ZDFmediathek: Ab Dienstag, 26. November 2024, 10.00 Uhr
Ein Interview-Projekt des ZDF und der Claims Conference
Holocaust-Überlebende erzählen ihre Lebensgeschichten, um ihre Erinnerungen zu bewahren und weiterzugeben, als Botschaft an die Gegenwart und Zukunft: Damit sich niemals wiederholt, was sie erleiden mussten.
„ZEUGNISSE“ ist ein Interview-Projekt des ZDF in Zusammenarbeit mit der Claims Conference. Die Filmbeiträge mit den Berichten von 15 Überlebenden des Holocaust werden über die ZDFmediathek der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch die Claims Conference wird die Interviews für mediale Bildungszwecke einsetzen.
Die Interviews führten Peter Hartl, Andrzej Klamt, Tina Adlersztejn, Gabriela Hermer und Dr. Ruth Kinet. Produzent ist Andrzej Klamt, Halbtotal Film. Die Redaktion hat Stefan Mausbach. Die Projektleitung liegt bei Stefan Brauburger.
Die Claims Conference in Person von Cornelia Levi und Dr. Ruth Kinet traf mit der Redaktion die Auswahl der Interviewpartner, ermöglichte den Zugang zu ihnen, bereitete die Interviews mit vor, beteiligte sich an deren Durchführung sowie an der Gestaltung der Beiträge.
Für die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte haben Zeitzeugnisse seit jeher eine bedeutende Rolle bei der Darstellung der Vergangenheit, vor allem bei Themen zum Nationalsozialismus, insbesondere des Holocaust. Auch die Claims Conference versteht es seit mehr als 60 Jahren als zentrales Element ihres Auftrags, dafür zu sorgen, die jüdische Erinnerung an die Shoah an die nachkommenden Generationen weiterzugeben.
Über die Holocaust-Überlebenden in „ZEUGNISSE“
Aviva Goldschmidt, geb. 1938, geboren in Boryslaw, damals Polen, heute Ukraine, wurde ins Zwangsarbeiterlager von Boryslaw verschleppt und überlebte dort im Versteck. Sie emigrierte nach Israel. Nach dem Armeedienst kam sie nach Deutschland. Aviva hat jahrelang das Sozial-Referat der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland geleitet. Sie lebt in Frankfurt am Main.
Assia Gorban, geb. 1933 in Mohyliw-Podilskyi, Ukraine, wurde 1941 in das Ghetto ihrer Stadt verschleppt und kurz danach ins Todeslager Petschora. Sie floh mit der Mutter zurück nach Mohyliv-Podilskyi und überlebte dort im Versteck. Assia Gorban wurde Lehrerin und unterrichtete an einer Schule in Moskau. Seit 1992 lebt sie in Berlin. Assia Gorban ist Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Berlin und leitet die Berliner Gruppe von Shoah-Überlebenden „Phoenix aus der Asche“.
Ernst Grube, geb. 1932 in München, Deutschland, wurde 1942 gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Bruder in das Barackenlager Milbertshofen verschleppt, danach in das Sammel-Lager in Berg am Laim. Im März 1943 konnten die Kinder zu den Eltern zurückkehren. 1945 wurde Ernst Grube mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in das Lager Theresienstadt verschleppt und dort bei Kriegsende befreit. Nach der Befreiung wurde er zunächst Malermeister. Später machte er Abitur und wurde Berufsschullehrer. Als Mitglied der KPD wurde Ernst Grube mehrmals verhaftet. Er ist Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und Mitglied im politischen Beirat des NS-Dokumentationszentrums der Stadt München.
Dr. med. Peter Kenedi, geb. 1938 in Budapest, Ungarn, überlebte mit seiner Familie im Ghetto Budapest. Peter Kenedi studierte Medizin, wurde Internist und Kardiologe und war jahrelang Chefarzt im Diakonissen-Krankenhaus in Frankfurt am Main.
Dr. h. c. Charlotte Knobloch, geb. 1932 in München, Deutschland, wurde von ihrem Vater unter einer falschen Identität bei einer Bekannten in Mittelfranken versteckt. Seit 1985 ist sie Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Von 2006 – 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Ruth Melcer, geb. 1935 in Tomaszów Mazowiecki, Polen, wurde 1942 in das Ghetto ihrer Geburtsstadt gezwungen, nach Aufenthalt in Ghettos und einem Arbeitslager im besetzten Polen, 1944 mit ihren Eltern nach Auschwitz verschleppt, wo sie das Kriegsende erlebte. Ruth Melcer lernte und studierte in Israel und in Deutschland, sie lebte und arbeitete in Augsburg. Zurzeit lebt sie in München und ist Autorin eines Kochbuches.
