Donnerstag, 2. Mai 2024

Im Niemandsland an der polnischen Grenze – der erste Teil zu Martina Sellmeyers Artikel „Pogromnacht am 9.11.1938 in Osnabrück“

Die „Polenaktion“ im Oktober 1938
Die Vorgeschichte zur Pogromnacht des 9. November 1938

Morgen wird überall in Deutschland, auch in Osnabrück, an die Novemberpogrome 1938 erinnert. Die Nationalsozialisten hatten schon lange auf einen Anlass für einen staatlich inszenierten „Pogrom“ gewartet. Diesen Anlass bot ein Vorfall in Paris. Den beschreibt eine Landeszentrale für politische Bildung so: „Das Attentat am 7. November 1938 auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch den 17jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan.“ Mehr erfährt man auch in anderen Portalen und Veröffentlichungen häufig nicht.  War die „Kristallnacht“ also eine  Reaktion auf den „Terrorakt“ eines „polnischen“ Juden ? Tatsächlich hatte Herschel Grynszpan in Hannover gelebt, bevor ins Pariser Exil ging, ebenso wie seine Familie, um die es bei dem Anschlag eigentlich ging.

Dem Attentat in Paris ging eine Geschichte voraus, die erzählt werden muss. Eine Geschichte, die auch mit Männern, Frauen und Kindern aus Osnabrück zu tun hat. Menschen, die im November vor 85 Jahren wochenlang im Sperrgebiet zwischen der deutschen und der polnischen Grenze dahinvegetieren, in eisiger Kälte, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Wasser, ohne Essen und ohne medizinische Versorgung. Szenen, die uns bekannt vorkommen. Die es immer wieder gibt, wenn Menschen zu Opfern von politischen Machtspielen werden wie bei der sogenannten „Polenaktion“ im Oktober 1938.

Nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich am 12. März 1938 befürchteten die Nachbarstaaten eine Welle neuer Emigrantinnen und Emigranten. Darum verschärften sie ihre Einreisebestimmungen. Polen fürchtete, dass durch die „Arisierungen“ in Deutschland ausgeplünderte polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verarmt in ihr Heimatland zurückkehren würden. Darum beschloss das polnische Parlament am 31. März 1938 ein Gesetz, durch das polnischen StaatsbürgerInnen, die länger als fünf Jahre ununterbrochen im Ausland lebten, die Staatsbürgerschaft entzogen werden konnte. Das betraf 30.000 polnische jüdische Menschen in Deutschland und 20.000 in Österreich. Anfang Oktober 1938 sollte das Gesetz umgesetzt werden. Die staatenlos Gewordenen verloren die Berechtigung zur Einreise nach Polen. Tausende jetzt staatenlose Familien wurden daraufhin Ende Oktober 1938 in Deutschland verhaftet, in Sammeltransporten an die polnische Grenze gebracht und dort über die Grenze abgeschoben. Ein Großteil der etwa 17.000 Deportierten sammelte sich in dem damaligen Grenzort Bentschen (Zbąszyń). Mit der „Polenaktion“ begann die Radikalisierung der Judenverfolgung. Die größte Ausweisungsaktion in der deutschen Geschichte war der Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten, bei der im Zusammenspiel von Polizei und Reichsbahn die Logistik der Deportationen erprobt wurde.

Aus Zeitzeugenberichten wird deutlich, mit welcher Brutalität die „Polenaktion“ vor sich ging, die Familien mit ostjüdischer Herkunft aus heiterem Himmel traf, die teils seit Jahrzehnten in Osnabrück lebten. Dem Ehepaar Weintraub ließ man nicht einmal Zeit, Kleidung einzupacken. Eine Nachbarin an der Jahnstraße erinnerte sich daran, wie die Ehrlichs von Gestapobeamten abgeholt wurden: „Es waren mehrere vor der Tür. Kurze Zeit vorher wurde bei uns einmal geschellt und ein riesengroßer langer Mensch riß die Tür auf und fragte energisch, in dem er durch alle Zimmer ging: Wo sind Ehrlichs? Sie vermuteten, dass Ehrlichs bei uns waren.“ Die Behörden vor Ort entschieden darüber, wer abgeschoben werden sollte: „Waren es in einer Stadt bzw. Region ganze Familien, die von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, traf es andernorts nur die männlichen Mitglieder eines Haushaltes. Erreichte die Ausweisung einmal nur polnische Juden, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, so wurden an anderer Stelle auch Klein- und Kleinstkinder abgeschoben.“ Osnabrück gehörte zu den Orten, in denen auch kleine Kinder von der „Polenaktion“ erfasst wurden. Für den vor Ort ausgestellten Ausweisungsbefehl vom 28. Oktober 1938 war die Ortspolizeibehörde der Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Gaertner verantwortlich. Unterzeichnet ist das Schreiben, mit dem der neunjährige Hans Joachim und die zehnjährige Maja Nieporent mit ihren Eltern ausgewiesen wurden, von Oberstleutnant Alfred Jung, seit 1935 Kommandeur der Schutzpolizei in Osnabrück. Das Dokument wurde den Nieporents im Polizeigefängnis an der Turnerstraße ausgehändigt.

