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Samstag, 4. Oktober 2025

ARD-Film „Calmeyers Dilemma“: Vorabaufführung in der Volkshochschule

Juden retten im Schatten der Nazis?

Am letzten Montag sollte das interessierte Fernsehpublikum ab 23:35 Uhr die Fernbedienungstaste unbedingt auf die 1 drücken: „Calmeyers Dilemma“ lautet der Titel einer aktuellen NDR-Produktion. Bevor der Film von Lutz Hachmeister und Hajo Schomerus über die Mattscheibe flimmert, durften Interessierte das Werk bereits am vergangenen Montag im prall besetzten Veranstaltungssaal der Volkshochschule sehen.

Nach Ausstrahlung des 45-Minuten-Streifens gab es einen Podiums-Austausch zwischen Hajo Schomerus und Dr. Mathias Middelberg, der die Verfilmung, wie betont wurde, initiiert hatte.

Der Osnabrücker Rechtsanwalt Hans Calmeyer, von 1941 bis 1945 "Rassereferent" in der deutschen Besatzungsverwaltung. Bild: © NDR/Nieders.Landesarchiv/Hajo Schomerus
Der Osnabrücker Rechtsanwalt Hans Calmeyer, von 1941 bis 1945 „Rassereferent“ in der deutschen Besatzungsverwaltung. Bild: © NDR/Nieders.Landesarchiv/Hajo Schomerus

Die klassischen Abläufe des Films waren gut gespickt mit Verweisen auf das Kriegs- und Reichsgeschehen. Klar wurde einmal mehr: Hans Georg Calmeyer (1903-1972), ein deutscher Jurist aus Osnabrück, der während des Zweiten Weltkrieges als „Rassereferent“ der nationalsozialistischen Verwaltung in Den Haag über Leben und Tod von Tausenden Menschen entschied, bestimmt unverändert zahlreiche Debatten der historischen Nachbetrachtung. Auch die aktuelle Dokumentation beleuchtet die besonders heikle Frage: Hat Calmeyer niederländische Juden aktiv gerettet? Oder hat er lediglich Menschen vor der Verfolgung verschont? War er „Schindler oder Schwindler“? Oder liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen Heroisierung und Verbannung? Ein Osnabrücker Symposium konnte bereits in der jüngsten Vergangenheit viele neue Aspekte liefern.


Komplexer moralischer Konflikt

Auch im Hachmeister- und Schumerus-Film wird deutlich: Calmeyers Geschichte steht für einen der komplexesten moralischen Konflikte des 20. Jahrhunderts. Als Beamter einer nationalsozialistischen Verwaltung, die Menschen nach rassistischen Kategorien der NS-Ideologie klassifizierte, akzeptierte er bewusst gefälschte Anträge zu Abstammungsnachweisen. Durch diese Form des stillen Widerstands bewahrte er nachweislich Tausende niederländischer Juden vor der Deportation ins Konzentrationslager. Gleichzeitig überließ er aber umgekehrt andere Menschen der NS-Judenverfolgung. Diese Ambivalenz während der deutschen Besatzung der Niederlande wirft fundamentale Fragen über Widerstand und Kollaboration auf: Kann man Teil eines verbrecherischen NS-Systems sein und trotzdem moralisch handeln? Was unterscheidet aktives Retten von passivem Verschonen in der Zeit des Nationalsozialismus? Und vor allem: Legitimiert Calmeyers Handeln seine Bewertung als Akteur, der aktiven Menschen des Widerstandes gleichzustellen ist?


Harte Kontroverse in der Geschichtsforschung

Die NDR-Produktion zeichnet die internationalen wie Osnabrücker Stationen der Calmeyer-Rezeption ausgiebig und auch anschaulich nach: 1972 verlieh die Internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Hans Georg Calmeyer den Titel „Gerechter unter den Völkern“.

