Donnerstag, 2. Mai 2024

Auch in Bramsche: Erinnerung an Reichspogromnacht

Auch in Bramsche wurde am 85. Jahrestag an die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 erinnert, als im nationalsozialistischen Deutschland landesweit und gleichzeitig mit gezielten Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen wurde. In dieser Nacht wurden jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, Synagogen wurden geschändet und niedergebrannt. Mehr als 30.000 jüdische Deutsche wurden verhaftet und verschleppt, mehr als tausend Juden und Jüdinnen überlebten es nicht.

Nur, in Bramsche gab es keine Synagoge. Hier hatten nur vereinzelt jüdische Familien gelebt. Die letzte jüdische Familie, die Familie des Viehhändlers Ernst Voss, war bereits 1937 nach Argentinien geflohen. In Bramsche gab es also auch 1938 keine Juden mehr. Dennoch lohnt sich ein Blick auf diese Zeit – auch in Bramsche. Dies meinten zumindest Stefanie Uhlenkamp von dem bei der Stadt Bramsche angesiedelten Projekt „Demokratie leben Bramsche“ und Anita Sutthoff und Johanna Gellrich von der Bramscher Außenstelle der Volkshochschule Osnabrücker Land, die im Vorfeld den Bramscher Geschichtsforscher und Autor Dieter Przygode einbezogen hatten und in Bramsche vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Antisemitismus und Rassismus mit drei Veranstaltungen auf dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte aufmerksam machen wollten.


Lebenswelt der Rechtsextremen

Den Anfang machte der Dipl. Sozialpädagoge und Argumentationscoach Tim Reinermann, der Einblicke in die „Lebenswelt der Rechtsextremen“ gab. In einem dreistündigen Vortrag informierte er über die Lebenswelt der Rechtsextremen, welche Codes und Symbole sie nutzen. An welcher Kleidung, Musik oder aktuellen Zeitschriften sie zu erkennen sind. Im anschließenden Erfahrungsaustausch wurden von Besuchern angesprochene einzelne Fälle und persönliche Erfahrungen erörtert und diskutiert.


Jüdisches Leben in Bramsche

In einer Lesung am 8. November 2023 gab Dieter Przygode (Buch: „Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss“, Verlag Hentrich & Hentrich Leipzig / Berlin) im Lesesaal der Stadtbücherei Bramsche einen Überblick über „Jüdisches Leben in Bramsche“.

Er spannte den Bogen von der ersten urkundlichen Erwähnung von Juden auf deutschem Territorium vor etwa 1.700 Jahren über die ersten Hinweise von Juden in Bramsche und der ersten Ansiedlung einer jüdischen Familie in dieser Stadt bis zur letzten Familie, die Bramsche 1937 verlassen hat, der Familie Voss.

Er schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass die deutschen Juden und damit auch die Juden, die in Bramsche gelebt haben, sich weder in ihrer Kleidung noch in ihrem Aussehen von den deutschen Nichtjuden unterschieden hätten, sondern erst die Nazis mit ihrer „Rassenlehre“ sie gezwungen hätten, sich unterscheidbar zu machen. Und er appellierte an die Zuhörer:innen: „Dass es heute wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt, in Osnabrück, vielleicht ja auch in Bramsche, zeigt: Hitler hat nicht gewonnen! Helfen Sie jetzt und in Zukunft mit, dass das so bleibt.“


Dokumentarfilm „Endlich Tacheles“

Hauptpunkt des Projektes aber war der Dokumentarfilm „Endlich Tacheles“, der am 9. November 2023 im großen Sitzungssaal des Bramscher Rathauses gezeigt wurde.

In seiner Begrüßungsansprache hob Bramsches Bürgermeister Heiner Pahlmann die Bedeutung solcher Veranstaltungen in der heutigen Zeit hervor: „Gerade im Hinblick auf den wieder sichtbar werdenden Antisemitismus in Deutschland ist es wichtig, dass die Menschen sich vor Augen führen, was damals geschehen ist.“

Nach den Worten von Anita Sutthoff (VHS) war eigentlich geplant, einen anderen Film zu zeigen, einen sogenannten „Vorbehaltsfilm“, wie die Propagandafilme aus der Zeit des Nationalsozialismus von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung bezeichnet werden. Solche Filme mit kriegsverherrlichendem, rassistischem oder volksverhetzendem Inhalt dürfen nur unter besonderen Bedingungen gezeigt werden. Daher entschied man sich, der Empfehlung von Przygode zu folgen, der bereits einen Kontakt zu Elieser „Ilei“ Zavadsky in Berlin hatte, einem Angehörigen der in dem Film Endlich Tacheles beschriebenen jüdischen Familie.

