Die Vorgeschichte Israels in Palästina – Teil 2

Teil 2
der dritte Teil folgt morgen – hier geht es zum 1. Teil

Die Geburt des Zionismus

Auf die veränderte Lage der Juden in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts, den Erfolgen und Folgen der Emanzipation, aber auch der Spaltung des Judentums und den neuen Herausforderungen und Bedrohungen durch den neu aufkommenden, aber veränderten Antisemitismus und den Gefährdungen jüdischer Existenz im heraufkommenden Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus brauchte die jüdische Community neue Antworten.

Eine der zukunftsweisenden Antworten auf die neue Situation erfolgte von einer Bewegung, die unter dem Namen „Zionisten“ Karriere machte. Zion ist der Name für die Anhöhe des Tempelbergs in Jerusalem auf dem früher der Tempel stand und später die Davidstadt. Seit dem Babylonischen Exil nach der ersten Tempelzerstörung 586 v.u.Z. ist Zion die Chiffre für die Hoffnung auf die Vereinigung des Volkes Israel in seiner ursprünglichen Heimat. Eine solche neue Heimat auf uraltem Grund wurde zur politischen Idee dieser Bewegung, die eine Vielzahl unterschiedlicher Vorstellungen und Interessen zu vereinigen hatte. Jude zu sein, war zwar eine Voraussetzung, aber die Frage war nun mehr und mehr, was das nun hieß und welche Motive zum Aufbruch zu neuen Ufern mit welchen politischen Zielen einhergingen.

Die Idee, dass die Diasporajuden im Zeitalter der Nationalstaaten und des Nationalismus einen eigenen Staat bräuchten, um überleben zu können, entwickelte zuerst Moses Hess (1812 – 1875) in seinem Buch Rom und Jerusalem (1862). Im Zentrum stand bei ihm der Gedanke, dass es eine Rückkehr nach „Jerusalem“ geben müsse, ohne auf den Messias zu warten. Doch die Resonanz war in jüdischen Kreisen sehr gering. Der in Wien geborene und lebende Journalist Theodor Herzl (1860 – 1904) war dagegen mit seinem 1896 publizierten Buch Der Judenstaat wesentlich erfolgreicher. Herzl entwickelte seine Idee unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre in Frankreich. Wenn schon in jenem Land, das Vorreiter der Judenemanzipation gewesen war, solch ein massenhaft aufkeimender Judenhass sich freie Bahn verschaffen konnte, dann war das mehr als ein Alarmzeichen. Für Herzl war damit klar, dass der Glaube an eine Gleichberechtigung der Juden selbst in einer demokratischen Republik wie Frankreich eine Fiktion sein könnte. Freiheit und Sicherheit konnte es für das jüdische Volk nur geben, wenn es ausgestattet mit einem souveränen Nationalstaat auf sicherem Terrain sein Dasein selber gestalten konnte.

Die Unausrottbarkeit des Antisemitismus und das Scheitern der Assimilation waren für Herzl die negativen Erfahrungen von denen er ausging. Der Antisemitismus erschien ihm sogar als „eine Folge der Judenemanzipation.“ Sein Projekt eines eigenen Judenstaates enthielt einige wegweisende, aber keinesfalls unumstrittene Eckpfeiler. Die „Judenfrage“ hielt er weder für eine „soziale noch religiöse“, sondern für eine rein „nationale Frage.“ Die Juden, so sein Credo, seien ein Volk und würde durch den Feind auch gegen seinen Willen dazu gemacht. Herzl schwebte ein weltlicher Staat mit einer modernen liberalen Verfassung vor, auf keinen Fall wollte er eine Theokratie. Es sollte ein Staat als sichere Zufluchtsstätte für alle Juden sein, nicht für eine hermetische Religionsgemeinschaft. Die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Einwanderer mit ihren unterschiedlichen Herkünften sollte erhalten bleiben. Auf keinen Fall wollte er hebräisch zur neuen Gesamtsprache erheben. Die Schweiz diente ihm als Vorbild, wobei er im neuen Judenstaat wegen der Mehrheitsverhältnisse deutsch als Hauptsprache annahm.