Familie Nieporent, Osnabrück 1937            (Archiv Martina Sellmeyer)

Die Tochter Maja Niles, geborene Nieporent, erinnerte sich 1995 in einem Interview der Shoah Foundation, dass sie und ihre Familie mitten in der Nacht verhaftet und in einen Zug gesetzt wurden, der sie nach Bentschen (Zbąszyń) brachte. Ihr Vater wurde gezwungen, die Fahrkarten zum Preis von 150 Reichsmark für die Abschiebung für sich selbst, seine Frau und Kinder von seinem eigenen Geld zu bezahlen. Das Ehepaar und die beiden kleinen Kinder wurden über die polnische Grenze getrieben, „da sie aber keine polnischen Staatsangehörigen waren unter Geschützfeuer zur deutschen Seite gejagt, um hier wieder mit Feuer empfangen zu werden.“ Man ließ die Familie schließlich – wieder auf eigene Kosten – nach Osnarück zurückkehren. Die Ehrlichs und Weintraubs mussten bleiben.

Der aus Hamburg stammende Zeitzeuge Dan Gelbart schrieb über die Verhältnisse in dem polnischen Grenzort: „Tausende von Menschen waren im Bahnhof Zbąszyń auf der polnischen Seite der deutschpolnischen Grenze zusammengepfercht. Körper an Körper, Kopf an Kopf, dicht gedrängt wie eine Herde Vieh, die Zuflucht vor einem herannahenden Sturm sucht. Nur einen Tag vorher waren sie als Hausfrauen, Familienoberhäupter und Schulkinder in aller Ruhe noch ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen. Dann plötzlich wurden sie mit Zügen zur Grenze gebracht und bei Nacht von aufgepflanzten Bajonetten durch das Niemandsland getrieben. Die Schwachen stolperten, die Kranken fielen. Arme umklammerten verzweifelt einige wenige Habseligkeiten. Bald nachdem sie die Bahnhofshalle erreicht hatten, ließen sich die Verzweiflung der Eltern, der Hunger der Kinder und das Leid der Kranken nicht länger unterdrücken. Bald schon konnten auch die polnischen Grenzposten das Schluchzen und Schreien nicht mehr unter Kontrolle halten, das gegen die dunklen Mauern der Bahnhofshalle anstürmte.“

Die Osnabrücker Ehepaare verbrachten mit 8.000 Menschen drei Tag auf den Bahnsteigen – ohne jede Verpflegung, ohne Decken, ohne warme Kleidung. Viele, besonders Kinder, wurden ohnmächtig, es gab Todesfälle und Suizide. Erst am vierten Tag traf Verpflegung ein – vom jüdischen Komitee in Warschau. Die Abgeschobenen wurden schließlich auf polnischen Boden gelassen, mußten aber zunächst in Zbąszyń bleiben, wo sie in leerstehenden Pferdeställen auf einem alten Kasernengelände untergebracht wurden, deren Boden notdürftig mit Stroh bedeckt war. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal, da jegliche Voraussetzungen für eine Versorgung von tausenden Menschen fehlte.

Unter diesen Menschen war auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Als deren 17jähriger Sohn Herschel Grynszpan in Paris vom Schicksal seiner Eltern erfuhr, beschloss er, die Öffentlichkeit aufzurütteln und griff zu einem drastischen Mittel: Er verübte ein Attentat und erschoss einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris, den er für den Botschafter hielt. Seine Tat diente den Nationalsozialisten als Vorwand für die Inszenierung des angeblichen „Volkszorns“ der Novemberpogrome 1938. Adolf Nieporent, der mit seiner Familie dem Elend an der polnischen Grenze entkommen und nach Osnabrück zurückkehren konnte, wurde am 9. November 1938 erneut nachts aus dem Bett geholt, verhaftet und deportiert – diesmal in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar.