„Wir, die wir solche Geschichten recherchieren, können nur einen Blick von außen auf das Schicksal der jüdischen Menschen werfen. Dieser Film aber erlaubt einen authentischen Einblick in das Innenleben einer vom Holocaust betroffenen Familie mit all ihren Konflikten, Emotionen und dem Schmerz, über Generationen“, beschreibt Przygode seine Intention zu diesem Film.

In diesem eindrucksvoll von Jana Matthes und Andrea Schramm inszenierten Dokumentarfilm über einen jungen Juden im heutigen Berlin und seine verrückte Idee gegen das Vergessen geht es um Yaar, der sich für den „unjüdischsten“ Juden der Welt hält. Er liebt Star Wars und Computerspiele. Von seinem Vater und dessen Holocaustgeschichten hat er die Nase voll. Um sich abzugrenzen, entwickelt er ein Computerspiel mit wehrhaften Juden und menschlichen Nazis. Doch dann funkt ihm seine eigene Familiengeschichte dazwischen. Endlich Tacheles zeigt, wie sich das Trauma der Überlebenden bis in die dritte Generation frisst und stellt eine hochaktuelle Frage aus der Sicht eines 21-Jährigen:

„Was hat der Holocaust heute noch mit mir zu tun?“

(Auf eine nähere Beschreibung des Films wird verzichtet, weil geplant ist, den Film am Holocaustgedenktag am 27. Januar 2024 ein weiteres Mal in Bramsche zu zeigen. Die Regisseurin Andrea Schramm hat ihr Kommen zugesagt.)

Roman „Romek“ (Foto: Elieser Zavadsky)

Nur so viel: Neben Yaar geht es um dessen Vater Ilei und dessen Großmutter Rina und um Roman („Romek“), den kleinen Bruder von Rina, der den Nazis in die Hände fiel. Die wahre Geschichte über die Umstände des Todes des kleinen Romek erfuhr die Familie erst während der Dreharbeiten zu dem Film. Elieser „Ilei“ Zavadsky, der Vater von Yaar, schildert das so: „Diesen Film zu drehen war fast nie einfach. Für mich war es eine schmerzhafte aber auch befreiende Reise in meine Biographie.“


Tiefe Eindrücke hinterließ die 100 Minuten lange Dokumentation bei den Besucher:innen.  Hier ein paar Stimmen:

Bürgermeister Heiner Pahlmann:
„Der Film zeigt, dass die generationenübergreifende Auseinandersetzung mit dem Holocaust unabdingbar für unsere Gesellschaft ist.“

Silke van Doorn, Pastorin in Bramsche-Achmer und seit kurzem Sektionsleiterin Raanana / Israel im Bramscher Städtepartnerschaftsverein:
„Über die Anfangsszenen war ich etwas verwirrt. Aber die Idee eines Computerspiels zur Thematik fand ich gut – wie sonst könnte der heutigen Generation Jugendlicher ein Zugang, ein emotionaler Zugang zu den Ereignissen dieser Zeit näher gebracht werden? Ganz schnell wurde aus der anfänglichen Verwunderung ein tiefer gehendes Verstehen für mich: Die Familie aus Mutter, Vater, Oma und eben auch Roman, dem ermordeten Onkel des Protagonisten erzählten und brachen Schweigen, setzten sich auseinander, waren verwundert, was nach dem Schweigen herauskam: Tränen zunächst, Verstehen danach. Der Wehmutstropfen: Jüngere Menschen fehlten. Aber der Film sollte in den Schulen gezeigt und diskutiert werden.“

Stefanie Uhlenkamp, Demokratie leben in Bramsche:
„Der Film hat mich sehr berührt. Er eignet sich ausgezeichnet, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich würde mir wünschen, dass die Schulen den Film im Unterricht schauen und bearbeiten.“

Talkrunde

Zu der anschließenden Talkrunde, die nicht nur den Film zum Thema hatte, kam auch Baruch Chauskin, der Kantor der Jüdischen Gemeinde Osnabrück hinzu, der es erfreulicherweise noch geschafft hatte nach Bramsche zu kommen, obwohl er bei einer zuvor stattfindenden Veranstaltung in Osnabrück eingebunden war.