Kritik erfuhr Herzl von Achad Ha’am, der aus Odessa stammend für einen kulturellen Zionismus eintrat. Er lehnte zwar ebenfalls eine Theokratie ab, plädierte aber für hebräisch als neue gemeinsame Sprache. Er fragte, was an Herzls Judenstaat überhaupt noch jüdisch sei. Er sei die Universalisierung der Assimilation. Ha’am wollte nicht nur die Juden, sondern auch das Judentum retten.

Offen blieb bei Herzl, wo der Judenstaat sich territorial auf der Weltkarte finden würde. Dass dies das Land der Urväter sein musste und würde, war bei ihm keineswegs ausgemacht. Als es Herzl mit Max Nordau gelang, schon für das Jahr 1897 in Basel den Ersten Zionistenkongress mit 200 Delegierten aus 24 Ländern zu organisieren, zeigte das enorme Echo, ein Umdenken und einen steigenden Problemdruck vor allem bei den europäischen Juden.

Für Herzl stand zunächst im Zentrum, eine sichere Zufluchtsstätte für die in Osteuropa und Russland heftiger und lebensgefährlicher Verfolgung ausgesetzten Juden zu schaffen. Auf dieser Basis suchte er später die Unterstützung der britischen Regierung, die durch die oben erwähnten Arbeiterunruhen für die „Judenfrage“ politisch empfänglich wurde. Kolonialminister Joseph Chamberlain hatte eine Region in Zentralafrika ausfindig gemacht.  Aber der Zionistenkongress lehnte nicht nur durch die Intervention der osteuropäischen Delegierten diesen Vorschlag entschieden ab.

Eigentlich war schon im „Baseler Programm“ von 1897 das Ziel vorgegeben: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“. Als dafür erforderliche Mittel werden genannt: „Die zweckdienliche Förderung der Besiedelung Palästinas, mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden.“ Dazu wurde auf dem Baseler Kongress die Einrichtung eines Fonds und einer Bank für den Aufkauf von Land in Palästina beschlossen. Begleitend sollte das „jüdische Volksgefühl und Volksbewußtsein“ gestärkt werden und „vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen“.

Dass das gelobte Land der Zukunft nur das Heilige Land der Vergangenheit, das Land der Urväter sein konnte, entsprach nicht nur einem starken Einfluss der konservativen osteuropäischen Juden. Es war schlicht naheliegend. Das Problem war nur, dass dieses Gebiet Palästina zum Territorium des Osmanischen Reiches gehörte. Das entscheidende Hindernis war weniger der Islam, als die Tatsache, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass der Sultan in Konstantinopel bereit sein würde, den Juden dieses Gebiet für eine jüdische Staatsgründung zu überlassen.

Dabei war die erste Einwanderungswelle schon erfolgt. Das jüdische Aufbauwerk in Palästina, Jischuw genannt, was „Ansiedlung“ bedeutet und später durch die Jewish Agency for Palestine (ab 1929 Jewisch Agency for Israel) für die Unterstützung der Einwanderung ersetzt wurde, unterteilt die Einwanderung bis zur Staatsgründung 1948 in fünf Einwanderungswellen (alijot):

Die erste mit ca. 30.000 Einwanderern von 1882 bis1903 wurde ausgelöst durch die Pogrome in Russland.  Die zweite mit ca.  40.000 von 1904 bis 1914 wurde ausgelöst durch das Pogrom von Kischinew in Polen. 1919 folgte bis 1923 mit ca. 35.000 die dritte Welle als Folge der Oktoberrevolution und den Nachkriegspogromen in Osteuropa, die vierte von 1924 bis 1929 mit 80.000 wurde durch die Wirtschaftskrise, insbesondere in Polen, aber auch durch Flucht aus der Sowjetunion ausgelöst und die fünfte Welle von 1929 bis 1939 mit 200.000 Einwanderern wird von der Fluchtwelle in Mitteleuropa getragen. Für den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges werden 80.000 geschätzt und der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Schwerpunkt aus Polen und Rumänien ca. 56.000 Einwanderungen genannt.

