Die OR präsentiert einen Künstler, der unsere Realitätswahrnehmung in besonderer Weise in Frage stellt
Azim F. Becker erschafft, was er selbst als „Hypersurrealismus“ bezeichnet – Skulpturen, in denen hyperrealistische Silikon-Gliedmaßen aus neuartigen Stoffen hervortreten und uns angesichts dieser fragmentierten Körper in Verwirrung stürzen, die unsere Wahrnehmung von Realität infrage stellen. Durch diese Spannung zwischen dem Vertrauten und dem Fremden lädt er uns ein, unsere visuellen Gewissheiten neu zu überdenken. Die OR dokumentiert den Wortlaut jener Beschreibungen, die uns der ungewöhnliche Künstler persönlich zustellen ließ.
Hört mir gut zu, ihr Haufen Snobs: Azim F. Becker erwischt uns eiskalt, ohrfeigt uns mit seinen hyperrealistischen Silikon-Gliedmaßen, die aus neuen Stoffen hervortreten, und lässt uns verwirrt, desorientiert und köstlich perplex zurück. Der 1991 in Osnabrück geborene deutsche Künstler, einer der drei Preisträger des renommierten Luxembourg Art Prize 2024, erschafft, was er selbst als „Hypersurrealismus“ bezeichnet – ein Begriff, der klingt wie eine Krankheit, die man sich einfängt, nachdem man an einem Samstagabend die Wände einer Galerie im Pariser Marais geleckt hat.
Seine Arbeiten übersteigen die Grenzen konventioneller Sprache und verkörpern eine viszerale Wahrheit: Hier ist ein Künstler, der verstanden hat, dass wir in einer Welt leben, in der uns die Realität selbst fremd geworden ist! Seine Skulpturen sind wie jene Gespräche, die man um ein Uhr nachts mit Fremden in einer Bar führt – sie wirken tiefgründig im Moment, aber am nächsten Morgen erinnert man sich nur vage daran. Nur hat Becker sie in Silikon eingefroren, damit wir sie nüchtern betrachten können.
Sein Werk „Muckelig (Cozy)“ zeigt zwei Hände, die aus einem engen Knoten aus Fleece-Stoff hervortreten, als wäre jemand in einem zu kleinen Pullover gefangen – oder kuschele sich vielleicht freiwillig ein. Es ist der Unterschied zwischen einem gemütlichen Gefängnis und einem behaglichen Rückzugsort – und genau diese Ambivalenz macht Beckers Werk so fesselnd. Diese hyperrealistischen Gliedmaßen scheinen zu sagen: „Hey, schau mich an, ich bin echt!“, während ihr surrealer Kontext flüstert: „Aber vielleicht bin ich es doch nicht.“
Beckers Ansatz erinnert merkwürdig an Eugène Ionescos Vorstellungen vom Theater des Absurden, der schrieb: „Das Absurde existiert nicht ohne eine unzerstörbare Hoffnung, ohne eine ewige Verdammung.“ Diese Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Festhalten und Loslassen, ist spürbar in „Sprout’n Prop“, wo eine Hand eine erhobene Faust stützt. In einer Welt, in der Gesten oft auf Symbole reduziert werden, wird eine Faust zwangsläufig politisch – Becker lädt uns ein, unsere automatischen Assoziationen zu überdenken.
Ionesco hätte sicher zu schätzen gewusst, wie Becker den fragmentierten Körper nutzt, um das Unaussprechliche auszudrücken. In „Die kahle Sängerin“ zeigte Ionesco, wie Sprache zum Gefängnis werden kann – zu einer Reihe leerer Floskeln. Ebenso zeigt Becker mit hyperrealistischen Körperfragmenten, wie unsere Wahrnehmung des menschlichen Körpers längst kodifiziert ist – überladen mit Bedeutungen, die wir ihm auferlegen, bevor wir wirklich hinsehen. Wenn wir eine erhobene Faust dunkler Hautfarbe sehen, verbindet unser medial gesättigtes Gehirn sie sofort mit aktuellen sozialen Bewegungen – und übersieht dabei andere mögliche Deutungen.
Beckers künstlerische Reise wird besonders relevant, wenn er fragt: „Inwieweit beeinflussen Hautfarben unser Denken und Assoziieren?“ Diese Frage hallt in unserer identitätsbesessenen Zeit nach – einer Zeit, in der Kunst oft auf ihren vermeintlichen politischen Wert reduziert wird, statt nach ihrer ästhetischen oder emotionalen Wirkung beurteilt zu werden. Becker, ein Künstler mit dunkler Haut, fragt sich, ob er Werke schaffen kann, ohne dass diese automatisch als politische Kommentare gelesen werden – nur aufgrund seiner Identität. Eine Frage, die sich nur wenige so offen zu stellen wagen.