Franz Michalski, sel. A. (1934 – 2023), geboren in Breslau, damals Deutschland, heute Polen, entging mit seiner Familie der drohenden Verschleppung durch die Flucht in die Steiermark und ins Sudetenland. Nach dem Krieg absolvierte er eine kaufmännische Ausbildung und heiratete seine Frau Petra. Er war Geschäftsführer eines Unternehmens der Boehringer-Mannheim-Gruppe.
Natalia Raksina, geb. 1931 in Leningrad, Russland, überlebte mit ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg die deutsche Blockade von Leningrad, heute St. Petersburg. Nach dem Krieg studierte sie Medizin und wurde leitende Kinderärztin in Leningrad. Nach 1990 emigrierte sie nach Deutschland und lebt in Köln.
Herbert Rubinstein, geb. 1936 in Czernowitz, damals Rumänien, heute Ukraine, entging mit seiner Familie knapp der drohenden Verschleppung aus dem Ghetto Czernowitz ins Vernichtungslager. Nach der Befreiung emigrierte er zunächst in die Niederlande, später nach Düsseldorf. Er führte zusammen mit seinem Stiefvater eine Damengürtelfabrik und engagierte sich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied in der Jüdischen Gemeinde. Herbert Rubinstein war von 1996 bis 2009 Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde im Rheinland.
Eva Szepesi, geb. 1932 in Budapest, Ungarn. Sie fand 1944 zunächst in verschiedenen Familien in der Slowakei Unterschlupf, wurde nach ihrer Entdeckung mit dem letzten Transport nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, wo sie die Befreiung erlebte. 1954 zog sie mit ihrer Familie nach Frankfurt am Main, wo sie zusammen mit ihrem Mann ein Pelzgeschäft führte. Für ihr Engagement als Zeitzeugin hat Eva Szepesi zahlreiche Ehrungen erhalten.
Marian Wajselfisz, geb. 1938, in Warschau, Polen, wurde mit seiner Familie in das Ghetto Otwock gezwungen. Sie konnten sich in ein Kellerversteck retten, wo sie zwei Jahre lang ausharrten. So konnten sie dem Konzentrationslager entkommen, bis sie 1944 von der Roten Armee befreit wurden. Nach der Shoah ging die Familie zunächst nach Deutschland. Marian Wajselfisz zog kurze Zeit später zu Verwandten nach Argentinien. In den 1960er-Jahren kehrte er nach Deutschland zurück und ließ sich in Berlin nieder. Er wurde Gastronom und betrieb eine Diskothek. 1970 gründete Wajselfisz zusammen mit Freunden den TuS Makkabi Berlin.
Dr. med. Leon Weintraub, geb. 1926 in Łódź, Polen, wurde 1940 mit seiner Mutter und seinen vier Schwestern ins Ghetto Litzmannstadt gezwungen, wo er Zwangsarbeit leistete. Im August 1944 wurde er mit seiner Mutter und drei Schwestern nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Er überlebte auch die Konzentrationslager Groß-Rosen, Flossenbürg und Natzweiler-Struthof sowie einen Todesmarsch. Nach der Befreiung studierte er in Göttingen Medizin und wurde Gynäkologe und Geburtshelfer. Nach seiner Rückkehr nach Polen 1950 arbeitete er zunächst in Warschau. 1966 wurde er Oberarzt an der Frauenklinik in Otwock. Als 1968 der Judenhass in Polen wieder aufbrandete, verlor er seine Anstellung. Weintraub emigrierte 1969 mit seiner Familie nach Stockholm, wo er bis heute lebt.
Ruth Winkelmann, geb. 1928 in Berlin, Deutschland, erlebte als Zehnjährige die Novemberpogrome 1938 in Berlin. Im Februar 1943 wurde ihr Vater nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Ruth Winkelmann musste sich mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester in einer Laubenkolonie in Berlin-Wittenau verstecken. Zugleich war sie verpflichtet, Zwangsarbeit in einer Uniformfabrik zu leisten. Nach der Befreiung wollte Ruth Winkelmann Lehrerin werden, aber das Studium wurde ihr verwehrt. Sie machte eine Ausbildung zur Konfektionärin und reiste zusammen mit ihrem Mann viel durch die Welt. Bis heute engagiert sie sich als Zeitzeugin.
