Heikos Rückblende: „Geplatzte Träume“ – Teil 3 der sechsteiligen Serie

Geplatzte Träume – Teil 3

Am 19. September 1851, bald sind es 170 Jahre her, wird der Tischler und Sozialdemokrat Johann Heinrich Schucht aus seiner Heimatstadt Osnabrück und aus dem Königreich Hannover ausgewiesen. Er soll sich an der Verbreitung demokratischer, sozialistischer und kommunistischer Ideen beteiligt haben.

Untrennbar verknüpft ist das Osnabrücker Geschehen mit der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848. Die Sehnsucht vieler Menschen, im staatlich aufgesplitterten deutschsprachigem Raum ein einheitliches Gemeinwesen mit frei gewähltem Parlament, Presse-, Versammlungs-, Organisations- und Meinungsfreiheit zu errichten, wird am Ende durch eine brutale Unterdrückungspolitik von Königen, Fürsten und Herzögen ersetzt.

Die Ausweisung des Sprechers der „Arbeiterverbrüderung“ ist in Osnabrück der entscheidende Schritt einer massiven Unterdrückungswelle. Die Hasestadt, in dessen Stadtgrenzen seit der Revolution von 1848 aktive radikaldemokratische und sozialistische Bewegungen aufgeblüht sind, verliert durch die Ausweisung Schuchts eine entscheidende Persönlichkeit.

Maßgeblich unterstützt wird die Repressionspolitik von Johann Carl Bertram Stüve. Der mit viel Nachruhm versehene Osnabrücker Bürgermeister übt das Amt von 1833 bis 1848 sowie von 1852 bis 1864 aus. Vom März 1848 bis Oktober 1850 agiert als königlich-hannoverscher Innenminister und betätigt sich dabei aktiv bei der Zerschlagung der Demokratie- und Arbeiterbewegung. Denn nichts fürchtet Stüve mehr als die „Pöbelherrschaft“, die er altgriechisch gern als „Ochlokratie“ bezeichnet.

Die Osnabrücker Rundschau widmet sich nach der Serie zum Gesellenaufstand von 1801, betitelt mit „Geplatzte Kragen“, erneut einem wichtigen Abschnitt der Osnabrücker Stadtgeschichte. Was passierte in der Hasestadt, als landauf, landab über die Vision einer demokratischen, gar „roten Republik“ nachgedacht und aktiv gehandelt wurde?

Teil 1 der sechsteiligen Serie widmete sich dem örtlichen Geschehen anno 1848, das zu einem beachtlichen Anwachsen demokratischer und sozialistischer Bewegungen führt.

Teil 2 befasste sich mit den Hoffnungen bei der Wahl zur Nationalversammlung sowie mit der aufblühenden Osnabrücker Pressevielfalt.

Im folgenden Teil geht es um den Niedergang der Revolutionsbewegung. Im Mittelpunkt der Darstellung steht der bis heute in der Hasestadt verehrte Bürgermeister, Staatsmann, Jurist und Historiker Johann Carl Bertram Stüve, dessen Wirken im Kontrast zu dem des Gründers der Osnabrücker Arbeiterbewegung, Johann Heinrich Schucht, steht.

Teil 3:
Stüve contra Schucht: Ideen, die Welten trennen

Stüve: konservativer Reformer – und Gegner der Demokratie

Die Wahl des jungen Johann Carl Bertram Stüve zum Osnabrücker Bürgermeister wird im Jahre 1833 noch mit Hoffnungen vieler politischer Lager begleitet. Später wird er zu einem Zerstörer demokratischer Bewegungen. Wie geht das zusammen?

Am 16. Februar nächsten Jahres dürfte der 150. Todestag Stüves ein hohes stadtoffizielles Echo erfahren. Zumal ihm im Revolutionsgeschehen nach 1848 eine entscheidende Rolle zufällt, ist es notwendig, sich diesem Politiker, Advokaten, Historiker wie Staatsrechtler etwas ausführlicher zu widmen.

