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Sonntag, 23. November 2025

Volkstrauertag im Schinkel – und eine Ansprache im Wortlaut

Schinkeler Bürgervereine gedachten der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft

Eine stilvolle Gedenkveranstaltung führten die beiden Bürgervereine Schinkel und Schinkel-Ost am gestrigen Totensonntag auf dem Schinkeler Friedhof durch. Ansprachen hielten für die beiden Bürgervereine Carsten Friderici sowie OR-Redakteur Heiko Schulze. Die Trompeterin Silke Nagel, der Pianist Andreas Scholz und der Singkreis Atter sorgten für eine würdige musikalische Umrahmung.

Carsten Friderici machte bereits bei seiner Begrüßung in der Friedhofskapelle klar, warum die beiden Bürgervereine unverändert an der bewährten Veranstaltung des Volkstrauertags festhalten: „Wir sind es den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft schuldig, die Erinnerung an sie wachzuhalten.“

Als konkrete Stichworte aus der Schinkeler Geschichte nannte er Bombenkriegsopfer aus der einheimischen Bevölkerung wie aus den Reihen der Zwangsarbeitenden. Als Beispiel für einen ermordeten Widerstandskämpfer nannte er Max Kowalski. Friderici: „Er, wohnhaft Bruchdamm 15a, wurde 1936 ein weiteres Mal verhaftet, unter anderem, weil die ermittelnden Gestapobeamte bei ihm eine Schreibmaschine gefunden hatten. Am Ende starb der Kommunist Max Kowalski im Alter von nur 45 Jahren Ende 1944 im Zuchthaus Bremen-Oslebshausen.“ Er, nicht minder andere Opfer der NS-Gewaltherrschaft, so Frederici, sollten auch am Volkstrauertag niemals vergessen werden.

Trompeterin Silke Nagel, der Pianist Andreas Scholz und der Singkreis Atter
Silke Nagel (Trompete), Andreas Scholz (Klavier) und der Singkreis Atter

Für eine perfekte musikalische Umrahmung sorgten während der Veranstaltung immer wieder Silke Nagel (Trompete) und Andreas Scholz (Klavier), engagiert unterstützt vom stimmstarken Singkreis Atter. Zum Repertoire der Musizierenden zählten antifaschistische Traditionsklänge wie „Bella Ciao“ und „Moorsoldaten“, ebenso „Sag mir, wo die Blumen sind“, nicht zuletzt das zeitlos aktuelle Volkslied „Die Gedanken sind frei!“.

OB Katharina Pötter legte für die Stadt Osnabrück einen Kranz nieder. Links neben ihr: Bürgervereinsmitglied und SPD-OB-Kandidat und Robert Alferink
OB Katharina Pötter legte für die Stadt Osnabrück einen Kranz nieder. Links neben ihr: Bürgervereinsmitglied und SPD-OB-Kandidat Robert Alferink

Im Anschluss begab sich das Publikum zur Kranzniederlegung am Mahnmal des Ehrenfriedhofs. Den Kranz für die Stadt legte Oberbürgermeisterin Katharina Pötter nieder, die dabei von den Ratsmitgliedern Robert Alferink und Claudia Schiller begleitet wurde. Einen weiteren Kranz platzierten unter dem Ehrenmal die beiden Bürgervereinsvorsitzenden Monika Praxl (Schinkel-Ost) und Carsten Friderici (Schinkel).

Stimmungsvoll abgeschlossen wurde die sehr würdige Gedenkveranstaltung durch Silke Nagels Trompetensolo „Silenzio„, als „Taps“ in den USA ein fester Bestandteil des militärischen Trauer- und Beisetzungszeremoniells – unverändert verbunden mit dem Kultfilm „Verdammt in alle Ewigkeit“ von 1953. Die ausführliche Ansprache, die OR-Redakteur Heiko Schulze als Historiker hielt, wird im Folgenden mit seinen zentralen Passagen dokumentiert.



