In Bramsche gab es keine Synagoge. Dennoch haben Juden in dieser Stadt gelebt. Der Bramscher Autor (Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss, Verlag Hentrich & Hentrich) Dieter Przygode ist ihren Spuren nachgegangen. Was er über diese Menschen herausgefunden hat, wie sie in Bramsche gelebt haben und was aus ihnen geworden ist, darüber hat er in einem gut besuchten Vortrag im Jugendzentrum Alte Webschule berichtet.
Sabine Rehse vom Universum e. V. Bramsche konnte im Rahmen der Reihe Nimm‘ dir ein Buch 2023 den Bramscher Geschichtsforscher Dieter Przygode begrüßen, der in einer unerwartet gut besuchten Abendveranstaltung den zum Teil von weither angereisten Gästen eine große Vielfalt jüdischen Lebens präsentierte.
Um 1880 erste Ansiedlung in Bramsche
Angefangen mit den ersten schriftlichen Erwähnungen von durchreisenden Juden im Jahre 1717 und einer Geburtsnotiz aus dem Jahre 1843 kam er zu der ersten jüdischen Familie, die sich um 1880 in Bramsche ansiedelte: die Familie des aus dem niederländischen Bourtange stammenden Viehhändlers Isaak Frank, der 1870 in Bramsche mit Jeanette Reingenheim eine Jüdin aus Westerkappeln geheiratet hatte.
Fünf Kinder dieser Familie sind zwischen 1880 und 1894 in Bramsche geboren. Nach dem frühen Tod seiner noch jungen Frau im Jahre 1888 zog er mit seinen Kindern nach Bourtange, heiratete wenig später ein weiteres Mal und hatte mit seiner zweiten Ehefrau, der jüngeren Schwester seiner ersten Frau, zwei weitere Kinder. Die meisten der Kinder sind später in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet worden, darunter Ludwig (*1885) und Isidor (*1887), die ältesten, aus Bramsche stammenden Holocaust-Opfer, die mit ihren Familien 1942 in Auschwitz ermordet wurden.
6-Monats-Bürgermeister Schrader
Nur sechs Monate war der aus Berlin stammende Hans Wilhelm Schrader als hauptamtlicher Bürgermeister in Bramsche, bevor er noch vor Ende des Jahres 1918 nach Finsterwalde bei Berlin wechselte. Schrader war evangelisch, aber seine Frau war Jüdin ebenso wie seine Tochter, die später auch einen Juden heiratete. Schrader wurde von den Nazis erst degradiert und später aus „rassischen“ Gründen wegen seiner jüdischen Ehefrau und der jüdischen Tochter entlassen. In einer Laubenkolonie in Spandau überlebten sie. Nach dem Krieg wurde Schrader 1949 erster Präsident des Landesrechnungshofes Nordrhein-Westfalen und wäre in dieser Position beinahe Chef des designierten Vizepräsidenten Hans Globke geworden, dem einstigen Kommentator der „Nürnberger Rassegesetze“. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen, weil der Alt-Nazi Globke von Konrad Adenauer ins Bundeskanzleramt berufen wurde und dort Karriere machte.
Als „Judentempel“ missgedeutet
Nur wenige der Anwesenden hatten bis dahin von dem unter Bramscher Einwohnern als „Judentempel“ bezeichnenden Gebäude in der Lindenstraße gehört. Przygode verwies aber darauf, dass diese Bezeichnung offensichtlich auf eine Missdeutung der Architektur zurückzuführen sei, denn das Gebäude im Stil der Böttchergasse in Bremen sei von den Bremer Architekten Runge & Scotland entwickelt worden.
Der Erbauer des Gebäudes, Dr. Ernst Schultze, Sohn eines Bramscher Bleiche-Fabrikanten, hatte mit Elise Günzburger eine Jüdin aus dem badischen Emmendingen geheiratet. Mit Noch vor Beginn der Naziherrschaft sei die Fabrik an das Unternehmen Windelsbleiche in Bielefeld veräußert worden und das Wohnhaus von Dr. Ernst Schultze habe der Rechtsanwalt und Notar Dr. Börgen in Bramsche erworben. Die Familie Schultze habe danach in Berlin und München Wohnungen gekauft, sich dort jährlich wechselnd aufgehalten und den Krieg überlebt.