Der Absolvent des Osnabrücker Ratsgymnasiums gilt schon als Heranwachsender als hochbegabt. Bereits als Kind, sein Vater Heinrich David ist Bürgermeister, erlebt er die wechselnde Besetzung seiner Heimatstadt durch hannoversche, französische und auch preußische Truppen. Später studiert er an den Universitäten Berlin und Göttingen Jura, Philologie, Altertumskunde und Philosophie. Als gelehriger Schüler akademischer Lehrer wie Friedrich Karl Savigny in Berlin und Karl Friedrich Eichhorn in Göttingen festigt sich bei Stüve schnell eine Grundeinstellung: Staatsgestaltung und Recht sind seines Erachtens eher langsamen Entwicklungen unterworfen, nie aber abrupten Umbrüchen. Konsequent wehrt er sich bereits früh gegen revolutionäre Umstürze und demokratische Bewegungen, welche die Herrschaft von Adelsgeschlechtern in den deutschen Einzelstaaten in Frage stellen. Nie wird er zum Befürworter eines allgemeinen Wahlrechts für alle oder gar einer Republik. Im Gegenteil: Beides lehnt er massiv ab.

Gewissen Modernisierungen des Staatswesens gegenüber zeigt sich Stüve allerdings aufgeschlossen. Bereits früh wird der junge Anwalt politisch aktiv. 1824 wird er Abgeordneter der Stadt Osnabrück in der Zweiten Kammer der Allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs Hannover, in dem Vertreter von Städten wie Gutsbesitzer eine zentrale Rolle spielen. Die erste Kammer ist dagegen Adel und Geistlichkeit vorbehalten.

1833 avanciert Stüve zum Bürgermeister seiner Vaterstadt. Er ist intensiver Kenner der Stadtgeschichte und hat zu diesem Zeitpunkt seit einem guten Dutzend Jahren dafür gesorgt, dass stadtgeschichtliche Akten, Dokumente, Pläne und Urkunden für die Nachwelt systematisch verwahrt werden. Auch durch seine Fortschreibung der stadtgeschichtlichen Aufzeichnungen Justus Mösers (1720-1794) wird er sich für stadthistorisch Interessierte der folgenden Jahrhunderte dauerhafte Verdienste erwerben. Vortrefflich beherrscht er die Kunst des Schreibens wie der freien Rede.

Schnell wird er auch in Osnabrück zum Hoffnungsträger all derer, die sich – auch in Folge der französischen Julirevolution von 1830, in deren Verlauf der „Bürgerkönig“ Luis Philippe an die Macht kommt – gesellschaftliche Fortschritte und ein Ende des hannoverschen Absolutismus versprechen. Federführend arbeitet der Advokat Stüve die bereits im Vorkapitel angedeuteten Regelungen für eine Befreiung der „Eigenbehörigen“ aus ihrer Abhängigkeit von Gutsherren vor, aus der sie sich danach freikaufen können.

Vor allem arbeitet der junge Osnabrücker führend am Staatsgrundgesetz für das Königreich Hannover von 1833 mit, dass damals noch von britischen Staatsoberhäuptern aus einer Nebenlinie der Welfen regiert wird. Endlich gibt es danach Regelungen zur Pressefreiheit, des Steuerbewilligungsrechts, der Ministerverantwortung und Öffentlichkeit der Beratungen. Der König findet sich erstmals eingebunden in die Verfassung, die er aufgrund des neuen Staatsgrundgesetzes nicht mehr allein, sondern lediglich mit Zustimmung der Ständeversammlung verändern kann.

links: Johann Carl Bertram Stüve in jungen Jahren rechts: König Ernst August – erst Gegner, dann Bündnispartner Stüves

König Wilhelm IV. hatte noch mit dem Staatsgrundgesetz zu leben gewusst. Doch mit dem neuen Monarchen König Ernst August I. (1771-1851), der seit 1837 die Krone trägt, gerät Stüve schnell in eine offene Konfrontation. Dazu hat er allen Grund: Noch im Krönungsjahr entscheidet sich der frisch Inthronisierte, das Staatsgrundgesetz von 1833 mit einem Federstrich für null und nichtig zu erklären. Als dieser Schritt im Königreich landauf, landab, Proteste erfährt, stellt sich Stüve couragiert an deren Spitze. Im Namen der Stadt Osnabrück legt er dagegen Verfassungsbeschwerde beim Deutschen Bund in Frankfurt ein, der den losen deutschen Staatenverbund präsentiert. Bis 1848 bleibt alles erfolglos.