Heiko Schulze:
Ansprache zum Volkstrauertag 2025 im Wortlaut


Gehalten am 15. November in der Kapelle des Schinkeler Friedhofs

Ich könnte es mir, als gelernter Historiker, natürlich ganz leicht machen – „total easy“, wie es auf Neudeutsch heißt. Ich könnte in der Rückschau mit großer Distanz und ganz allein an Dinge von früher erinnern, mit denen der Volkstrauertag gewachsen ist: Erinnern an Geschehnisse, die vor über 80 Jahren passiert sind – und in Deutschland natürlich nie wieder passieren dürfen. Allein schon deshalb bleibt diese Erinnerung auch am Volkstrauertag 2025 von ganz hoher Bedeutung. Kurzum: Man muss erinnern!

Erinnern an traurige Zahlen: Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 forderte weltweit 17 Millionen Tote. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Kriegsfolgen hat von 1939 bis 1945 über 60 Millionen Menschenleben gekostet. Allein in der damaligen Sowjetunion haben 24 Millionen Menschen durch deutsche Gewalt ihr Leben verloren. Wem diese Zahlen von insgesamt über 60 Millionen zu abstrakt sind: 60 Millionen Tote – das wären heutzutage mehr Menschen als die, die aktuell allein in Italien leben. Diese verheerende Opferzahl zu nennen, bleibt also die traurige Pflicht an diesem Tage.

Besonders nahe gehen uns da unsere Osnabrücker Schicksale, die Schicksale unserer Familien und unserer Nachbarinnen und Nachbarn. Es sind nackte Zahlen mit ebenso vielen traurigen Schicksalen und einer vielfachen Zahl von trauernden Hinterbliebenen. Bis zum Jahr 1945 kamen in Osnabrück allein durch Luftangriffe insgesamt 1.434 Menschen ums Leben. Darunter haben sich 268 Kriegsgefangene, Häftlinge und Zwangsarbeitende aus vielen Ländern befunden.Hinzu dürften weit über tote 6.000 Soldaten kommen, die nie wieder zu ihren Familien nach Osnabrück heimkehren konnten.

Ein Volkstrauertag ist aber nicht nur der Anlass, über Tote im direkten Kriegsgeschehen nachzudenken. Wir erinnern zugleich an Menschen, die in der Gefangenschaft oder auf der Flucht umgekommen sind. Wir gedenken der Männer und Frauen, die ihren mutigen Widerstand gegen die Diktatur mit ihrem Leben gebüßt haben. Carsten Frederici hat dazu eben dankenswerterweise Namen aus dem Schinkel genannt. Viele sind ja auch in unserem gemeinsamen Buch zum Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit dokumentiert. Ich füge daraus zwei Überlebende hinzu:

Franz Lenz, schon vor 1933 Metall-Gewerkschafter aus dem Schinkel, arbeitend auf dem Stahlwerk, nach dem die Franz-Lenz-Straße benannt ist, pachtete mit anderen unter großen Gefahren den Kotten Eekenpacht in Lienen-Holperdorp. Da wiederum diskutierten Antifaschistinnen und Antifaschisten regelmäßig über Widerstand bis hin über Planungen zur Zukunft Deutschlands.

Erinnern darf ich an Josef Burgdorf, Journalisten-Pseudonym Ilex, den die Nazis am 1. April 1933 durch die Straßen trieben, mehrfach in Gefängnissen wie im KZ einsperrten und der trotzdem eine Widerstandsgruppe geleitet hat. Wohnhaft in der Borsigstraße, musste er hilflos zusehen, wie sein Sohn Herbert regelmäßig von Hitlerjungen verprügelt wurde.

Wir erinnern in diesem Zusammenhang natürlich auch an Nachbarinnen und Nachbarn, vielleicht sogar eigene Vorfahren, die verfolgt und vernichtet wurden. Die allein deshalb umgebracht wurden, weil sie als parteipolitische Gegner, als Jüdinnen und Juden, als Sinti und Roma oder als Mitglieder weiterer Minderheiten nicht in das Bild der Nazis passten. Wir erinnern uns ebenso an Ausgebürgerte, die für lange oder sogar für immer entwurzelt worden sind. Sie alle dürfen wir nie vergessen. Nicht nur am Volkstrauertag.

Hinter jedem einzelnen Schicksal steckt eine ganz persönliche Geschichte über einen einzigen geliebten Menschen, über seine Ziele, seine Wünsche, Träume – und seinen grausamen Kriegstod. Es lohnt sich, nicht nur heute mal einen ganz kurzen Moment innezuhalten und an Menschen zu denken, die uns dabei einfallen.