Familie ten Brink und das Trauma der Überlebenden
Breiten Raum nahm die Geschichte der in Bramsche bekannten jüdischen Familie von Hermann ten Brink ein, der 1914 in Bramsche eine Viehhandlung eröffnete. Ten Brink, der im niederländischen Denekamp geboren war und noch im selben Jahr Sophie Lehmann aus Barsinghausen heiratete, blieb mit seiner Familie am längsten in Bramsche, wo auch ihre beiden Kinder Ruth (*1916) und Werner (*1919) geboren wurden. Die Familie sei in Bramsche gut integriert gewesen, wie Przygode anhand zweier Anekdoten aufzeigte, und habe sich in keiner Weise isoliert gefühlt. Als die Familie 1926 nach Osnabrück zog, wo Hermann ten Brink als Viehkommissionär arbeiten konnte, habe es zum Abschied eine goldene Tabakdose mit Gravour vom Bürgergesangverein gegeben, bei dem Hermann ten Brink Mitglied war. In Osnabrück habe es für die Familie bis zur Machtübergabe an die Nazis auch keine Schwierigkeiten gegeben. Bei der berüchtigten Hassrede von NS-Kreisleiter Münzer auf dem Ledenhof vor 25.000 Besuchern im August 1935, habe dieser explizit den Viehhändler ten Brink erwähnt, der „ab jetzt nicht mehr auf dem Viehmarkt geduldet“ werde. Werner ten Brink zu Folge, der bei dieser Kundgebung als 16-jähriger in der Menschenmasse gestanden habe, sei eine Ohrfeige verabreicht worden, als er den rechten Arm nicht zum Hitlergruß erhoben habe und „am nächsten Tag wurden wir nicht mehr von unseren Nachbarn begrüßt.“ Dies sei der Punkt gewesen, wo die Familie entschieden habe, Deutschland in Richtung Niederlande zu verlassen, wo Hermann ten Brink als niederländischer Staatsbürger ein Aufenthaltsrecht hatte. Doch auch dort blieben sie nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 nicht unbehelligt.
Während Werner und die Eltern von Niederländern versteckt wurden und so den Krieg überlebten, wurde die Tochter Ruth, die im Jüdischen Psychiatrischen Krankenhaus in Apeldoorn als Krankenschwester arbeitete, von den Nazi-Schergen aufgegriffen und später über das Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort bei der Ankunft ermordet. Als Przygode über ein langes und sehr emotionales Telefonat mit Max ten Brink, dem Sohn von Werner ten Brink, berichtete und dessen Trauma wegen der Verfolgung seiner Vorfahren durch die Nazis beschrieb, war es mucksmäuschenstill im Raum.
Lehrer, Geiger und „Jüdischer Mischling“
Über das kurze Gastspiel des Lehrers Siegfried Sommerfeld im Schuljahr 1932 / 33 hob der Bramscher Historiker hervor, dass dieser als Lehrer „beliebt gewesen sei, vor dem man Respekt, aber keine Angst gehabt hätte“ und einen außergewöhnlichen Charakter gehabt habe, weil er die Klasse statt mit dem Deutschen Gruß mit Guten Morgen begrüßte und anschließend zum Beten aufgefordert habe.
Außerdem habe dieser seine musikalischen Fähigkeiten an der Geige bei einem Liederabend unter Beweis gestellt, was am Schluss mit stürmischem Beifall bedacht worden sei. Da Sommerfeld aber in dem vorzulegenden „Ariernachweis“ jüdische Verwandte in seiner Vorfahrenliste hatte, sei er aus dem Schuldienst entlassen worden. In Osnabrück sei von einem Freundeskreis um Ludwig Bäte versteckt worden, wodurch er wohl auch der geplanten Deportation in das Lager Wintjenberg bei Holzminden entgangen sei und den Krieg überlebt habe.
Neues Leben in New York
Unter dem Titel „Mit dem letzten Schiff nach New York“ erinnerte Przygode an die Geschichte von Philipp Levy, der 1936 / 37 in Bramsche beim jüdischen Viehhändler Voss beschäftigt war und nach dessen Flucht nach Argentinien zu seiner Familie nach Vallendar bei Koblenz zurückkehrte. Nach dem Brand der Synagoge in Vallendar flüchtete Philipp Levy mit Frau und Tochter illegal über die Grenze nach Belgien und schließlich nach St. Nazaire an der französischen Westküste. Von der gelangten sie mit einem der letzten Schiffe nach New York, wo sich die Familie nach kurzer Zeit mit einem eigenen Fischgeschäft in Manhattan selbständig machte.
Ein geplanter Besuch Bramsches 1987, zu dem die Stadt sogar eingeladen hatte, kam ebenso nicht zustande wie ein von der Tochter Inge Levy angestrebter Besuch im Jahre 2003. Immerhin habe die Tochter ihre Erinnerungen an ihre Familie in einem Manuskript für das Leo-Baeck-Institut in New York schriftlich festgehalten, aus dem Przygode einige Passagen vortragen konnte.