Insbesondere im Hannover-kritischen Osnabrück folgt Stüve eine breit getragene Unterstützungswelle. Lange Auseinandersetzungen folgen. Rund 15 Jahre lang vermehren sich Repressionen des Königshauses. Aber auch Widerstände gegen die absolute Königsherrschaft suchen weiter ihren Raum. Stüve will aber nicht zu weit gehen: Er gibt acht darauf, dass niemals die Kernkompetenzen oder gar die Existenz des hannoverschen Königshauses selbst in Frage gestellt werden.

Der Druck der in Berlin entfachten 1848er-Bewegung wird schließlich auch im hannoverschen Königreich so mächtig, dass nicht wenige Adelsherrscher um den Fortbestand ihrer Macht fürchten. Postwendend ist es der König persönlich, der anno 1848 seinen bisherigen Kritiker Stüve ins Ministerium beruft. Von König Ernst August ist es ein genialer taktischer Schritt. Denn dass Stüve allenfalls behutsame Reformen befürwortet, ist dem Monarchen und seinem Beraterstab nie nicht verborgen geblieben. Hintergedanke ist deshalb, der radikal-liberalen Bewegung mit dem Osnabrücker ein Hindernis entgegenzustellen und sich dadurch die Macht zu sichern. In der Tat: In Stüve besitzen sie fortan einen verlässlichen Bündnispartner, wenn es gegen Beschlüsse der im April/Mai frisch gewählten Frankfurter Nationalversammlung oder um die Bewahrung von Adelsrechten geht.

Stüves Töne, seine Taten – und der Marsch der Gegenrevolution

Zitate aus dem reichhaltigen Fundus von Veröffentlichungen belegen, welche Einstellungen dem Handeln Stüves insbesondere dann zugrunde liegen, sobald von außen mehr Rechte des einfachen Volkes eingefordert werden. In einem Brief an seinen Freund Frommann drückt er sein Verhältnis zum einfachen Volk schon anno 1837 wie folgt aus, aus dem eine tiefe Verachtung spricht:

„Ich sage, das Volk ist immer dumm und weiß nicht, was es will, außer wenn es durch Gewohnheit langer Lehre sich in sein Recht hineingelebt hat oder wenn man ihm ganz einfache Prinzipien vorhält.“

Neffe und Regierungspräsident Gustav Stüve zitiert im Band 1 seines 1900 erschienenen Werks „Johann Carl Bertram Stüve nach Briefen und Erinnerungen“ gleich mehrfach die Sichtweise seines Onkels auf die Revolution und auf sein Selbstverständnis als Minister. In einem persönlichen Brief an einen Freund vom 29. Mai 1848 formuliert er seine nur als Übergangsphase betrachtete Rolle im Rahmen der revolutionären Entwicklungen:

„Unsere Aufgabe wird nur sein, die Revolution zu bemeistern und es so lange zu halten, bis ein konservatives Ministerium folgen kann. Damit bin ich herzlich gern zufrieden; denn dass hier für mich auf die Dauer keine Freude sein kann, das ist wohl klar.“

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Es ist deshalb überhaupt kein Wunder, dass sich Stüve von Beginn an gegen zentrale Beschlüsse des Frankfurter Paulskirchenparlaments stellt. Er beargwöhnt bereits seit der Konstituierung des Parlaments am 18. Mai 1848 dessen Mehrheitsanliegen, die in Wahrheit alles andere als revolutionär sind. Den größten Widerspruch Stüves erfährt die demokratische Verfassung, welche die Abgeordneten der Paulskirche bis zum 21. Dezember beschließen und die als Gesetz über die „Grundrechte des deutschen Volkes“ offiziell am 27.12. in Kraft getreten ist. Für Stüve ist ein verhängnisvoller Weg in die altgriechisch abgeleitete „Ochlokratie“, die Herrschaft des Pöbels, beschritten worden. Er sorgt sich massiv um die Fortexistenz der feudalen Einzelstaaten und ihrer Adelshäuser.