Eine Pflichtaufgabe für einen gelernten Historiker bleibt es heute natürlich, an den eigentlichen Sinn und Zweck des Volkstrauertages selbst zu erinnern.Dieser Volkstrauertag wurde vor exakt 106 Jahren zunächst nur gefordert. Zumindest wurde er dringend erbeten. Dringend erbeten worden ist er damals vom 1919 gegründeten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Erinnert und ermahnt werden sollte an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges. Denn deren Gräber sollten als dauerhafte Warnung vor Krieg und Gewalt gepflegt und erhalten werden. Nicht als Heldengedenkstätte, sondern als Mahnung an die Lebenden.

Von der Anregung zur Umsetzung hat es seit 1919 drei Jahre gedauert.Die erste offizielle Feierstunde hat dann 1922 im Deutschen Reichstag in Berlin stattgefunden. Der Reichstagspräsident jener Zeit, der Sozialdemokrat Paul Löbe, hat damals im In- und Ausland vielbeachtete Worte gefunden. Löbe hat diese Rede gehalten, um allen – immer lauter werdenden – Kriegs- und Rachegelüsten ebenso laut den Gedanken an Versöhnung und Verständigung unter den Völkern entgegenzuhalten. Von rechts und rechtsaußen ist er dafür hasserfüllt als Vaterlandsverräter oder, wie es damals so gern hieß, als „vaterlandsloser Geselle“, angefeindet worden.

Seit 1926, also vor 99 Jahren, haben danach alle Länder des alten Deutschen Reiches den Volkstrauertag begangen.Nächstes Jahr wird der deutsche Volkstrauertag somit auf dieser Basis exakt 100 Jahre alt. Erinnert wird dabei immer an die sogenannten „Gefallenen“.

Naja. Es ist ein Wort, das ich persönlich absolut nicht mag. Ich finde es angesichts von Menschen, die zumeist einen schrecklichen und qualvollen Tod gestorben sind, viel zu verharmlosend. Mein eigener Vater hat mir oft von seinen Kriegseinsätzen in Italien, Polen oder Russland erzählt. Ich werde es nie vergessen, wenn er mir berichtet hat, dass sterbende Soldaten keineswegs – wie in harmlosen Filmen – ruckzuck umfallen und still ihre Augen schließen. In Wahrheit, so mein Vater wälzen sie sich oft mindestens 24 Stunden lang qualvoll wegen ihrer furchtbaren Verletzungen. Jeder Soldat vor ihnen hört und sieht, wie die tödlich Verwundeten oft mit weit geöffneten Augen jämmerlich schreien. Welcher Weltschriftsteller hat all dies so klug und so einfühlsam niedergeschrieben wie unser Osnabrücker Literat Erich Maria Remarque in seinem zeitlosen Weckruf „Im Westen nichts Neues“?

Das Wort „gefallen“ klingt mir auch nach diesen Eindrücken wie hinfallen und stolpern. Ich spreche lieber über Kriegstote. Aber das mag Geschmacksache sein. Vielleicht ist es auch nicht so wichtig. Denn irgendwann musste in der deutschen Geschichte das Wort „Gefallenenehrung“ sogar verteidigt werden – auch von mir heute.

Verteidigen muss man das Wort darum, weil Nationalsozialisten und ihr Propagandaminister Josef Goebbels den damaligen Volkstrauertag von 1933 bis 1945 zu einem bombastisch gefeierten „Heldengedenktag“ erkoren haben. „Heldengedenktag“. Nazis wollten also allein an Kriegshelden erinnern. Verzweifelte, verkrüppelte und traumatisierte Menschen gab es im Kopfe eines Nationalsozialisten nicht.

Nationalsozialisten wollten dafür kultisch an solche erinnern, die möglichst viele sogenannte Feinde zu Tode gebracht haben. Statt Trauer sollte Wut, aus der Wut wiederum Pathos und Begeisterung entstehen. Pathos und Begeisterung, um danach sobald möglich wieder euphorisch in einen Krieg zu ziehen, um dann wiederum Held für spätere Heldengedenktage zu werden. Ich weiß nicht, wie es anderen Älteren in dieser Runde ergangen ist: „Heldengedenktag“ hieß es manchmal im Umgangsdeutsch sogar noch in meiner persönlichen Kindheit in den 50er-, 60er- und sogar 70er-Jahren. Zumindest das scheinen wir heute aber überwunden zu haben.

