Dienstag, 16. April 2024

Judith Kessler: Das Tunguska-Ereignis vom 30. Juni 1908

Bis heute ist das Rätsel um das Tunguska-Ereignis nicht vollends gelöst

Am 30. Juni 1908, kurz nach sieben Uhr in der Früh, zerreißt eine Detonation mit der Sprengkraft von 1.000 Hiroshima-Bomben die Stille der sibirischen Taiga am Fluss Podkamennaja Tunguska. Die Druckwelle lässt auf einer Fläche so groß wie das Saarland Millionen Bäume wie Streichhölzer umknicken, ein gigantisches Mikadospiel. Zelte, Hirten, Rentiere fliegen durch die Luft. Der Himmel steht in Flammen. In der nächstgelegenen Siedlung in 70 km Entfernung bersten Fensterscheiben und stürzen Häuser ein. Ein Szenario, wie in einem US-Katastrophenfilm.

Noch 500 Kilometer weiter weg schwankt die transsibirische Eisenbahn wie besoffen auf den Gleisen. Noch in 1.000 km Entfernung ist der Donner zu hören, seismologische Stationen in Irkutsk, in Jena, in Potsdam und sogar in Washington zeichnen Erschütterungen auf. In London rufen Leute die Polizei, weil sie glauben, ein Großbrand sei ausgebrochen. Die Schockwelle läuft dreimal um den Erdball und die nächsten drei Nächte lang bleibt es auf dem europäischen Kontinent und in Teilen Asiens nachts so hell, dass man Zeitung lesen kann.

Kein Wissenschaftler kann die Phänomene erklären. Da ausschließlich sibirische Zeitungen berichten und Sibiriern weit weg ist, wird der Zusammenhang zwischen dieser apokalyptischen Explosion, den Erderschütterungen und den hellen Nächten auch in Europa niemandem klar.

Erst 1927 dringt ein russischer Geowissenschaftler in das noch völlig unerschlossene Gebiet vor. Leonid Kulik hatte die Berichte in einer alten Zeitung aus Sibirien gelesen, vermutete einen Meteoriteneinschlag und suchte nun nach Zeugen. Doch kaum ein Mensch hatte das Geschehen aus der Nähe erlebt. Die raren Aussagen zusammengefasst, haben die meisten Augenzeugen einen riesigen Feuerball, der quer über den Himmel schoss, Feuersäulen, Stichflammen und eine mehrere Minuten dauernde Explosion oder eine Abfolge von (bis zu 14) Explosionen beobachtet. die Rentierhirten vom Volk der Tungusen, die in dem Gebiet lebten, wollten nicht über das schreckliche Ereignis reden, das sie für eine Strafe ihres Feuergotts Ogdy hielten, und sie wollten Kulik auch nicht dorthin begleiten, aus Angst, der Gott würde wieder wütend werden.

Darstellung des Tunguska-Meteoriten und des Geologen Kulik auf einer sowjetischen Briefmarke aus Anlass des 50. Jubiläums des Ereignisses

Kulik unternahm dennoch im Laufe der Jahre drei Expeditionen in das unwirtliche Katastrophengebiet. Er fand aber keine Meteoritenkrater oder -trümmer, nur die „Leichen“ unendlich vieler Bäume, die alle in dieselbe Richtung abgeknickt oder entwurzelt lagen, und Brandspuren an ihren Stämmen. Kulik starb 1942 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager, ohne das Rätsel gelöst zu haben.

Aber die internationale Forschergemeinschaft hat, verstärkt nach der Öffnung der Sowjetunion bzw. Russlands, Kuliks Meteoritenthese zig weitere Thesen, aber auch Verschwörungstheorien, hinzugefügt:

Das Tunguska-Ereignis war ein früher Nukleartest.

Nikola Tesla hat in Tunguska mit sogenannten ,,Todesstrahlen” experimentiert.

Es war eine Explosion gigantischer Mückenschwärme.

Ein nuklear angetriebenes UFO ist abgestürzt oder mit einem Meteoriten kollidiert (im Boden und in den Jahresringen von Bäumen wurde hochkonzentriertes Cäsium-137 gefunden).

Ein Schwarzes Loch, also ein kollabierter Stern aus dem Weltall, hat die Explosion ausgelöst (aufgrund der speziellen physikalischen Eigenschaften von Schwarzen Löchern sei deswegen beim Einschlag kein Krater entstanden).

Ein Komet, ein riesiger Himmelskörper aus gefrorenen Gas- und Staubwolken, ein sogenannte „Schmutziger Schneeball“, ist verglüht und hat sich dabei aufgelöst (weswegen keine Spuren gefunden wurden).

Es war ein Asteorid, der ein paar Kilometer über Erde restlos explodiert ist (aber woher dann die Brandspuren?) bzw. falls Teile von ihm auf die Erde aufgetroffen sind, so sei der acht Kilometer vom angenommenen Epizentrum gelegenen Tscheko-See der Einschlagstrichter gewesen.

Es war überhaupt kein Einschlag, sondern ein vulkanartiger gigantischer Ausbruch von Erdgas …

Als wahrscheinlichste Ursache gilt der Eintritt des nach der Region benannten Tunguska-Asteroiden oder eines kleineren Kometen in die Erdatmosphäre, der in einigen Kilometern Höhe explodierte.

Was auch immer es war, richtig belegt werden konnte bis heute keine der Thesen.

 

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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