Von Bramsche nach Buenos Aires
Zum Schluss kam Przygode auf seine, inzwischen zur Herzensangelegenheit gewordene, jüdische Familie des Viehhändlers Ernst Voss zu sprechen, über deren Geschichte er vor Jahren ein Buch verfasst hatte. Es war die letzte jüdische Familie in Bramsche, die im Jahre 1937 nach Argentinien flüchtete. Przygode schilderte, wie der Kontakt zu den beiden Kindern Erwin und Ingeborg Voss zustande kam und was diese ihm über das Leben in Bramsche erzählt haben. „Ich persönlich hatte keinerlei Probleme, weder mit den Bramscher Einwohnern noch in der Schule“ zitierte er Erwin Voss. Auch dessen in Bramsche geborene Schwester Ingeborg habe gleichaltrige Spielkameradinnen gehabt. Nach der Machtübergabe an die Nazis habe es viele Maßnahmen gegen Juden gegeben, wie einen sogenannten Stürmerkasten neben der St. Martinskirche oder einem Schild in Malgarten mit der Aufschrift „Juden sind hier nicht erwünscht“. Dennoch hätten die Bauern weiterhin mit Ernst Voss Geschäfte gemacht, weil er als fairer Geschäftspartner galt. Allerdings erlebte sein Schwager Carl Meyer in Osnabrück Übergriffe auf Juden unmittelbar mit, so dass die Entscheidung getroffen wurde, zu flüchten. Argentinien mit seiner europäisch wirkenden Hauptstadt Buenos Aires wurde auserwählt. Nach landwirtschaftlichen Vorbereitungslehrgängen und durch Besorgung der Einwanderungspapiere konnten die Familien Voss und Meyer im September 1937 endlich per Schiff nach Buenos Aires flüchten. In Argentinien mussten sie in einer jüdischen Kolonie in Basavilbaso im Norden Argentiniens neu anfangen.
Das erforderte harte Arbeit in der ungewohnten Landwirtschaft und das Erlernen einer fremden Sprache in einem Land mit anderen klimatischen Bedingungen als in Bramsche. Später seien sie dann in der Hauptstadt Buenos Aires gelandet, wo der Sohn Erwin sich als Optiker und Kontaktlinsenspezialist über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht habe. 1957 sei er kurz nach Bramsche zurückgekehrt, um seinen Freund aus Kindertagen zu besuchen, den er aber dann am nächsten Tag wieder verlassen habe, ohne sich zu verabschieden. Die Gründe für dieses überraschende Vorgehen hätten mit der Soldatenzeit seines Freundes während der Kriegszeit zu tun gehabt. Erst 2015 bei der Veröffentlichung des Buches Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der Familie Voss (erschienen im Verlag Hentrich & Hentrich) über die Geschichte seiner Familie seien die beiden sich vor ihrem Tod ein letztes Mal begegnet und hätten sich die Hand gereicht.
Erwin Voss ist am 9. August 2021 in Buenos Aires gestorben. Seine Schwester Ingeborg, die in Bramsche geboren ist, lebt in Buenos Aires und sieht ihrem 90. Geburtstag am 28. Juli dieses Jahres entgegen. Przygode berichtete weiter, dass er mit den Angehörigen der Familie Voss / Meyer, die in Argentinien, den USA, Canada und in Israel leben, regelmäßig und wie selbstverständlich über die verschiedenen Medien in Kontakt stehe. Diese hätten schon großes Interesse daran bekundet, dass er eine Fortsetzung der Familiengeschichte schreibe.
Mit der Feststellung, dass es heute wieder jüdisches Leben in Osnabrück und vielleicht auch in Bramsche gebe, was zeige: „Hitler hat nicht gewonnen!“ forderte er die Besucher auf, alles dafür zu tun, dass dies trotz der aktuellen und drohenden gesellschaftlichen Konflikte auch so bleibe.
Komprimiert auf knapp zwei Stunden hatte der Bramscher Historiker neben seinem Vortrag auch über 80 Fotos und Dokumente dabei, die von Sabine Rehse vom Mischpult aus auf die Leinwand projiziert wurden. Der Applaus des bis zum Schluss gespannt ausharrenden Publikums bestätigte das weiterhin hohe Interesse an dem Thema. Przygode hatte auf Honorar verzichtet und stattdessen die Besucher um eine Geldspende für die Bramscher Tafel gebeten, die sich jetzt über die stattliche Summe von 170 € freuen kann.