Es zeigte sich aber auch immer deutlicher, dass der Zionismus jenseits des einigenden Ziels einer Heimstätte, wie es vorläufig immer noch hieß, mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft des neuen Gebildes konfrontiert wurde. Zunächst teilte der Zionismus selbst die Juden in zwei Lager. Die mehr oder weniger assimilierten Juden in West- und Mitteleuropa verspürten in der Regel, anders als ihre verfolgten und armen „Glaubensbrüder“ aus Osteuropa, keinen besonderen Drang und Zwang zu einer Rückkehr ins Land der Urväter. Maximal traten sie als Sponsoren dieses Unternehmens auf. Teile der integrierten Juden sahen im Zionismus sogar ein für sie kontraproduktives Projekt, weil es spiegelbildlich mit seinem Nationsanspruch den Antisemitismus bediente, wie er sich in den Protokollen der Weisen von Zion ankündigte. Wenn auch als Fälschung entlarvt, so bediente dieses üble Machwerk jenen Antisemitismus, der an einer jüdischen Weltherrschaftsverschwörung glauben wollte. Die Betonung der Besonderheit des Judentums und seine Erhaltung wurde säkularisierten Juden in Westeuropa, die das „Gesetz“ als Lebensführung schon lange abgelegt hatten, zum Risiko für die Realisierung der angestrebten Assimilierung.

Unter den Zionisten wurden die Konflikte zwischen orthodoxen, partikularen Juden und universalistisch orientierten immer offensichtlicher. Die Differenzen betrafen auch ein Kernproblem des Besiedlungsprojektes: den Umgang mit den dort lebenden Einwohnern arabischer Herkunft. Am Anfang stand die Konfrontation mit einer grandiosen Illusion, dass hier ein „Volk ohne Land, in ein Land ohne Volk“ einrückte. Wenn auch wegen der Kargheit des Bodens nur dünn besiedelt, so war das Land nicht leer.

Wie der jüdische Religionsphilosoph Shalom Ben Chorin feststellte, litt die Bevölkerung Palästinas zudem an einem Mangel an „Adresse“, denn die „Fellachen“ (das waren die von den Großgrundbesitzern abhängigen Bauern) und Beduinen verfügten über keine eigenen Organisationen, die als Ansprechpartner der Zionistischen Weltorganisation in Frage gekommen wären. So verkauften die reichen „Effendi“ (Grundbesitzer) mit „reichlichem Gewinn“ ihre „Ländereien an den Jüdischen Nationalfonds – und landlos gewordene Fellachen waren das Opfer.“

Der Mangel an eigener Organisation wurde noch dadurch verschärft, dass es Palästinenser in ihrem Selbstverständnis gar nicht gab. Die heimische Bevölkerung verstand sich als Araber, als Teil des Osmanischen Reiches oder des großsyrischen Raumes, aber nicht als eigene ethnische oder sprachliche Gemeinschaft.

Der allmähliche „Einkauf“ durch Landerwerb durch den jüdischen Nationalfond half zwar das für die Staatsgründung als Endziel erforderliche Territorium zu sammeln, sicherheitshalber durfte es nicht an Nichtjuden weitergegeben werden, aber es fehlte eine machtpolitisch realistische Perspektive für die anvisierte Staatsgründung. Das änderte sich, als es Chaim Weizmann (später Israels erster Staatspräsident), der als Chemieprofessor in England wirkte und nach Herzls frühen Tod 1904 zur einflussreichsten Führungsperson des Zionistenkongresses aufstieg, mit viel Geschick gelang, die britische Regierung für eine jüdische Heimstätte in Palästina zu gewinnen. Der Weg dahin war lang und erforderte viel Geduld. Es bedurfte des Ausbruchs des Weltkrieges 1914 und eines turbulenten Wandels der britischen Außenpolitik, um zum Ziel zu gelangen.