Wir begehen den Volkstrauertag also schon länger als die Entstehung der Bundesrepublik. Und zum Glück hat bislang niemand den ernsthaften Vorschlag gemacht, auf diesen Gedenktag zu verzichten. Worum geht es denn heute tatsächlich? Die zentrale Gedenkstunde im Bundestag steht in diesem Jahr unter dem Motto: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“. In vielen Jahrzehnten hätten die eben gemachten Verweise auf die Geschichte als Stoff für eine Rede zum Volkstrauertag gereicht.

Aber Gedenktage sollen, finde ich, vor allem dazu da sein, das Wort „Denken“ im Begriff des Gedenktages ernst zu nehmen. Hinzu kommt das eben genannte Motto „Arbeit für den Frieden“, das keine leere Worthülse bilden darf.

Zur Friedensarbeit gehört die traurige Pflicht, Kriege und gewaltsame Konflikte nicht nur als historisches Geschehen zu betrachten, sondern als brandaktuelles. Früher konnten wir uns im bequemen Fernsehsessel zurücklehnen, es uns kuschelig machen, eine Tüte Chips knabbern und uns mit gruselige Schaudern Filme über den letzten Weltkrieg angucken. Notfalls ist das auch heute noch so. Ist auch nicht oberlehrerhaft zu verurteilen.

Auch sind es viele von uns gewohnt, im warmen Wohnzimmer zuweilen in alten Familienalben zu blättern. Oma oder Opa dürften uns dabei früher von längst vergangenen Zeiten erzählt haben. Vielleicht haben wir das sogar insgeheim sehr langweilig gefunden: Gucken auf uns aktuell fremde Menschen, die das Jahr 1945 nicht überlebt haben. Wenn wir ehrlich sind, bekommen wir heute aus diesen alten Erzählungen viele Namen gar nicht mehr zusammen. Auch weil das Fotoalbum manchmal staubig ist, haben wir alle viel zu lange gedacht, dass uns das in der heutigen Zeit eigentlich nicht mehr viel angeht. Viel zu lange, finde ich.

Ebenso beruhigt und mit kuscheligem Schauer im gemütlichen Polstersessel haben wir viele Jahre auch auf bewegte Bilder in weit fernen Ländern geschaut, in denen Krieg und Gewalt an der Tagesordnung sind. Auch dieser distanzierte Blick auf die weite Welt um uns herum schien uns immer so verdammt weit entfernt. Und abschalten oder umschalten kann man ja auch, wenn es zu heftig wird. Wozu können wir zappen?

Alles besitzt sogar eine eigene Logik. Denn die Wege wären wirklich lang: Die von Russland brutal angegriffenen Menschen in der Ukraine leben 1.700 km von uns entfernt. Der verheerende Gaza-Krieg, wollten wir ihn auf dem Landwege erreichen, würde für uns eine Distanz von sogar 4.300 km bedeuten. Nur etwas weiter liegt der Sudan in Afrika, das nur selten in den Nachrichten vorkommt.

Im aktuellen sudanesischen Bruderkrieg, der verdammt wenig im Fernsehen zu sehen ist, sind unzählige tot und verkrüppelt, da sind Millionen Menschen auf der Flucht. Um ein wenig mehr Betroffenheit zu wecken, sei mir ein lapidarer kleiner Hinweis erlaubt. Als es noch keine Flugzeuge, Autos und schnelle Fernzüge gab, brauchte man – ohne Pause – etwa 15 bis 20 Stunden Fußmarsch aus dem Schinkel nach Münster – mindestens.

In Kiew, auch im Gaza-Streifen, sogar in Afrika wäre man heute mit dem Flugzeug wahrscheinlich viel schneller. Wir müssen nicht, wie Kanzler Friedrich Merz das auf eine für mich sehr zweifelhafte Art gemacht hat, auf das „Straßenbild“ verweisen. Wir sehen jeden Tag, wie schnell andere zu uns und wir zu anderen gelangen können. Allein hier im Stadtteil Schinkel dürften Menschen leben, deren Familien aus weit über 100 Nationen kommen.