Talkrunde von links: Bürgermeister Heiner Pahlmann, Kantor Baruch Chauskin, Dieter Przygode und Anita Sutthoff (Foto: Stefanie Uhlenkamp)

Dieter Przygode schilderte, dass er Baruch Chauskin schon seit der Arbeit an seinem Buch kennengelernt hatte, als dieser ihm das jiddische Lied „Basavilbaso“ ins Hochdeutsche übersetzt hätte. Ihre Wege hätten sich danach öfter gekreuzt: bei einer Veranstaltung in der ehemaligen Synagoge in Petershagen bei Minden, wo Przygode einen Vortrag gehalten und Chauskin den musikalischen Part bestritten habe und dabei auch das besagte Lied vorgetragen habe. Für den VfL Osnabrück habe Chauskin die Vereinshymne auf Jiddisch in einem Youtube-Video aufgenommen.

Baruch Chauskin, der im lettischen Riga geboren ist und seit Ende der 1990er Jahre in Deutschland lebt, nutzte die Gelegenheit, sein Projekt vorzustellen: den Verein „Drei Stufen e. V.“, der sich um die Erinnerung an die Geschichte der einst vor dem 2. Weltkrieg existierenden jüdischen Gemeinde in dem kleinen Ort Višķi bei Daugavpils in Lettland kümmere. Er selbst habe dort vor etlichen Jahren die Überreste der ehemaligen Synagoge entdeckt, drei Stufen.

Bei einer Johanna Gellrich, VHS Osnabrücker Land, spontan organisierten Sammlung kam noch einen kleiner Betrag zusammen, der Baruch Chauskin im Beisein von Peter Befeldt, dem zweiten Vorsitzenden des Vereins, überreicht werden konnte.

Bürgermeister Pahlmann war es, der die Frage an Chauskin formulierte, die vermutlich allen Anwesenden unter den Nägeln brannte: „Wie fühlt sich momentan das jüdische Leben in Ihrer Gemeinde an angesichts des brutalen Überfalls der terroristischen Hamas auf Israel und dem tausendfachen Leid, das dieser Überfall angerichtet hat?“

In Osnabrück habe es noch keine Übergriffe oder ähnliche Aktivitäten gegeben, wie sie in Berlin oder anderen größeren Städten stattgefunden hätten. Man merke aber, dass die Stimmung gedrückt und der tägliche Blick sorgenvoll sei, erklärte Chauskin und nannte ein Beispiel: „Eine Frau hat mir gesagt, dass sie die bisher außen an ihrer Wohnungstür angebrachte Mesusa, im Jüdischen eine Art Talisman, der Unheil fernhalten soll, jetzt von innen befestigen möchte, damit man nicht sofort von außen sehen kann, hier wohnt eine jüdische Familie.“ Daran könne man erkennen, dass an die Stelle der in den letzten Jahren vollzogenen Öffnung und Offenheit der jüdischen Menschen gegenüber ihren Mitmenschen in Deutschland eine tiefen Sorge getreten sei.

„Die diesjährige Veranstaltungsreihe hat deutlich gezeigt, dass wir uns im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder dem Thema widmen sollten“, fasste Stefanie Uhlenkamp ein Resümee und wagte einen Blick voraus. „Es ist uns im Sinne von Demokratie leben! ein großes Anliegen eine moderne Form der Erinnerungskultur zu finden, damit wir auch junge Menschen mitnehmen können.“

Jiddische Lieder und Totengebet

Überreichung der Spende an den Verein Drei Stufen e. V. (Foto: Stefanie Uhlenkamp)

Baruch Chauskin begeisterte die Besucher:innen mit zwei jiddischen Liedern „A bissl zun“ und „Dos Shtetl Višķi“, die er mit melancholisch-kräftiger Stimme, nur von einer Gitarre begleitet, vortrug. Das Publikum honorierte Chauskins Darbietung mit kräftigem Applaus und einer stattlichen Spende für sein Projekt „Drei-Stufen“.

Zum Abschluss sprach er die letzte Strophe des Totengebets „Osse Shalom Binromav“ auf Hebräisch für die in den NS-Vernichtungslagern umgekommenen Juden, die in Bramsche geboren waren: Die Brüder Ludwig und Isidor Frank und Ruth ten Brink, alle drei wurden 1942 bzw. 1943 in Auschwitz ermordet.


BU Titelfoto: „Jüdisches Leben in Bramsche“ am 8. November 2023 (Foto: Günter Nannen, Stadtbücherei Bramsche
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