Das schien mit der berühmten Balfour-Declaration vom 2. November 1917 in greifbare Nähe zu rücken. Sie wurde auf den 2. November datiert, aber erst am 9. November veröffentlicht, wodurch sie kurioserweise ganz in den Schatten eines anderen, die Weltpolitik nachhaltig verändernden Ereignisses geriet. An diesem Tag siegte Lenin in Russland und die „Oktoberrevolution“ füllte die Tageszeitungen. Die nach dem damaligen Außenminister James Arthur Balfour, der zuvor schon einmal Premierminister war, benannte Deklaration war keine öffentliche Proklamation, sondern ein „persönlicher Brief“ an den „lieben Lord Lional Walter Rothschild“, dem weltweit bekannten Großbankier und engagierten Präsidenten der britischen Zionistenvereinigung. In dem kurzen Brief teilt Balfour mit „großer Genugtuung“ seiner Lordschaft mit, dass „Seiner Majestät Regierung“ „die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk  mit Wohlwollen“ betrachtet  und „die größten Anstrengungen machen wird, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern, wobei klar verstanden wird, daß nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem Lande beeinträchtigen könnte.“ Es folgt noch die Bitte, diese „Erklärung zur Kenntnis der zionistischen Förderation zu bringen“.

Diese „Sympathie-Erklärung“, wie sie sich eingangs nennt, ist ein sorgfältig formuliertes Kunstwerk von Diplomaten. Die zentralen Begriffe sind vage und nahezu beliebig dehnbar. Was heißt Heimstätte? Was ist letztlich Palästina? Das lässt viele Interpretationen zu und so geschah es auch. Sie war ein austariertes Produkt unterschiedlicher Interessen, der Juden und Araber. Aber vor allem der Interessen der Briten beiden gegenüber, denn sie wollten es weder mit den einen noch den anderen verderben. Für die Zionistische Weltbewegung wurde sie auch als persönlicher Erfolg Weizmanns gefeiert. Erstmals hatte sich eine Großmacht, ja mehr noch, Großbritannien war ja noch die Großmacht, ihrer Sache angenommen und zu eigen gemacht. Der Erfolg konnte noch erweitert werden, als am 24. Juli 1922 der Völkerbund bei der Erteilung des Mandats für Palästina an Großbritannien die Balfour-Deklaration von 1917 im Artikel 22 wörtlich als Mandatsauftrag übernahm. Damit erhielt die Balfour-Deklaration eine völkerrechtliche Wirkung.

Skeptiker sahen aber frühzeitig die Fallstricke und Widersprüche in diesem Auftrag. Die Skepsis war mehr als berechtigt, wenn man sie in den Kontext der gesamten Außenpolitik des britischen Empires im und zum Ende des Weltkrieges mit besonderem Blick auf den Nahen Osten stellt. Um das in seiner Tragweite einordnen zu können, ist es zum besseren Verständnis erforderlich, die britische Außen- und Weltpolitik kurz zu skizzieren. Nur so kann verdeutlicht werden, welchen Interessen die britische Außenpolitik folgt und so ihre merkwürdigen Winkelzüge während des Ersten Weltkrieges verständlich machen. Da es das engere Thema in dieser Hinsicht erweitert, soll es als Exkurs erfolgen.


Ein Exkurs zur britischen Außenpolitik und die Gründung des Staates Israel

„Die Briten eroberten Palästina, um die Türken zu vertreiben; sie blieben dort, um es nicht den Franzosen zu überlassen, und sie gaben es schließlich den Zionisten, weil sie ‚die Juden‘ ebenso liebten wie verabscheuten, ebenso bewunderten wie verachteten, sie vor allem aber fürchteten. Ihr Vorgehen wurde weder von strategischen Erwägungen geleitet, noch ging ihm ein geordneter Entscheidungsfindungsprozess voraus. Und so verhielt es sich auch mit der Balfour-Deklaration, in der die Briten den Juden versprachen, die zionistischen Bestrebungen in Palästina zu unterstützen. Der Erklärung lagen nicht politische oder diplomatische Interessen zugrunde, sondern Vorurteile, Glauben und geschicktes Taktieren. Die Männer, die sie hervorbrachten, waren Christen, Zionisten und – in vielen Fällen – Antisemiten. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass die Juden die Welt kontrollieren.“ So lautet das harte, vernichtende Urteil über die Politik Großbritanniens des in Israel lehrenden weltweit anerkannten Historikers Tom Segev in seinem Standardwerk von 1999. Es war einmal in Palästina. Um es zu testen, müssen wir etwas weiter ausholen.

Das Anliegen der Zionisten war nicht zwangsläufig nur an Großbritannien adressiert. Denn sehr zum Entsetzen der Briten, schickte sich Kaiser Wilhelm II. bei seiner Orientreise 1898 an, sich selbst zum Anwalt der Ziele der Zionistischen Bewegung zu machen. Letztlich ging es ihm dann doch mehr um die Absicherung des großen Projektes der Berlin-Bagdad-Bahn, mit dem das Deutsche Reich den Briten neben der Konkurrenz auf den Weltmeeren mit seinem Flottenprogramm auch noch seine Machtansprüche im Orient zum britischen Empire demonstrierte.

Seit 400 Jahren war das Gebiet „Palästina“ Teil des Osmanischen Reiches, das im Westen an Ägypten und das Mittelmeer und im Osten an Persien grenzte, im Norden an das russische Zarenreich reichte und im Nordwesten seinen Einfluss und seine Interessen auf das Gebiet des Balkans geltend machte. Im Süden lag es nahe Indien. Und hier beginnt das erste entscheidende Interesse der Briten.

Zum Grundverständnis der britischen Politik gehört, dass weder die Entstehung noch die weitere Entwicklung des britischen Weltreichs nach einem festen, vorgefertigten Plan erfolgte. Abgesehen von der politischen Grundsatzentscheidung, eine Seemacht zu werden, folgt der Bau und Ausbau des britischen Empires einer pragmatischen Nutzung von Möglichkeiten, die in der Summe etwas ergeben, was nur selten detailliert gewollt wurde. Wer große strategische Pläne sieht, schießt von den Resultaten auf Absichten.

Die einzige außenpolitische Konstante formulierte Lord Palmerston, Staaten hätten keine ewigen Feinde, sondern nur ewige Interessen. Und die lagen bei den Briten ganz im Ökonomischen. Großbritannien war eine Handelsmacht und Kaufleute übernahmen das Regiment. Indien ist dafür der Prototyp. Länder zu erobern war für eine Seemacht unsinnig. Häfen für ein weltweites Netz von Handelsplätzen sammeln, die abgesichert wurden durch die absolute Dominanz der britischen Seemacht, das war das Erfolgsstück. Die Kaufleute waren die tragenden Pfeiler der britischen Herrschaft und der Staat fungierte als eine kaufmännische Dachgesellschaft, die sich nur in Ausnahmefällen der militärischen Gewalt bedienen sollte.

Doch im 19. Jahrhundert ändert sich die Welt und damit auch die britische Politik. Der Freihandelsimperialismus bedarf zunehmend einer politischen Absicherung. Indien ist auch hier prägendes Beispiel, als 1858 die East-India-Company durch eine formelle politische Herrschaft der englischen Krone abgelöst wird. Das neue Zeitalter des Imperialismus politisiert die Ökonomie und die Absicherung des britischen Weltreiches verlangt nach politischen Strategien.

Man kann die gesamte Geschichte des britischen Weltreiches in zwei zeitliche und geografische Teile zerlegen. In der ersten Eroberungsphase lag der Schwerpunkt der Kolonialerwerbungen in Nordamerika und der Karibik. Indien war zwar seit 1600, der Gründung der East-India-Company, einer von Kaufleuten getragenen Aktiengesellschaft, ein wesentlicher Handelsplatz, aber der Kern des Kolonialreiches lag während der dauerhaften Konkurrenz zu Frankreich in der Eroberung und dem Ausbau des Kolonialgebietes im Norden Amerikas. Die britischen Kolonien entfalteten sich an der Ostküste, während Frankreichs Expansion westlich davon durch die Mitte von Nord nach Süd des nördlichen Teiles des Kontinents erfolgte und von dort als Widerpart Großbritanniens auftrat.