Der rumänische Philosoph Emil Cioran hätte in dieser bewussten Ambivalenz Beckers sicherlich einen Widerhall gefunden. Cioran, Meister des leuchtenden Pessimismus, schrieb: „Wir bewohnen kein Land, wir bewohnen eine Sprache. Eine Heimat ist das – und nichts anderes.“ Ebenso bewohnt Becker nicht das festgelegte Territorium einer zugewiesenen Identität, sondern die visuelle Sprache, die er selbst geschaffen hat – diesen Hypersurrealismus, in dem fragmentierte Körper eine universelle Sprache menschlicher Emotionen sprechen.
Ciorans Gedanke zur Absurdität der menschlichen Existenz findet seine perfekte Illustration in „Foot in a cordpantsknot“, wo ein Fuß aus einem verknoteten Hosenbein hervorragt. Dieses Bild evoziert Bewegungsunfähigkeit, Verstrickung – aber vielleicht auch ein seltsames Gefühl von Geborgenheit in der Begrenzung. Genauso wie Cioran eine Art Befreiung in seinem radikalen Pessimismus fand. Der Philosoph behauptete: „Alles, was existiert, schmerzt mich – und alles, was nicht existiert, ebenso.“ Dieses doppelte Leiden – das an dem, was ist, und dem, was sein könnte – spiegelt sich in Beckers Werken wider, wo das Reale (diese verblüffend realistischen Silikon-Gliedmaßen) mit dem Unmöglichen (ihre surreale Anordnung) koexistiert.
Ciorans Faszination für Paradoxien findet ein Pendant in Beckers Werk: „Bewusstsein ist mehr als der Stich des Unbekannten – es ist die Belagerung des Mysteriums der Klarheit.“ Diese paradoxe Klarheit steht im Zentrum von Beckers Schaffen. Er nutzt Hyperrealismus, um uns an unserer Wahrnehmung der Realität zweifeln zu lassen. Seine Skulpturen sind zugleich vertraut und fremd, intim und entfremdend.
Der Künstler sagt: „Ich konfrontiere die Betrachter nicht mit der Realität; sie konfrontieren sich selbst, wenn sie versuchen, meine surrealistischen Skulpturen in ihre eigene Realität und Gegenwart zu übersetzen.“ Dieser Satz hätte bei Cioran sicher Anklang gefunden, der davon ausging, dass unser Verhältnis zur Welt stets durch unsere Illusionen und subjektiven Deutungen vermittelt ist. Für den Philosophen wie für den Künstler liegt die Wahrheit in diesem Raum zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir glauben zu sehen.
Knoten sind in Beckers Werk allgegenwärtig – verknotete Textilien, verstrickte Gliedmaßen – und sie funktionieren als visuelle Metaphern für die Widersprüche der Existenz, wie Cioran sie in seinen Schriften erforschte. Diese Knoten stehen für unsere Versuche, dem Leben einen Sinn zu geben, Verbindungen zu schaffen in einer fragmentierten Welt. Manchmal spenden diese Verbindungen Trost (wie in „Muckelig“), manchmal fesseln sie uns (wie in „Foot in a cordpantsknot“).
Was Becker von vielen zeitgenössischen Künstlern unterscheidet, ist sein Verzicht auf vorgekaute Interpretationen. Er zwingt seinen Werken keine festen Bedeutungen auf, sondern lässt sie offen – wandelbar durch Zeit und individuelle Erfahrung. Dieser Ansatz erinnert an Ciorans Abneigung gegen abgeschlossene philosophische Systeme und seine Vorliebe für Fragmente und Aphorismen, die Raum für Ambivalenz und Widerspruch lassen.
Beckers Skulpturen stellen auch unser Verhältnis zur Zeit infrage. Wie er selbst sagt, entstehen seine Werke „mit direktem Bezug zum gegenwärtigen Moment, sind aber gleichzeitig zeitlos und losgelöst von der aktuellen Realität“. Diese Spannung zwischen dem Momentanen und dem Ewigen war auch ein zentrales Thema bei Cioran, der schrieb: „Die Zeit ist ein Mysterium, das uns durch seine Anwesenheit und seine Abwesenheit herausfordert.“ Beckers Körperfragmente scheinen in einem zeitlichen Dazwischen zu schweben – eingefroren im Moment ihrer Entstehung und offen für unzählige zukünftige Deutungen.