Man nennt es schlicht und einfach Weltgesellschaft. Diese Weltgesellschaft sehen wir in jedem einzelnen Land, das sich nicht abschottet. Dieses Abschotten kann man natürlich tun: Grenzen zu, Augen und Ohren zu, Arme trotzig verschränken. Womöglich noch Sprüche wie „Unser Boot ist voll!“ oder gar „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus“ hinausgrölen.Der Beifall von rechtsaußen wäre uns dabei völlig sicher. Es wäre Deutschtum unter sich selbst.

Keine Kontakte zu anderen Kulturen, Denkweisen, Traditionen erzeugen dann ausgerechnet das, was niemand mehr gebrauchen kann: Die Überhöhung der eigenen Nation, wachsender Nationalismus, am Ende Verächtlichmachung und Hass auf fremd erscheinende Menschen aus der übrigen Welt. Für Krieg und Gewalt gegen Dritte bildet all dies einen vorzüglichen Nährboden.Ich persönlich bin für das exakte Gegenteil.

Gerade darum, weil wir nicht restlos abgeschottet, sondern in einer real existierenden Weltgesellschaft leben. Gerade darum sind wir alle für unsere gemeinsame Welt, sind wir alle für unseren gemeinsamen blauen Planeten verantwortlich.

Betrachten wir die Wirklichkeit unseres blauen Planeten, müssen wir uns aber zunächst eines klar machen: Wir befinden uns in Wahrheit längst in einem gemeinsam erlittenen, brandaktuellen Weltkrieg. Ja, Weltkrieg.Überrascht? Panikmache?

Ja! Ich sage Weltkrieg. Wir sind mitten im Weltkrieg gegen den weltweiten Klimawandel. Dieser harmlos klingende Klimawandel benötigt keine Raketen, Bomben oder Granaten, er benötigt keine Grenzkontrollen.Der Krieg ums Weltklima braucht keine Zuwanderungs- oder gar Abschiebequoten, nicht einmal Waffensysteme. Aber wir sind längst direkt betroffen, wenn verzweifelte Menschen in fernen Orten der Welt fliehen und auch nach Osnabrück und hier in den Schinkel finden.

Was alles passieren kann und wohin betroffene Menschen sollen, wenn beispielsweise halb Afrika, Asien oder Lateinamerika unbewohnbar sind, davon will ich heute gar nicht erst reden. Andeuten muss ich es aber. Denn auch ein weit entferntes Land ist Teil unserer gemeinsamen Welt. Es geht uns alle an, wenn wir darüber streiten, immer mehr Waffen für immer mehr Mittel zu produzieren und unsere Armee möglichst stark zu machen.

Nur zur Erinnerung: Laut dem international anerkannten Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI investierten die Staaten der Welt mehr als 2,7 Billionen US-Dollar und damit 9,4 Prozent mehr als im Vorjahr in die Rüstung – Tendenz steigend.

Der Anstieg der globalen Rüstungsausgaben ist der stärkste seit mindestens drei Jahrzehnten. Davon bezahlen allein eine Billion die USA, 314 Milliarden China, 149 Milliarden Russland, knapp 89 Milliarden Deutschland. Unser Land ist dadurch auf den weltweit vierten Platz vorgerückt – obwohl allerorten geklagt wird, dass in unserer Bundeswehr kaum ein Flugzeug fliegt und kaum ein Panzer rollt.

Ich will hier am Volkstrauertag keine heiße Debatte entfachen, aber trotzdem eine für mich zentrale Frage aufgreifen: Sind all diese gigantischen Summen, die andernorts fehlen und in blanke Rüstung gesteckt werden, gut investierte Mittel, wenn wir an das Leben unserer Enkelinnen und Enkel denken?

Nur, um das einmal in eine Beziehung zu setzen: Um den weltweiten Hunger wahrhaftig zu beenden, würden jährlich schätzungsweise zwischen 30 und 90 Milliarden US-Dollar ausreichen. Mehr nicht!

Im Klartext: mit weniger als einem Zehntel der jährlichen US-Militärausgaben könnten wir alle Menschen dieser Welt satt machen. Kein Bild ständig hungernder Kinder mehr auf unseren Bildschirmen. Jahr für Jahr. Ob Trump das weiß?

Ganz zu schweigen vom eben erst erwähnten Weltkrieg gegen die Überhitzung unseres gemeinsamen blauen Planeten. Hier wären allerdings weit mehr, aktuell etwa 1 Billion US-Dollar nötig, um wirklich Wirksames zu tun. Das wären immer noch weniger als ein Drittel der weltweiten Rüstungsausgaben. All das im Interesse unserer Enkelinnen und Enkel.