Die Rivalität dieser beiden großen europäischen Kolonialmächte, die im siebzehnten Jahrhundert begannen das Erbe Spaniens, Portugals und den Niederlanden anzutreten, schlug im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) auf Europa zurück. Großbritannien, wie England seit dem vereinigten Königreich mit Schottland im Jahre 1603 nun offiziell hieß, forderte Frankreich nicht in Europa, sondern in Übersee heraus.

Es gab zwei Kampffelder. Das eine lag in Indien. Das einst mächtige Mogulenreich kollabierte. Als in Europa der Krieg ausbrach, befand sich die dortige französische Macht schon im Sinkflug. Alle Versuche, die britische Dominanz zu brechen, waren gescheitert. Frankreich musste lernen, dass es im globalen Wettkampf gegen die britische Seemacht zumindest vorerst chancenlos war. Und die gleiche Erfahrung folgte auch in Nordamerika. Im Frieden von Paris 1763 musste Frankreich seinen gesamten amerikanischen Festlandsbesitz aufgeben, während Großbritannien dank seiner militärischen Erfolge seine Position ausbauen und festigen konnte. Das seit dem Frieden von Utrecht 1713 bis zum Pariser Frieden 1763 entstandene Kolonialreich der Briten stand auf drei Pfeilern: Nordamerika, den karibischen Inseln und Indien. Frankreich war so geschwächt, dass es als Rivale zunächst ausfiel. Fügen wir noch hinzu, dass Napoleons Versuch, das zu ändern, zwar ebenfalls scheiterte, aber Frankreichs diesbezüglichen Ambitionen bis zum Zweiten Weltkrieg keineswegs zügelten.

Mit dem Abfall der britischen Kolonien von der britischen Krone und der Gründung der United States of America 1776 schien das für einen Moment auch das Ende der britischen Kolonialmacht zu sein. Für diesen Teil der Welt stimmte das auch, aber der Schein trog, denn hier liegt die Scheidung zwischen dem ersten, dem atlantischen Empire und der Übergang zum Aufbau eines zweiten Empire, dem asiatischen. Im Nachhinein erscheint der Verlust Nordamerikas sogar als ein Gewinn, denn beide Regionen zusammen zu beherrschen, hätte Großbritannien wohl überfordert. Die innerhalb des Nordkontinents expandierende USA störte die britischen Kreise und Interessen weder auf dem Atlantik noch in der Karibik. Der indische Subkontinent am indischen Ozean wurde als strategischer Stützpunkt systematisch zum Ausgangspunkt für die weitere Eroberung im südpazifischen Ozean mit Neuseeland und Australien und dem Griff nach China ausgebaut.

Indien und der indische Ozean sind damit weit mehr ist als eine britische Badewanne, nämlich fortan die entscheidende Region des britischen Weltreiches. Dieses Juwel zu schützen, genießt oberste Priorität der britischen Politik. Und hier kommt die politische Geografie ins Spiel. Die Absicherung Indiens ist für die Briten vom Meer her kein Problem, da steht die unangefochtene Seeherrschaft Englands vor. Indien war nur vom Meer aus zu beherrschen und zu erobern. Dieses Faktum lebte allerdings auch von der Annahme, dass eine Bedrohung der Nordflanke ausgeschlossen werden kann. Aber das könnte sich ändern, wenn vom Norden her eine Landmacht sich für Indien interessieren würde. Diese Gefahr entstand zumindest hypothetisch im 19. Jahrhundert durch das kontinuierlich gen Süden expandierende russische Zarenreich. Da hier die britische Seeherrschaft ein stumpfes Schwert wäre, kann Indiens Sicherheit letztlich nur dadurch gesichert werden, dass das zwischen Russland und Indien liegende Osmanische Reich als Bollwerk fungiert. Für die Briten ist Russland im 19. Jahrhundert der natürliche Gegner und das Osmanische Reich insgeheim der notwendige Verbündete, zumindest ist es eine Macht, die nicht geschwächt werden darf.