In einigen Fällen durften Deportierte aus dem polnischen Grenzgebiet noch einmal in das „Deutsche Reich“ zurückkehren, um dort ihren Haushalt oder ihre Geschäfte aufzulösen. Um sicherzustellen, dass sie wiederkamen, durfte nur ein Ehepartner für kurze Zeit nach Osnabrück zurückkehren – nicht etwa, um warme Kleidung und andere lebenswichtige Dinge aus der Wohnung zu holen, sondern weil man sie zwang, ihren gesamten beweglichen und unbeweglichen Besitz zwangsweise und unter Zeitdruck zu verkaufen. Der in Borohodzin/Polen geborenen Osnabrücker Rohproduktenhändler Elias Weintraub wurde bei der Abfertigung seines Umzugsgutes in Osnbrück am 26. Juni 1939 verhaftet. Der Grund: Er hatte einen von der Devisenstelle von seinem gesperrten Konto für die Aufarbeitung von Möbeln freigegebenen Betrag stattdessen für den Kauf neuer Möbel verwendet, der ihm nicht gestattet worden war. Dafür wurde er vor Gericht gestellt und zu einer Geldstrafe von 3.000 Reichsmark, ersatzweise 60 Tagen Gefängnis verurteilt. Tatsächlich diente das Verfahren wohl dazu, Weintraub auch noch das letzte Geld abzupressen. So verbrachte der ehrbare Kaufmann und Weltkriegsveteran Elias Weintraub die letzten Tage in seiner Heimatstadt wie ein Verbrecher im Gefängnis. Am 5. Juli 1939 musste er nach Polen zurückkehren.

Auch Else Ehrlich, eine gebürtige Dresdnerin, durfte nach ihrer Abschiebung noch einmal nach Osnabrück reisen. Ihre Tochter berichtete der Entschädigungsbehörde 1969: „Meine Mutter bekam eine kurze Aufenthaltsgenehmigung im Juli 1939 und löste in einigen Tagen die Wohnung Jahnstraße auf, verschenkte fast alles, wegen Zeitmangel, packte den Lift, der auch noch später beschlagnahmt wurde, alleine zwei Kisten waren meine Aussteuer. Meine Mutter schrieb uns damals, dass sie nicht einmal die Fahrkarte nach Lwow [Lemberg, heute Lwiw] zu meinem Vater aus dem Erlös des ganzen Hausrats erzielen konnte. Meine Eltern verloren also durch die Verschickung ihr ganzes Vermögen, das Geschäft mit großem Lager und Aussenständen und ihre schöne neueingerichtete nur ein Jahr benutzte Wohnung, und ich auch noch meine Aussteuer.“

Die polnischen Behörden erlaubten die Abreise aus Zbąszyń nur, wenn die Betroffenen nachweisen konnten, dass sie in Polen entweder bei Familienangehörigen bzw. Bekannten unterkommen würden oder entsprechende Papiere für eine bevorstehende Emigration besaßen. Den Ehrlichs gelang es nicht mehr rechtzeitig vor dem deutschen Überfall, aus Polen zu fliehen. Wovon hätten sie die Auswanderung auch bezahlen sollen? Die Kinder von Heinrich Ehrlich erhielten nach dem Krieg von einer Verwandten einen Abschiedsbrief ihres Vaters, den dieser am 18. Mai 1942 aus Lemberg in Polen geschrieben hatte. Er berichtet von einem kalten Winter mit Temperaturen von minus 30 Grad, ohne Kohle und ohne Holz und meist noch bei offenen Türen und Fenstern: „Alle Kräfte sind zerbrochen und [wir] hungern fürchterlich.“ Das tragischste sei aber, dass man am 25. März seine über alles geliebte Frau plötzlich „ausgesiedelt“ habe. „Seit dem Tage habe ich von ihr micht mehr gehört. Niemand kann mir meinen Schmerz nachfühlen.“ Auch die Männer seiner Nichte und seiner Schwester seien bereits im Jahr zuvor weggebracht worden. „Alle jammern & klagen, man kann wahnsinnig werden. Auch wir können alle Tage ausgesiedelt werden & keiner weiss vom Anderen.“ Die „Aussiedlung“ war Tarnung für die Deportation in ein Vernichtungslager. „Wie lange kann es bei mir noch dauern?“ fragte Heinrich Ehrlich in seinem Brief. Seine Kinder haben die Antwort nie erfahren. Wie viele Opfer des Holocaust mit unbekanntem Todesort und -datum wurden Heinrich Ehrlich und seine Frau Else nach Kriegsende gerichtlich für tot erklärt.

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify