Freitag, 26. April 2024

OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – ein Exkurs führt ins Nachbarland

Karl Kassenbrock
Nanno, Onderduiker im Rettungswiderstand
Ein Exposé zur Biografie über Kurt Reilinger

Anmerkung der Redaktion: Ein letztes Mal pausiert unsere Serie zum Osnabrücker Widerstand. Wir halten kurz inne, weil wir derzeit vollauf damit beschäftigt sind, die Veröffentlichung unserer bisherigen Beiträge in einem ersten Sammelband vorzubereiten. Wir nutzen die redaktionelle Pause deshalb in dieser Woche, um einen Blick in unseren Nachbarstaat Niederlande zu werfen. Dieser Blick besitzt einen aktuellen Anlass: Denn die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus ist aktuell mit dem Werk des Osnabrücker Historikers Karl Kassenbrock um eine wichtige Schwerpunktsetzung reicher geworden. Gern haben wir dem Autor darum die Gelegenheit gegeben, sein facettenreiches Buch im Rahmen des folgenden Beitrags zu präsentieren.

Das Buch schildert das Leben des „halbjüdischen“ Stuttgarter Emigranten Kurt Reilinger. Unter dem Tarnnamen „Nanno Mulder“ war er einer der führenden Köpfe des transnationalen jüdischen Rettungswiderstandes der „Palästinapioniere“ in den Niederlanden und Frankreich. Der Lebensweg Kurt Reilingers beginnt mit einer zunächst noch relativ unbeschwerten Kindheit in Stuttgart. Als Sohn einer bayrischen Katholikin und eines badischen Juden entscheidet er sich früh für die Religion seines Vaters und wird damit Teil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft. Die staatlich organisierte Judenverfolgung im Nationalsozialismus zerstört ab 1933 alle Hoffnung auf Leben und Zukunft in Deutschland. An ihre Stelle tritt für Reilinger nun die Idee eines nicht-chauvinistischen, humanistischen Zionismus. Die zu gründende jüdische Heimstatt in Palästina soll mehr sein als ein weiterer Nationalstaat. Gemeinsam mit der jüdischen Jugendorganisation der Werkleute wird er Teil des Hechaluz, des Verbandes der Palästinapioniere, der die jüdische Einwanderung nach Palästina (Alija) und die Vorbereitung darauf (Hachschara) organisiert.

Im Sommer 1939, kurz vor Beginn des Krieges, geht Reilinger ins niederländische Exil. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande am 10.5.1940 schließt er sich dem überwiegend von deutschen Emigranten getragenen Widerstand des „holländischen“ Hechaluz gegen die Judenverfolgung an und beteiligt sich an der Versorgung und Betreuung untergetauchter Pioniere. Auch seine endgültige Einordnung als „Geltungsjude“ durch die von dem Osnabrücker Hans Calmeyer geleitete „Entscheidungsstelle nach VO 6/41“, die ihn der unmittelbaren Gefahr einer Deportation aussetzt, bringt ihn nicht von seiner Rettungsarbeit ab. Er wird selbst zum „Onderduiker“ (zum Untergetauchtem).

Als der Verfolgungsdruck in den Niederlanden stärker wird, organisiert die Widerstandsgruppe um Reilinger die Flucht jüdischer „Onderduikers“ ins Ausland. Der Versuch, sie in der „Höhle des Löwen“, im Arbeitseinsatz in Deutschland, untertauchen zu lassen, scheitert. Daraufhin werden insgesamt etwa 150 Palästina-Pioniere nach Frankreich geschleust, und auf tollkühne Weise als „holländische Vertragsarbeiter“ bei Privatfirmen, der Organisation Todt und selbst bei der Wehrmacht untergebracht. Einer der ersten Transportführer bei diesen Fluchtunternehmungen ist Kurt Reilinger, der sich jetzt „Nanno Mulder“ nennt. Ab dem Frühjahr 1943 leitet er die Aktionen des „holländischen Hechaluz“ von Frankreich aus. Etwa 80 Pioniere gelangen mit seiner maßgeblichen Hilfe über die Pyrenäen nach Spanien und später nach Palästina.