Aus dieser Perspektive erklärt sich die Bedeutung, die der vordere Orient insgesamt für Großbritannien erhielt. Neben Indien wird mit dem Erwerb des Suez-Kanals, den die Franzosen zwar gebaut hatten, aber nicht finanzieren konnten und so den Briten übergeben mussten, die Region noch bedeutender. Welche ungeheure Bedeutung diese Verkürzung des Seeweges nach Indien und darüber hinaus für den britischen Handel und den gesamten Seeverkehr hat, liegt auf der Hand. Und das kleine Palästina wird damit unscheinbar ein geopolitisch relevantes Gebiet zur Absicherung des Seeweges durch den Suez-Kanal.

All diese geografischen Aspekte verstärkten sich noch, als am Vorabend des Ersten Weltkrieges in London die Entscheidung fällt, das Wettrüsten gegen Deutschland im Flottenbereich intelligenter als durch Tonnagenerhöhungen zu führen. Die Idee, den Antrieb der Kriegsflotte von Kohle auf Öl umzustellen, ist wahrhaft genial. Die Schiffe werden leichter, schneller und wendiger, während die deutschen immer schwerer werden. Winston Churchill setzt als Erster Lord der Admiralität diesen Geniestreich um, aber er hat einen Haken: England ist reich an Kohle, aber arm an Öl (s. Massie. 659). Zwar hat die Jagd nach Öl gerade eine Pause, denn das Automobil als Retter vor einer drohenden Nachfrageflaute nach Öl ist noch nicht im Visier. Und in den USA wurden zwar viele Ölquellen gefunden, aber sie waren nicht sehr ergiebig.

Arabien als Ölquelle ist noch unentdeckt, die Nordsee sowieso, also kommt als bekannte Ölquelle zunächst nur Baku und Umgebung in Frage, liegt aber in Russland, und ist mithin strategisch suboptimal. Realistischer erscheint der Zugang zu den persischen Ölquellen und Mossul. Damit wird der Seeweg zum Mittelmeer und die politische Kontrolle über den Nahen Osten für Großbritannien zu einer Frage von vitalem Interesse. Die Sicherung der Ölversorgung, die Abschirmung Indiens und der Sicherung des Suez-Kanals entscheiden über Sein oder Nichtsein des britischen Weltreiches.

Spätestens am Vorabend des Ersten Weltkrieges wird ein neues, sehr großes Problem offensichtlich. Das Osmanische Reich hieß mit Recht schon seit langem der „kranke Mann am Bosporus“. Die Stärkung dieses Gebildes zwecks Absicherung Indiens war keine zukunftsweisende Option mehr. Mit dem Kriegsausbruch 1914 muss sich Großbritannien auf eine grundlegende Neuordnung der Machtverhältnisse in dieser Region einstellen und es verwundert nicht, dass hier die Aktivitäten der Briten zumindest anfangs bedeutender erscheinen als an der europäischen Westfront.

Die Neuausrichtung der britischen Außenpolitik im Vorderen Orient ist zunächst davon bestimmt, ein Bündnis der Mittelmächte, hier vor allem des Deutschen Reiches mit den Türken zu verhindern. Als das misslingt, liegt das Schwergewicht darauf, die arabischen Teile des Osmanischen Reiches für einen Aufstand oder gar Abfall gegen die verhassten Türken zu gewinnen. Dafür gab man das Versprechen, einen arabischen Staat zu unterstützen. Ein Projekt, dem sich eine berühmt gewordene tragische Figur namens „Lawrence of Arabia“ hingibt und dabei zu spät begreift, dass es den Briten nie ernst war mit diesem Projekt.