Bereits in Folge 2 unserer Serie waren ministerielle Schritte Stüves erwähnt worden, durch die er seine revolutions- und demokratiefeindliche Position durchaus konsequent in die Tat umsetzt: Schon Ende März, er ist erst sehr kurz im Amt, setzt er die Entsendung von Soldaten in Hildesheim durch, wo die revolutionäre Welle auf besonders viel Resonanz gestoßen war. Der dortige Rädelsführer Friedrich Weinhagen wird verhaftet. Vorsorglich wird auch, wie berichtet, der Osnabrücker Landdrost Eduard von Lücken angewiesen, „militärische Exekutionskommandos bei Ruhestörern ohne Entgeltzahlungen einzuquartieren“.

 Die Gegenrevolution marschiert

Das Vorgehen Stüves ist, auf den deutschsprachigen Raum bezogen, bereits schnell kein Einzelfall mehr. Die Gegenrevolution hat längst begonnen. Der größte Rückschlag für linke Demokraten bildet die Ermordung ihres wichtigsten Sprechers. Der nach Wien entsandte Abgeordnete der deutschen Nationalversammlung Robert Blum (1807-1848), dessen Ideen begeistert auch von den Machern des Osnabrücker Tageblatts abgedruckt worden waren und der in der Hasestadt viele Anhänger besitzt, wird dort am 9. November 1848 trotz seiner Immunität standrechtlich erschossen. Verbliebene Linke, die sich für eine Republik und auch für Arbeiterrechte einsetzen, kämpfen fortan zunehmend auf verlorenem Posten.

Ermordung von Robert Blum. Gemälde, zugeschrieben Carl Constantin Heinrich Steffeck, Berlin, 1848/49 © Deutsches Historisches Museum, Berlin

Selbst die Anhänger einer konstitutionellen Demokratie sind spätestens seit dem 28. April 1849 tief desillusioniert. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hat die endgültige Ablehnung der ihm angetragenen Kaiserwürde für ein vereintes Deutschland an diesem Tage abgelehnt.

Dafür setzt er auf Kanonen, Kavallerie, Gewehre und Bajonette seiner preußisch-blau uniformierten Soldaten. Sie entwickeln sich von nun an zum Liquidator allen Fortschritts. In immer mehr Einzelstaaten sind es preußische Pickelhauben-Soldaten, die zunehmend von den adeligen Herrschern gerufen werden, um alles Demokratische unter Militärstiefeln zu zertreten. Der Spruch des preußischen Königs „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ erfährt seine blutige Umsetzung. Im Mai in Sachsen, im Juni in Bayern, im Juli in Baden ist schnell die „Ruhe“ wiederhergestellt.

Ein junger Tischler namens Schucht

Der spätere Osnabrücker Johann Heinrich Schucht muss derweil in Hamburg die gleiche Tortur miterleben. Für ihn sollten das Geschehen allerdings, was noch zu zeigen sein wird, eher der Auslöser späterer Aktivitäten werden.

Gebürtig stammt Schucht aus dem winzigen Dorf Holzthaleben im kleinen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, einem Zipfel im heutigen Thüringen. Wie nahezu alle jungen Handwerker zieht es auch den gelernten Tischler nach der Lehre in die Ferne. Er geht auf die Walz, um in fernen Städten bei unterschiedlichen Meistern seine Erfahrungen zu machen und das Nötige für den persönlichen Lebensunterhalt zu verdienen. Folgt man einer im Osnabrücker Landesarchiv verwahrten „Akte politischer Verein“, dann hat Schucht von August 1848 bis Juni 1849 in Celle gearbeitet, wo er, so der Akteneintrag der ihn akribisch observierenden Stadtoberen, „in demokratischer Richtung sich sehr hervortrat“.

