Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Der unberechenbare Intellektuelle

Am 24. November starb im Alter von 93 Jahren Hans Magnus Enzensberger. Er war einer der bedeutendsten Intellektuellen in der Geschichte der Bundesrepublik und einer der vielseitigsten Schriftsteller. Er bediente sich aller literarischen Genres vom Gedicht über Drama zur Erzählung bis hin zum Roman. Als gefragter und einflussreicher Essayist war er ein ewig kritischer Begleiter und Kommentator des Zeitgeschehens und des Zeitgeistes.

Sein politischer Standpunkt war wechselhaft, als Mitherausgeber des legendären Kursbuches von 1965 bis 1975 sympathisierte er noch mit der APO, danach neigte er zu manchen – auch ärgerlichen – Überraschungen. So verteidigte er den deutschen Militärbeitrag im Jugoslawienkrieg ebenso wie den Irakkrieg der USA mit einem fragwürdigen Vergleich Saddam Husseins mit Hitler. Aber politische Bekenntnisse mit Solidaritätsadressen oder dergleichen waren als „Engagement“ nicht sein Metier, er bevorzugte das gute Argument und blieb ein unabhängiger Beobachter seiner Zeit, der den Medienlandschaften seinen dauerhaft intensiven Blick widmete. Er war es, der zuerst den Jargon des „SPIEGEL“ unter eine kritische Sprachlupe nahm. Er demonstrierte an der deutschen Medienlandschaft das, was die Häupter der „Frankfurter Schule“, Adorno und Horkheimer, einst die „Bewusstseinsindustrie“ genannt hatten.

Er war eigentlich kein Zeitgeistritter, kein Mitläufer neuer Moden und Wellen. Er war im Gegenteil eher einer, der Trends setzte, meistens war er seiner Zeit voraus. Das belegte er am anspruchsvollsten und nachhaltigsten mit seiner genialsten Erfindung, der Zeitschrift Kursbuch, die er von 1965 bis 1975 mit Karl Markus Michel herausgab. Der Grundgedanke dieser für Kultur und Politik in der Geschichte der Bundesrepublik sehr einflussreichen Zeitschrift bringt auch die Person Enzensberger auf den Punkt. Kursbücher geben keine Ziele und Richtungen vor, sondern dokumentieren  und entwickeln Verknüpfungen, Verbindungen. Das war und ist es noch, was an dieser Zeitschrift bis heute  fasziniert.

Sein untrüglicher Sinn für neue Entwicklungen führte ihn 1980 allerdings auf einen Irrweg. Mit dem Zeitgeistmagazin „TransAtlantik“ wollte er mit Gaston Salvatore als Mitherausgeber einen Zeitgeist bedienen, den sie offensichtlich falsch einschätzten. Denn das „Journal des Luxus und der Moden“ – wie es sich im Untertitel nannte – floppte, gemessen an der verkauften Auflage, derartig, dass die Herausgeber nach einem Jahr vom Verleger zur Aufgabe gezwungen wurden.

Aber dann öffnete er mit dem Verleger Franz Greno von 1985 bis 2007 „Die Andere Bibliothek“. Es wurde eine einzigartige aus der Zeit gefallene – auch in der Buchherstellung –  bibliophile Schatztruhe vergessener und unterschlagener Bücher. Der Aufbereitung verschollener und entlegener poetischer Kostbarkeiten auch außerhalb des deutschen Sprachraumes diente schon Ende der sechziger Jahre sein „Museum der modernen Poesie“, das erstmals eine größere Sammlung internationaler moderner Lyrik nach Deutschland  brachte. Und als jemand, der in vielen Ländern gelebt hat und etliche Sprachen beherrschte, bereicherte er mit seinen zahlreichen Übersetzungen und Anthologien neben seinen eigenen  Gedichtbänden und Versepen wie „Der Untergang der Titanic“ die Literaturproduktion und -rezeption.

Herausragend sind seine dokumentarischen Arbeiten zu historischen Ereignissen. So z.B.  „Das Verhör von Habana“ für das Verständnis der kubanischen Revolution oder sein  ebenfalls dokumentarisch angelegter Roman zum spanischen Bürgerkrieg „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“. Darüber hinaus, hier den Rahmen eines Kurznachrufes sprengend, ist sein umfangreiches essayistisches Werk zu aktuellen wie grundsätzlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen, bis hin zu „Zwei mathematischen Belustigungen“ eine Fülle origineller und anregender Einfälle und Analysen, die man allesamt zur Lektüre empfehlen kann.

Mit Hans Magnus Enzensberger verlieren wir einen bedeutenden, einzigartigen und  vielseitigen Intellektuellen und einen einfallsreichen sowie einen produktiven Literaten und Essayisten, der unsere „Nachkriegskulturgeschichte“ in bedeutender Weise mit geprägt hat. Er war ein „Querdenker“ im guten und richtigen Sinne des Wortes. Das wusste sogar die Stadt Osnabrück zu würdigen, als sie ihm 1993 den „Erich-Maria-Remarque Friedenspreis“ verlieh. Und der Verfasser dieser Zeilen hatte damals das große Glück, am Rande der Preisverleihung mit ihm einen lebhaften Disput über die Systemtheorie, die er in seinem Essay „Unregierbarkeit. Notizen aus dem Kanzleramt“ kunstvoll verarbeitet hatte, führen zu dürfen. Mich hatte das sehr beeindruckt, ihn wohl weniger.

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