Dokumentiert wurden diese britischen Ambitionen in einem Brief des britischen Hochkommissars in Kairo, Sir Henry McMahon, an den Scherifen Hussein von Mekka vom 24. Oktober 1915, dessen Sohn Feisal die Führung in dem arabischen Staat übernehmen sollte. Darin wird dem Scherifen neben einer Gebietskorrektur gegenüber der schon getroffenen Gebietszuweisung für einen arabischen Staat eine dauerhafte Allianz mit dem sofortigen Ergebnis „der Vertreibung der Türken aus arabischen Ländern und die Befreiung der arabischen Völker vom türkischen Joch“ angeboten.

Es war nicht das einzige Versprechen, das die Briten nicht so ernst meinten. Denn sie verteilten 1916 ganz in alter imperialistischer Manier mit den Franzosen das Fell des Bären im Orient, als dieser noch gar nicht erlegt war. Hintergrund dafür war, dass 1915 die Briten ihre Truppen von der französischen Westfront abzogen, um sich intensiver ihren Interessen im Nahen Osten und gegen die Deutschen widmen zu können. Als Kompensation sollte Frankreich an der zu erwartenden Beute beteiligt werden. Der britische Außenminister Mike Sykes und sein französischer Amtskollege Georges Picot hatten in einem geheim gehaltenen Abkommen das Gebiet südlich der Türkei aufgeteilt, wo Frankreich Syrien und der größte Teil Palästinas zufiel.

Dummerweise machten nach der russischen Oktoberrevolution die Bolschewiken ihre Drohung wahr, alle Verträge und Geheimdokumente auswärtiger Angelegenheiten publik zu machen. Einen schlimmeren Rückfall in imperialistische Zeiten, entgegen allen offiziellen Bekundungen, die schon im Geiste des amerikanischen Präsidenten Wilsons erfolgten, konnte man sich kaum denken. In diesem Kontext war die Balfour-Deklaration zwar nur eine Absichtserklärung, aber sie versprach etwas, was Großbritannien noch gar nicht hatte, jedoch schon einmal an Frankreich und ein anderes Mal an die Araber verteilt hatte.

Als Ende 1917 die britischen Truppen unter General Edmund Allenby siegreich in Jerusalem einzogen, war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Eroberung des gesamten Gebietes Palästina. Gestärkt durch diesen militärischen Erfolg wurde mit Frankreich neu verhandelt, denn die Briten erkannten, dass Palästina zur Abschirmung der östlichen Suezseite viel zu wertvoll war, um es den Franzosen zu überlassen. Der Fehler von 1916 wurde in Neuverhandlungen korrigiert. Angeblich gelang es dem britische Premierminister Lloyd George, seinem französischen Amtskollegen Clemenceau Palästina im Tausch für die Zusage, sich für die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich einzusetzen, abzunehmen.

Über die Gründe, warum sich die Briten überhaupt auf das Experiment mit dem „Judenstaat“ eingelassen haben, ist viel gerätselt worden. Der britische Historiker David Stevenson geht in seinem Buch Der Erste Weltkrieg davon aus, es sei einerseits eine Reaktion auf die veränderte Kriegszieldiskussion durch den zu erwartenden Kriegseintritt der USA und den politischen Zielen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson gewesen, andererseits Teil einer Revision der britischen Interessen während des Krieges. Nach Stevenson wollte man Palästina nicht mehr unter internationaler Kontrolle sehen, sondern unmittelbar unter britischer – wie es denn mit dem Völkerbundmandat von 1922 auch geschah. Strategisches Ziel war, dass Palästina zur geopolitisch erforderlichen Sperre zwischen dem Suez-Kanal im Westen und dem von Frankreich kontrollierten Syrien im Osten wird. Da man nicht zu Unrecht davon ausging, dass die jüdischen Siedler pro-britisch eingestellt seien, war die Kontrolle über das Gebiet zugleich eine Stärkung der britischen Position im Nahen Osten insgesamt. Hinzu kamen Befürchtungen, dass bei einer britischen Rücknahme des Engagements für die zionistischen Interessen das Deutsche Reich mit seinen Avancen gegenüber den Juden auf Zustimmung treffe. Damit drohte die Gefahr, das Gebiet direkt an den Feind zu verlieren. (Stevenson, 436)

 

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