Bild: © NDR/Nieders.Landesarchiv/Hajo Schomerus
Bild: © NDR/Nieders.Landesarchiv/Hajo Schomerus

Doch sein Wirken bleibt heftig umstritten. Während manche Historiker*innen ihn als „Schindler von Osnabrück“ quasi zum Heroen erklären, betrachten Kritiker ihn primär als Funktionär der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Kontrahent*innen kommen im Film mit ihren jeweiligen Sichtweisen zu Wort. Die Pro-Seite ist mit der Zeitzeugin Laureen Nussbaum bis hin zu Mathias Middelberg besetzt. Vehement dagegen halten der Philosoph Jan van Ophuijsen oder die Historikerin und Publizistin Els van Diggele. Filmisch zu Wort kommen die Autorin der wohl ausgiebigsten Calmeyer-Abhandlung, Petra van den Boomgaard, wie auch Jaap van Proosdij (1921-2011), der als ehemaliges Mitglied des Calmeyer-Stabs auch sehr kritische Worte zu seinem früheren Chef fand.


Calmeyer-Haus oder Villa für Zeitgeschichte und Erinnerungskultur?

Gegen Filmende kam auch die heftige Osnabrücker Debatte zur Sprache, ob man die vormalige Villa Schlikker, dem NSDAP-Hauptquartier bis 1945, in „Hans-Calmeyer-Haus“ umbenennen sollte. Wir erinnern uns: Namhafte niederländische Wissenschaftler*innen wie Jan van Ophuijsen hatten sich – wie der Osnabrücker ILEX-Kreis – heftig gegen den Namen Calmeyer als Hausbezeichnung gewehrt.

Ein Brief niederländischer Kritiker*innen an die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die vorgeschlagene Benennung war ein besonders spektakulärer Grund für die – am Ende mehrheitliche – Ablehnung der Benennung im Osnabrücker Stadtrat. Die CDU-Fraktion war mit ihrem Ja zu einem Calmeyer-Haus am Ende restlos isoliert.

Nach dem bereits aufgeführten und in der OR besprochenen Film von Reiner Wolf erzählt auch der NDR-Film biografisch und exemplarisch die Geschichte Calmeyers während der deutschen Besetzung der Niederlande nach. Er basiert unter anderem auch auf neu erschlossenem Archivmaterial aus den Niederlanden der 1930er- und 1940er-Jahre sowie dem persönlichen Nachlass Calmeyers. Interviews mit letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung ergänzen die historischen Quellen. Besonders eindrucksvoll sind farbige Eingangsaufnahmen vom friedlichen Leben in den Niederlanden vor dem Wehrmachtsüberfall von 1940.


Bedeutung für das Heute: Lehren aus der NS-Zeit 

In der von Kathrin Kampmann souverän geleiteten Podiumsdiskussion, in der Middelberg – neben Regisseur Hajo Schomerus – die Gelegenheit bekam, ausgiebig auf seine Forschungen wie auch Wertungen einzugehen, bestimmten am Ende Gegenwartsfragen die Diskussion. Auch das Plenum war hierbei mit Fragen beteiligt.

In der NDR-Filmbetrachtung heißt es zu jenem Gegenwartsbezug wörtlich: „In Zeiten erstarkender autoritärer Systeme gewinnt Calmeyers Geschichte neue Aktualität. Der Dokumentarfilm stellt die unbequeme Frage nach individuellen Handlungsspielräumen während des Nationalsozialismus: Was waren die Möglichkeiten des Einzelnen in der nationalsozialistischen Gesellschaft? Und welche Lehren lassen sich daraus für den Umgang mit heutigen autoritären Tendenzen ziehen? Calmeyers Dilemma“ bietet keine einfachen Antworten auf komplexe moralische Fragen der NS-Geschichte, sondern lädt zur Selbstreflexion ein: Wie hätte ich während der Judenverfolgung gehandelt? Und wie handele ich heute angesichts von Ungerechtigkeit und Unterdrückung?“

Zumal auch die interaktiv gehaltene Ausstellung in der Villa des Museumsquartiers facettenreiche Gelegenheiten bieten, Calmeyers Rolle in den besetzten Niederlanden kontrovers zu debattieren, bedeutet die NDR-Produktion eine wichtige Zwischenstation. Vor allem bietet sie die Chance, das Thema verstärkt auch überregional wahrzunehmen und die lokale Debatte durch neue Forschungsergebnisse zu erweitern.

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