In der Tat: In seiner Celler Gesellenzeit politisiert sich der zu dieser Zeit 22-jährige Tischler. Er ist begeistert von der breiten Resonanz, welche das seit Frühjahr gewachsene Revolutionsgeschehen in der Stadt Celle gewinnt, die damals ähnlich viele Menschen bewohnen wie Osnabrück. Schucht teilt die Sehnsucht großer Bevölkerungsteile, der Allmacht von Königen, Fürsten und Herzögen ein Ende zu setzen und soziale wie demokratische Verbesserungen einzufordern.

Celle mit seinem Marktplatz: Hier kommt der junge Wandergeselle Johann Heinrich Schucht im Jahre 1848 erstmals mit Revolutionären zusammen.

Schucht bekommt als Zeitzeuge mit, als der Vorsitzende des Celler Volksvereins, Dr. Gerding, der königlichen Regierung in Hannover – vergeblich – rund 5.000 gesammelte Unterschriften übergibt, die in Hannover, Hildesheim und Celle zur Anerkennung der dort aufgestellten Bürgerwehren gesammelt worden sind. Nach der Ermordung Robert Blums erlebt Schucht nach dem 9. November 1848, wie die demokratischen Vereine in Celle, zu ihnen zählen Volksverein, Turngemeinde und vor allem Arbeitervereine, eine „Robert-Blum-Gedächtnisfeier“ veranstalten. Begleitet wird alles von einem Zug von über tausend Männern und Frauen, die feierlich bei gedämpftem Trommelklang im dortigen „Artlers Garten“ einen Gedächtnisbaum „gegen Tyrannen und Henker“ pflanzen.

Während seiner Zeit in Celle hat Schucht somit bereits intensiv die euphorischen Anfänge, aber auch die mutigen Folgeaktionen der Revolution erlebt. Wir können mit Sicherheit vermuten, dass er bereits im Jahre 1848 Kontakt zur dortigen Arbeiterbewegung gefunden hat. Noch im Juni 1849 ist er danach, hoffnungsvoll und voller Tatendrang, als Tischler und Wandergeselle nach Hamburg gekommen, um am dortigen revolutionären Fortschritt teilzuhaben. In der Elbestadt, damals noch bewohnt von knapp 150.000 Menschen, bekommt er einen tiefen Einblick in die Entstehung der aufblühenden Hamburger Arbeiterbewegung.

Es sind vor allem der Hamburger Bildungsverein für Arbeiter, der Schucht, ebenso die örtliche Organisation der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung, die ihn dermaßen in Beschlag nehmen, dass der den Vorsatz fasst, eine ähnliche Organisation auch andernorts zu schaffen. Von bereits der im Spätsommer des Vorjahres in Berlin auf Initiative von Stephan Born gegründeten, flächenmäßig in den Einzelstaaten bereits beachtlich gewachsenen Arbeiterverbrüderung erfährt Schucht aus eigener Anschauung und orientiert sich früh an der Vorgänger-Organisation von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung. Vor allem der Organisations- und Selbsthilfegedanke imponiert ihm, was Voraussetzungen schafft, sich politisch einzubringen. Besonders in Bann ziehen Schucht die Möglichkeiten, in den Organisationsstrukturen der Arbeiterbewegung zu lernen oder erworbenes Wissen weiter zu geben. Denn kaum etwas in jener Zeit haben Arbeiterinnen und Arbeiter dermaßen nötig wie Bildung. Das kärgliche Schulsystem vermittelt allenfalls kärgliches Wissen, und jede weitergehende Bildung ist ärmeren Bevölkerungsgruppen aufgrund hoher Eintrittsgelder verschlossen.

Doch bis Mitte August 1849 geschieht genau das, was Schucht wie andere Mitkämpfer der frühen Arbeiterbewegung unbedingt verhindern wollte: Ein aus 8000 Mann bestehendes preußisches Korps besetzt die Stadt und sorgt in Folge dafür, alle zuvor erkämpften Fortschritte der Revolution zunichte zu machen. Die schlimmsten Auswüchse der Konterrevolution bekommt der Tischlergeselle danach nicht mehr mit.