Doch am 27. April 1944 wird sein Rettungs- und Widerstandswerk jäh beendet. Reilinger und seine Gruppe werden in Paris von der Gestapo festgenommen. Nach schweren Verhören im deutschen Militärgefängnis Fresnes bringt die SS die Verhafteten Anfang August 1944 in das Sammel- und Durchgangslager für Juden in Drancy. Als das Lager kurz darauf wegen der anrückenden Alliierten aufgegeben werden muss, befinden sich dort noch über tausend Menschen. Der Leiter des Gestapo-Kommandos, Hauptsturmführer Alois Brunner, einer der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns, bestimmt für einen letzten Häftlingstransport aus Drancy 51 Personen. Es sind jüdische „Prominente“, wie der Flugzeugkonstrukteur Marcel Bloch-Dassault,  die gesamte Führungsspitze der Armée Juive in Paris und die Gruppe um Kurt Reilinger.

Nach neun Tagen Odyssee über das bereits stark zerstörte französische und belgische Schienennetz erreicht der Zug das Konzentrationslager Buchenwald. Von hier aus wird Reilinger über das Lager Mittelbau zur 5. SS-Eisenbahnbaubrigade verlegt, einem KZ-Außenkommando, das in einem Zugverband aus Güterwaggons untergebracht ist.

Am Montag, den 16. Oktober 1944 kommt er mit 470 weiteren Gefangenen am vorgesehenen Standort des „Konzentrationslagers auf Schienen“ auf dem Bahnhof Osnabrück-Hörne an. Hier überlebt er lange Monate unter schwierigsten Lebensumständen, harter Arbeit und der ständigen Bedrohung durch die SS und die Angriffe der alliierten Luftwaffe.

Nach dem Abzug der Brigade am 31.3.1945 gelangt Reilinger noch immer als Häftling über Wesermünde, die Nordsee und den Kaiser-Wilhelm-Kanal auf ein KZ-Schiff in der Flensburger Förde. Es vergehen Tage ohne Nahrung und Trinkwasser, bis die Gefangenen schließlich am 11.5.1945 befreit und durch das Schwedische Rote Kreuz nach Schweden gebracht werden.

Während der Rekonvaleszenz in schwedischen Rote-Kreuz-Lagern reflektiert er die Ereignisse der Jahre im Widerstand und die daraus zu ziehenden Konsequenzen in zahlreichen Briefen und Presseartikeln. Ein wichtiges Thema ist darin die Frage nach Schuld und Sühne der Deutschen. Reilinger stellt jedoch klar, dass eine notwendige Strafe keine Rache sein dürfe, die sich pauschal gegen alle Deutschen richte.  Neben dem Plädoyer für die individuelle Verantwortlichkeit jedes Einzelnen, egal, welche „Sprache“ er spricht, findet sich in Reilingers Texten ein weiteres Motiv. Es ist die Idee einer universalen Solidarität und eines gemeinsamen Aufbaus einer neuen, friedlichen Welt. Im September 1945 kehrt Reilinger in die Niederlande zurück und übernimmt die Führung des Hechaluz. Dessen Hauptaufgabe besteht jetzt in der Fortsetzung der „Alija Bet“, der illegalen Einwanderung nach Palästina, und der Rückführung von „Onderduikertjes“, kleinen jüdischen Kindern, die versteckt in christlichen Familien überlebt haben. Nachdem er Jahre des Widerstandes und lange Monate in Gefängnissen und Konzentrationslagern überlebt hat, stirbt Kurt Reilinger, „Nanno“, im September 1945 bei einem Verkehrsunfall.

Nanno-Cover

 