Bei Nichtzahlung dieser Summen drohen Erderwärmung, Unbewohnbarkeit riesiger Flächen, Naturkatastrophen, blutiger Kampf um Ressourcen und ständig steigende Zahlen geflüchteter Menschen. Kurzum: Die Folgekosten wären um ein Vielfaches höher.

Ich will hier an diesem Ort, vor diesem Publikum und erst recht nicht an diesem Volkstrauertag oberlehrerhaft oder gar als Panikmacher auftreten. Denn wirkliche Patentrezepte gegen brutale Kriege und gegen die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt habe auch ich nicht. Um außerdem nicht falsch verstanden zu werden:

Auch ich bin leidenschaftlich dafür, den brutal bedrohten Menschen in der Ukraine wirksame Abwehrwaffen gegen tödliche Raketen und Drohnen aus Russland zu liefern.

Hinterfragt muss für mich andererseits die aktuelle Forderung, künftig wieder alle 18 Lebensjahre jungen Männer, ob sie wollen oder nicht, der Wehrpflicht zu unterwerfen und auf den gefährlichen Kriegseinsatz vorzubereiten.

Ich selbst, dazu bekenne ich mich, habe 1973, als vor einem Ausschuss sehr hart befragter, dann jedoch anerkannter Kriegsdienstverweigerer, den Dienst mit der Waffe verweigert. Ich habe stattdessen eineinhalb Jahre lang im Osnabrücker Stadtkrankenhaus gearbeitet.

Grundlage meiner Verweigerung war das Grundrecht in Artikel 4, Absatz 3, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Es war und ist ein Artikel im Grundgesetz, den unter anderem der Osnabrücker Sozialdemokrat Hans Wunderlich 1949 als Mitglied des Parlamentarischen Rates erkämpft hat. Dieser Artikel galt auch Jahrzehnte später in einer Zeit, in der Krieg in Deutschland und Europa eher als abstrakte, wenig wahrscheinliche Option im Raum stand. Und der Artikel gilt unverändert heute.

Heute spricht der anerkannte Historiker Sören Neitzel mit nur zartem Widerspruch davon, dass der letzte Sommer für uns alle der letzte friedliche Sommer gewesen sein könnte. Ist der nächste Sommer also einer des Krieges und des Sterbens?

Eben deshalb wiederhole ich das schon eben erwähnte Motto der Gedenkstunde im Bundestag: „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“. Arbeiten wir also überall da, wo wir sind, für Versöhnung und Frieden! Kurzum: Es gibt für uns alle unzählige Gründe, im eigenen, vor allem auch im Interesse unserer Enkelkinder für eine friedliche Welt zu arbeiten.

Uns hat hier und heute die Trauer zusammengeführt. Verbunden ist diese unsere Trauer mit dem Bestreben, die Opfer von Kriegen und Gewalt vor dem Vergessen zu bewahren. Und uns selbst vor dem Vergessen zu bewahren, um unsere ganz persönliche Zukunft und die unserer Lieben zu sichern.

Täten wir das ab sofort nicht mehr, wären bisherige Opfer von Krieg und Gewalt endgültig tot und vergessen. Und vergäßen wir tatsächlich jene Opfer, könnten wir alle eines Tages selbst Opfer werden.Nicht nur der Volkstrauertag und das kommende Weihnachtsfest sollte deshalb uns alle immer wieder an konkrete Arbeit für den Frieden ermahnen.

Wie sagte der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, der diesen Preis nie, wie US-Präsident Trump, penetrant gefordert, dafür aber beharrlich und gegen massive konservative Widerstände bekommen hat?

„Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Besser und prägnanter kann man den Sinn, die Lehre und den Arbeitsauftrag des Volkstrauertages für uns alle nicht ausdrücken.

Volkstrauertag, trister November, trauriges Geschehen. Trotzdem gibt es jede Menge Gründe, voller Hoffnung und mit guten Argumenten für den Frieden zu arbeiten. Mich würde es sehr freuen, wenn ich heute paar Denkanstöße dazu geliefert hätte, diesen Volkstrauertag auch zu einem winzigen, ganz bescheidenen Schinkeler Hoffnungstag zu machen.

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