen, die als „arisch“ galten, sogar vom Gesetz her Pflicht, zur Jugend des „Führers“ zu zählen.

Dass allein „arische“ Jungen und Mädchen aufgenommen wurden, war zuvor mit einem „Ahnenpass“ verbunden, den alle Familien mühsam zusammenstellen mussten. Meine Eltern hatten vorher viele Schreiben an Kirchengemeinden zu schicken, damit sie den Nazibehörden durch eine „Ahnentafel“ beweisen konnten, dass wir schon viele Generationen lang „arische“ und keine „jüdischen“ Vorfahren besaßen. Meine Mitglieschaft in der Hitler-Jugend war damit eingeleitet.

Im Alter von zehn Jahren sollte auch ich nun mitmachen. Blockwart Emil Viertel kam darum eines Tages unangemeldet um 11 Uhr morgens, um sich, wie er sagte, zunächst „näher bekannt zu machen.“ Wir hatten ihn zuvor nur flüchtig aus der Nachbarschaft wahrgenommen. Danach suchte Viertels viel jüngere Nichte meine Mutter zu Hause auf, um bei ihr dafür zu werben, dass ich doch einmal zum „Jungmädel-Treffen“ an einem Mittwochnachmittag kommen sollte. Da, sagte sie, wäre es sehr schön in der Gemeinschaft gleichaltriger Mädchen.

Als ich aus der Schule kam und mir meine Mutter davon berichtete, war ich nicht erstaunt – und auch gar nicht abgeneigt, zum zu den „Jungmädeln“ zu gehen. Meine Freundin, die Maria hieß und die alle Micki nannten, hatte mir schon vorher vorgeschlagen, „aus Neugier“ mal mit ihr zusammen zum „Jungmädel-Treffen“ zu gehen. Ich eilte also mit ihr dorthin, blieb dabei – und kannte danach schnell die Abläufe, die uns da erwarteten.

Spielgemeinschaft von Mädchen im Garten des Hauses Hagedorn, Alte Poststraße 17. Vierte von links ist die Autorin dieses Beitrags in jenem Jahr 1936, als BDM-Dienst für alle Abgebildeten Gesetzeskraft erlangte. Foto: Privatarchiv Heiko Schulze
Spielgemeinschaft von Mädchen im Garten des Hauses Hagedorn, Alte Poststraße 17. Vierte von links ist die Autorin dieses Beitrags in jenem Jahr 1936, als BDM-Dienst für alle Abgebildeten Gesetzeskraft erlangte. Foto: Privatarchiv Heiko Schulze

Erlebter BDM-Alltag: „Schulung“, Sport, Stricken und Basteln

Vor dem beliebten „Sport“ wurde an jedem Mittwoch zunächst die „Schulung“ angeboten. Diese bestand aus dem Vortrag sogenannter „politischer Berichte“ aus der vergangenen Woche. Jene Berichte waren zuvor von einer Gruppenleiterin, die dafür verantwortlich war, „verständlich“, also kindgerecht aus Zeitungsberichten zusammengestellt worden. Wir saßen dazu in einem Klassenraum der Backhaus-Mittelschule in der Hackländerstraße.

Vorgelesen wurde uns da aus Tageszeitungen, aber auch aus dem „Stürmer“. Wir erfuhren, wie angeblich siegreich und heldenhaft „unsere Wehrmacht“ mal wieder irgendwo „gegen den Feind“ gekämpft hat. Naziführer wie Hitler, Goebbels, Ribbentrop und Göring wurden in den Himmel gelobt. Zudem wurden wir immer wieder beispielhaft davon überzeugt, dass „die Juden unser Unglück“ bedeuten würden und für das Allerschlimmste in der Welt verantwortlich seien.

Danach freuten wir uns alle umso mehr auf den „Sport“. Da spielten wir meistens „Völkerball“ auf dem Schulhof, bei dem es darum ging, Spielerinnen der gegnerischen Mannschaft mit dem Ball „abzuwerfen“.  Wer alle Spielerinnen der anderen Mannschaft „getroffen“ hatte, hatte gewonnen.