Er begibt sich, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Absprache mit Hamburger Gesinnungsgenossen, nach Osnabrück, wo er schließlich am 24. August 1849 eintrifft.

Das Ende des Paulskirchenparlaments

Preußische Militärstiefel und erstarkende Könige, Fürsten und Herzöge besitzen Folgewirkungen auf das Frankfurter Parlament. Preußen und Österreich, dann auch andere Staaten, befehlen im Mai den Abgeordneten aus ihren Ländern, ihr Mandat niederzulegen. Die alten Mächte treten der Revolution nur noch mit offener Gewalt entgegen. Infolge weiterer Mandatsniederlegungen konservativer Mandatsträger schrumpft die Zahl der Abgeordneten. Auch der Osnabrücker Abgeordnete Carl Theodor Breusing besitzt keine Courage. Er folgt der großen Mehrheit seiner Kollegen, die ebenso auf Druck jeweiliger Landesregierungen handeln und gibt sein Mandat bereits am 20. Mai 1849 auf. Der „erste Osnabrücker Verfassungsvater“ hat seine von erwartungsvollen Wählern übertragene Funktion bis dahin exakt nur ein einziges Jahr ausgeübt.

Ende Mai 1849 verlegen die noch verbliebenen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung ihre Sitzungen aus Sicherheitsgründen nach Stuttgart. Im Rumpfparlament besitzen die Linken augenblicklich zwar eine glasklare Mehrheit. Doch sie nutzt ihnen am Ende nichts. Schon am 18. Juni wird das Stuttgarter Parlament durch württembergisches Militär aufgelöst, die Abgeordneten mit geladenen Gewehren auseinandergejagt.

 Trendwende auch im Königreich Hannover

Insbesondere im Königreich Hannover gelingt es niemals, demokratisches oder gar republikanisches Gedankengut auf die Siegerspur zu führen. „Die Demokratie findet in Hannover einen unfruchtbaren Boden“, lautete bereits am im Oktober 1848 der Bericht zu einem Berliner Demokraten-Kongress, „es hat den traurigen Ruhm, ewig zurück zu sein.“ Alles war in den Berliner „Volksblättern“ schon am 28. Oktober 1848 nachzulesen.

Besonders zeigt sich der voranschreitende Umschwung in der Zweiten Kammer des Königreichs Hannover, einem Vorgänger des heutigen Landtags. Hier steuert Innenminister Stüve das Seinige hinzu, dass die Minderheit der gewählten linken Abgeordneten zum Ende des Jahres 1849 restlos isoliert ist.

„Übrigens ist die Linke bereits in einer Art Auflösung“, freut sich Stüve am in einem Brief an seinen Freund Frommann vom 19. November 1849 – und verhehlt nicht, was er von diesen hält: „Es sind wirklich zu elende Kerle; nur solange sie im Stande sind, mit Cliquenwesen, Schreien, Hetzen und Lügen auszureichen, vermögen sie was, sobald es weiter geht, fallen sie mit ihrer Volksversammlungsredekunst weg.“

In einem weiteren Brief an Frommann vom 8. Dezember 1849 berichtet Stüve stolz darüber, dass die Linke in der 2. Kammer mittlerweile dermaßen isoliert ist, dass die Mehrheit auf deren Argumente gar nicht mehr einzugehen pflegt: „Jetzt ist’s so weit, dass sie lachen, wenn die Linken ihre Tiraden von den Grundrechten nur anfangen. Wir haben nie ein Wort darauf erwidert, das hat mich anfangs gedrückt, aber es war der rechte Weg.“

Wie es weitergeht

In Folge 4 unserer Serie wird berichtet, wie es dem Tischlergesellen Johann Heinrich Schucht im Osnabrück des Jahres 1849 gelingt, erfolgreich einen Arbeiterbildungsverein aufzubauen.

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