Die Theatralik von Beckers Werk ist ebenso hervorzuheben. Seine Skulpturen wirken wie Schauspieler, eingefroren mitten in einer Aufführung, deren Anfang und Ende wir nicht kennen. Ionesco schrieb über das absurde Theater: „Das Komische ist die Intuition des Absurden, es scheint mir verzweifelter als das Tragische.“ Diese Verschmelzung von Komik und Tragik ist in Beckers Werken spürbar – sie oszillieren zwischen schwarzem Humor (diese Gliedmaßen, die aus alltäglichen Stoffen hervorbrechen) und tiefem Unbehagen (dem verstörenden Realismus dieser menschlichen Fragmente).
Die Materialität von Beckers Arbeiten – der Kontrast zwischen dem weichen Textil und dem simulierten Fleisch aus Silikon – erzeugt eine taktile Dissonanz, die seine konzeptuelle Aussage verstärkt. Unsere Körper sind zugleich Rüstung und Gefängnis, Ausdrucksmittel und Einschränkung. Wie Ionesco schrieb: „Wir sind durch die Phantasmen unseres Denkens von uns selbst und der sichtbaren Welt getrennt.“ Beckers Skulpturen materialisieren diese Trennung – diese Gliedmaßen, die aus ihrem textilen Kokon hervorzubrechen scheinen, wie unser Bewusstsein versucht, sich aus den Grenzen des Körpers zu befreien.
Die Anonymität der Körper in Beckers Werk – auf Gliedmaßen reduziert, ohne Gesicht, ohne klare Identität – erinnert an Ionescos Vision der Entmenschlichung in der modernen Gesellschaft. In „Rhinocéros“ zeigte Ionesco, wie Individualität durch sozialen Konformismus ausgelöscht werden kann. Ebenso reduziert Becker seine Subjekte zu anonymen Fragmenten – und stellt damit paradoxerweise unsere Tendenz infrage, genau diese Fragmente sofort nach Hautfarbe oder anderen Identitätsmerkmalen einzuordnen.
Die Frage der Wahrnehmung, zentral in Beckers Werk, trifft sich mit Ionescos Auseinandersetzung mit menschlicher Kommunikation. Der Dramatiker zeigte, wie Sprache, eigentlich zum Verstehen geschaffen, oft zum Hindernis wird. Becker macht dasselbe mit der Körpersprache: Gesten und Haltungen, die wir instinktiv zu verstehen glauben, sind in Wahrheit überlagert von unseren Projektionen und Vorurteilen.
Was an Becker besonders bemerkenswert ist, ist seine Fähigkeit, Werke zu schaffen, die politisch aufgeladen und zugleich politisch ambivalent sind. In einer Gegenwartskunst, die oft vom pädagogischen Zeigefinger dominiert wird, wo Kunst eine klare und tugendhafte „Botschaft“ haben muss, zieht Becker es vor, Fragen zu stellen statt Antworten zu liefern. Wie Cioran schrieb: „Man kann nur Kandidat seines eigenen Untergangs sein. Jede andere Kandidatur ist Schwindel.“ Becker verweigert sich dem Schwindel des Künstlers als moralischer oder politischer Führer – er konfrontiert uns lieber mit unseren eigenen Widersprüchen.
In dieser Auseinandersetzung mit Azim F. Beckers Werk drängt sich mir der Gedanke auf, dass seine Arbeit genau das ist, was die zeitgenössische Kunst dringend braucht: weniger Predigten, mehr Fragen; weniger Gewissheiten, mehr fruchtbare Ambiguität. In einer Kunstwelt voller einfacher Botschaften und austauschbarer Ästhetiken bietet Becker uns visuelle Rätsel, die sich schneller Konsumierbarkeit und leichter Verdaulichkeit widersetzen.
Sein Hypersurrealismus ist nicht nur ein visueller Stil – er ist eine philosophische Haltung: die Anerkennung, dass die Realität selbst so seltsam geworden ist, dass nur das Surreale ihr noch gerecht werden kann. Wie er selbst sagt: „In Zeiten, in denen die Realität seltsam wird, ist das Surreale der Realität am nächsten.“ Dieser Satz könnte ebenso gut von Cioran oder Ionesco stammen – den beiden Erkundern des Absurden, die verstanden haben, dass der direkteste Weg zur Wahrheit manchmal über den Umweg des Seltsamen führt.
Wenn du also das nächste Mal einer Silikonhand oder einem Fuß begegnest, der aus einem Stoffknoten ragt, frag dich nicht nur, was der Künstler damit gemeint hat – sondern auch, was dieses Bild über deine eigenen Annahmen und mentalen Verknüpfungen offenbart. Denn genau dort, in diesem Raum der persönlichen Reflexion, liegt die wahre Kraft von Azim F. Beckers Kunst. Und genau für diese Fähigkeit, uns auf den Grundfesten unserer automatischen Wahrnehmung ins Wanken zu bringen, behauptet sich sein Werk als eine der eigenwilligsten und notwendigsten Stimmen der zeitgenössischen Kunstszene.