In der Backhaus-Mittelschule fanden aber auch die Treffen am Samstag statt. Morgens war damals für alle noch Schulunterricht. Am Nachmittag standen Häkeln, Stricken und Basteln auf dem Programm. Das machte allen viel Spaß. Beim Häkeln und Stricken produzierten wir Schals, Mützen, Fäustlinge und „fingerlose“ Handschuhe. Beim Basteln entstanden aus alten Kartons schöne bunte Puppenstuben. Fenster wurden daraus sorgfältig ausgeschnitten, die Innenwände wurden tapeziert. Puppenmöbel wurden aus Streichholzschachteln gefertigt, beklebt und angepinselt. All unsere Produkte durften nicht behalten werden. Sie wurden stattdessen eingesammelt und, was wir aber sehr gut fanden, an bedürftige Familien verschenkt.

Zu diesem Zweck wurden die gesammelten Kleidungsstücke und Bastelsachen zunächst dem „Bann“, der seinen Sitz in der Katharinenstraße hatte, übergeben. Dort wiederum nahm ein „Bann-Führer“ oder eine „Bann-Führerin“ alles in Empfang.

Zu den Treffen der Jungmädel – und später zum BDM – zu kommen, war auf keinen Fall freiwillig. Wie die Schule galt die Teilnahme als Pflicht. Wer dieser Pflicht nicht nachkam, bekam das heftig zu spüren. Wer zweimal nicht zum „Dienst“ erschienen war, erhielt einen schriftlichen „Befehl“ ins Haus geschickt. Darin stand, soweit ich mich erinnere, dies: „Wir erwarten Dich zum nächsten Jungmädel-Treffen. Eine Entschuldigung wird nur durch einen Krankheitsbeleg akzeptiert.“


Der Schritt zur Uniform

Irgendwann war es so weit: Bevor wir das, was wir inzwischen „Dienst“ nannten, antraten, hatten wir uns eine Uniform zuzulegen. Zuvor hatten die Eltern den offiziellen „Bescheid“ bekommen, „die aufgelisteten Sachen zum Kauf einer Uniform für Ihre Tochter“ zu besorgen. Meine Mutter und mein Vater waren ohnehin nicht damit einverstanden, dass ich zum „Dienst“ ging. Jetzt waren sie natürlich überhaupt nicht begeistert davon, dass ihre Tochter zukünftig uniformiert „zum Dienst“ ging. Aber beide fügten sich. Sie taten dies auch, weil ich mir das als Tochter sehr wünschte. Schließlich, so fand ich, drückt eine gemeinsame Uniform auch Gemeinschaftsgeist und Stolz aus. Und so etwas fanden wir als Jungmädel ja alle schön.

Vater und Mutter kauften daraufhin eine Jacke, die man „Kletterweste“ nannte. Diese Weste bestand aus einem dicken, braunen Samttuch, das ähnlich wie Leder wirkte. Die braunen Knöpfe waren aus Metall gefertigt. Dazu kamen zwei weiße Blusen zum Wechseln mit kurzen Ärmeln. Auf dem rechten Ärmel trug ich ein Dreieck mit der geografischen Zugehörigkeit „Nord Nordsee“. Außerdem trugen wir einen dunklen Rock – und im Sommer weiße Kniestrümpfe, im Winter Wollstrümpfe.

Sobald man ein volles Jahr im „Jungmädel-Dienst“ gewesen war, wurde man „verpflichtet“. Das galt für uns als große Ehre. In einer festlich anberaumten Feierstunde bekamen wir per Handschlag „Schlips und Knoten“ überreicht. Es handelte sich dabei um einen schwarzen Schlips und einen braunen Lederknoten. Der Schlips wurde vorne durch den Knoten gezogen. Sobald all dies passiert war, galten wir als „verpflichtet“.

Bei den Jungen war vieles ähnlich. Der große Unterschied war, dass diese mehr Wert auf Marschieren, Kampf- und Geländespielen legten. Mehr als bei uns, stand bei den Jungen Drill, Disziplin, Härte im Nehmen, Unterdrückung Schwacher und zackiges Auftreten im Vordergrund. „Soldatspielen“ stand für Hitlerjungen wie für ihre Ausbilder besonders hoch im Kurs. Dass aus solchen Spielen später grausames Kriegsgeschehen mit unzähligen Opfern unter ehemaligen HJ-Angehörigen wurde, ahnten wir zu keiner Minute.

Männliche Hitlerjugend 1936 auf dem Neumarkt, damals "Adolf-Hitler-Platz". Foto: Stadt Osnabrück, Emil Harms
Männliche Hitlerjugend 1936 auf dem Neumarkt, damals „Adolf-Hitler-Platz“. Foto: Stadt Osnabrück, Emil Harms

Wir Mädchen waren, weit weniger militärisch, in einer „Jungmädel-Gruppe“ zusammengefasst. Diese wiederum unterteilte sich in zwei „Scharen“, die jeweils eine „Schar-Führerin“ besaßen. Jeder Schar unterstanden wiederum zwei „Schaftführerinnen“.

Eine „Ringführerin“ war für jeweils zwei Ortsgruppen zuständig. Man konnte also „Karriere“ machen und hatte danach anderen „etwas zu sagen“ oder, besser gesagt, zu befehlen. Viele erfüllte das mit großem Stolz. Noch stolzer waren wir, sobald wir mit 14 Jahren zum Bund Deutscher Mädel (BDM) zählten.

Wie in der Kirche auch für Hitler gebetet wurde

Wie verhielt sich die „Partei“ zur Kirche und die Kirche zur Partei? Ich lernte es, als ich 1938 zum Vorkonfirmanden- und ein Jahr zum Konfirmanden-Unterricht gehen musste. Ich ging zur evangelisch-reformierten Friedenskirche in der Klöntrupstraße. Unser Pastor hieß Löpmann. Dieser sagte jedes Mal nach dem gemeinsamen Gebet: „Gott beschütze unseren Führer und alle seine Ratgeber!“


Nach der Schulzeit: „Pflichtjahr“ und „Arbeitsdienst“

Der so beschriebene „Dienst“ endete mit der Schulzeit. Bei mir persönlich fiel dies mit den letzten Kriegsjahren zusammen. Es begann für alle das „Pflichtjahr“, was uns auf die künftige, uns von den Nazis zugedachte Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollte. Ich selbst absolvierte mein „Pflichtjahr“ bei einer Familie mit vier Kindern.

War das genannte Jahr vorbei, bildete der „Arbeitsdienst“ die nächste Station. Dafür musste man allerdings unter ärztlicher Aufsicht gemustert werden. Es war mein großes persönliches Glück, dass bei mir ein „Schatten auf der Lunge“ festgestellt, ich als „untauglich“ eingestuft und für ein halbes Jahr zurückgestellt wurde. Nach diesem halben Jahr sollte der Krieg zu Ende sein.

Ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das ich gut kannte, galt im Gegensatz zu mir als „tauglich“. Sie musste zur Front in Richtung Osten einrücken und wurde mit dem Zug dorthin gebracht. Ich traf sie erst im Jahre 1951, sechs Jahre nach Kriegsende, wieder. Ich hatte sie kaum wiedererkannt. Sie war, wie sie mir erzählte, zum – für uns alle vorgesehenen – Standort Marienburg in Ostpreußen befohlen worden. Dort wiederum war sie mitten ins Frontgeschehen geraten und musste viele Jahre in russischer Gefangenschaft erleben. Ich werde nie vergessen, wie krank und gealtert meine frühere Nachbarin auf mich wirkte. Furchtbare Schrecken, die sie offenkundig erlebt hatte, waren zu erahnen und äußerlich sehr deutlich an ihr zu erkennen.


Späte Klarheit

Was in der Zeit des Nationalsozialismus mit uns jungen Menschen gemacht worden war, konnte ich erst nach dem Krieg wirklich erkennen. Kommenden Generationen kann ich nur raten, zu jeder Zeit wachsam zu sein, um nie wieder Rechte an der Macht, eine menschenverachtende Diktatur und einen dermaßen brutalen Krieg zu erleben. Die Angst um Väter, Freunde und Verwandte an der Front werde ich genauso in furchtbarer Erinnerung behalten wie die schrecklichen Bombennächte und das Verbrennen der familiären Wohnung mit dem Verlust aller Dinge, die uns lieb und teuer waren. Man hat uns um viele Jahre unserer Jugend betrogen. Das darf nie wieder geschehen.

Wie die Autorin die Nachkriegszeit erlebte, ist hier nachzulesen.

 

 

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