Zu den Quellen

Für die Biografie wurden neben der relevanten Primär- und Sekundärliteratur zahlreiche Archivbestände erforscht. Das Quellenverzeichnis umfasst ca. 100 Titel. Die Dokumente und Archivalien stammen aus mehr als 20 nationalen und internationalen Archiven. Die Originalquellen zur Lebensgeschichte Kurt Reilingers und zu seinen Aktivitäten im Rettungswiderstand wurden systematisch ausgewertet. Als besonders faktenreich und informativ erwiesen sich die Wiedergutmachungsakten zur Familie Reilinger in den Beständen des Staatsarchivs Ludwigsburg, die nach Ablauf der Sperrfristen erstmals gesichtet werden konnten. In ihnen sind zahlreiche Originalzeugnisse und Abschriften zur Familiengeschichte und über die Kindheit und Jugend Kurt Reilingers erhalten geblieben. Für die Zeit im niederländischen Exil waren Quellenfunde in verschiedenen zentralen und regionalen niederländischen Archiven, unter anderem im Archiv der Gemeinde Angerlo, in der Reilinger von 1940 bis 1943 offiziell gemeldet war, aufschlussreich. Eine weitere Quelle für die Jahre 1939 bis 1942 ist ein Konvolut aus mehr als 100 Briefen, die Reilingers Mutter in diesem Zeitraum an ihn ins Exil schickte und die durch glückliche Umstände erhalten blieben. Sie wurden dem Autor im Original von einem in Israel lebenden Neffen Reilingers zur Verfügung gestellt. Die wichtigsten Quellen zu den Aktivitäten Kurt Reilingers im Untergrund in den Niederlanden, Belgien und Frankreich vom Frühjahr 1940 bis zum August 1944 fanden sich im Archiv des Itzhak Katznelson Holocaust and Jewish Resistance Heritage Museum (Ghetto Fighters House Archive), Israel. Von besonderer Bedeutung sind die dort verwahrten Briefe an und von Kurt Reilinger aus der Zeit des Rettungswiderstandes in Frankreich von 1943 bis 1945 in Deutsch, Niederländisch und Französisch. Autobiografien zahlreicher ehemaliger Palästinapioniere geben aus unterschiedlichen Perspektiven Einblick in die Ereignisse und die bestimmende Rolle Reilingers im jüdischen Rettungswiderstand des Hechaluz. Aufschlussreich ist hier auch die von Reilinger selbst verfasste Darstellung des „Weg(es) der chaluzischen Bewegung in Holland“, die er unmittelbar nach der Befreiung in der Zeitschrift Hapoel in Schweden veröffentlichte. Die Zeit von August 1944 bis zum Kriegsende im Mai 1945, die Kurt Reilinger im Konzentrationslager Mittelbau und in einem Außenkommando verbrachte, ist durch Ergebnisse der vom Autor 2019 im Wallstein Verlag erschienenen Monografie zum Außenkommando 5. SS-Eisenbahnbaubrigade belegt. Im Sommer 1945 erschienen in dem von Reilinger in Schweden mitbegründeten Wochenblatt Contact mehrere Beiträge über die Bedeutung des Widerstandes und die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Hinzu kommen weitere Briefe Reilingers, seiner Familie und seines Freundes- und Kameradenkreises aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, sowie amtliche Ermittlungsakten und Zeugenaussagen.


Weitere Anmerkungen

Die im Inhaltsverzeichnis als Überschriften gewählten geografischen Orte sind nicht die (alleinigen) Handlungsorte. Sie sind wie ein „Itinerarium“ des unvollendeten Weges Kurt Reilingers nach Eretz Israel zu verstehen. In der Gesamtschau zeigen sie in der Reihenfolge reale oder symbolische Stationen auf diesem Weg.

Um die Arbeit leichter lesbar zu machen, sind Zitate aus den zahlreichen fremdsprachigen Textquellen (u.a. Niederländisch, Französisch, Englisch, Polnisch, Dänisch) in deutscher Übersetzung und in der Regel ohne Auslassungszeichen wiedergeben. Der umfangreiche Fußnotenapparat enthält die Quellenangaben und, wo dies sinnvoll erschien, ergänzende Zitate, Erläuterungen und Hinweise. Das Quellenverzeichnis wurde auf die in der Biografie unmittelbar verwendeten Quellen beschränkt. Ein Namensverzeichnis mit den ursprünglichen deutschen Namen, den später angenommenen Namen und den im Widerstand verwendeten Decknamen der handelnden Personen erleichtert die Zuordnung. Es folgen ausführliche Wort- und Begriffserklärungen.

NANNO. ONDERDUIKER IM RETTUNGSWIDERSTAND. Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2022-09-17. 143 Seiten, 34 Abbildungen (s-w). ISBN 978-3-95505-334-5. Preis: 17,90 €

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