Dr. med. Eva Umlauf 1942 geboren im Zwangsarbeiterlager Nowáky, Slowakei. Sie wurde 1944 als Kleinkind mit ihrer schwangeren Mutter und ihrem Vater aus der Slowakei nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Sie erkrankte dort schwer. Nach der Befreiung kehrte sie mit ihrer Mutter und ihrer neugeborenen Schwester in die Slowakei zurück. Sie studierte Medizin in Bratislava. 1967 wanderte sie mit ihrem Mann, der US-Staatsbürger war, nach München aus. Sie studierte Medizin, wurde Fachärztin für Kinderheilkunde und später auch für psychotherapeutische Medizin. Sie lebt in München.
Prof. Dr. Boris Zabarko, geb. 1935 in Kalininske, Ukraine. Er wurde in das unter rumänischer Besatzung errichtete Ghetto von Scharhorod gezwungen. Gegen Kriegsende versteckte er sich auf der Flucht vor deutschen Truppen mit etwa 30 Ghetto-Bewohnern in unterirdischen Tunneln. Boris Zabarko ist promovierter Historiker. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Berichte von Shoah-Überlebenden in der Ukraine zu sammeln. Boris Zabarko ist Autor von mehr als 200 Büchern und Fachartikeln über die Shoah und Präsident der Allukrainischen Vereinigung der jüdischen KZ- und Ghetto-Überlebenden.
Zitate aus den Interviews
Herbert Rubinstein zur Erfahrung der Ausgrenzung als Kind:
„Judenfeindschaft erlebte ich zum ersten Mal, als wir als kleine Kinder, jüdische Kinder, in etwa so vier, fünf Jahre alt waren. Mit anderen nichtjüdischen Kindern spielten wir regelmäßig auf der Straße. Und auf einmal haben die nichtjüdischen Kinder uns beschimpft und wir konnten überhaupt nicht verstehen warum?“
Ruth Winkelmann über die Pogromnacht im November 1938:
„Da waren jüdische Geschäfte direkt auf der Kreuzung. Und zuerst hatte Vater gesagt: ‚Nein, hier ist bestimmt eingebrochen worden.‘ Und dann sieht mein Vater auf einmal, dass an den Geschäften Davidsterne dran waren – und ‚Juden raus!‘ und ‚kauft nicht bei Juden!‘ stand da. Solche Parolen waren an die Geschäfte geschmiert.“
Ruth Winkelmann über den gelben Stern als Stigma:
„Die Regelung war die, dass wir einen gelben Stern an der äußeren Bekleidung tragen mussten. Da muss ich sagen, da habe ich mich gefühlt, wie an den Pranger gestellt. Alles guckte mich an, aber ich habe auch viele Gesichter gesehen, die es zwar gesehen haben, aber dann vor Scham weggeguckt haben.“
Petra und Franz Michalski über die Flucht vor der Gestapo:
„Es hieß: ‚Ihr werdet abgeholt am 17. Oktober, nachmittags um 15.30 Uhr.‘ Und das war Franz‘ zehnter Geburtstag. Und jetzt hat die Mutter überlegt: ‚Was macht sie? Wie kann sie der Gestapo entgehen?‘ Da das sein zehnter Geburtstag war, hat sie einen Geburtstags-Kaffeetisch gedeckt. Hat vorher bei ihrer Verwandtschaft ein bisschen geschnorrt nach Lebensmittelmarken, hat einen wunderschönen Kuchen gebacken, hat Kaffee gekocht und Kakao gekocht, hat den sehr gut dekorierten Kaffeetisch, hatte da Kerzen aufgestellt, hat sie angezündet. Und in dem Moment, wo die Gestapo an der Haustür klingelte, hat sie Kaffee eingegossen und Kakao eingegossen und ist mit beiden Kindern durch einen Dienstbotenausgang durch den Hinterhof in eine Seitenstraße und zum Bahnhof gerannt.“
Peter Kenedi über den Alltag der Diskriminierung:
„Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter und meine Großmutter den gelben Stern an die Kleidung genäht haben. Das ist meine erste Erinnerung. Wir waren gezeichnet. Man hat zweimal zwei Stunden Ausgang aus dem Haus gehabt und man konnte sehen, auf der Straßenbahn konnte man nur in den letzten Wagen einsteigen und so weiter. Man hat mit dem gelben Stern, ich kann mich erinnern, gespürt, dass man gezeichnet war.“
Aviva Goldschmidt über die Angst, entdeckt zu werden:
„Was mich praktisch von Anfang an geprägt hat, war der Satz meiner Mutter: ‚Du darfst nicht weinen, du darfst nicht singen, du darfst nicht lachen. Du musst immer ganz, ganz still sein. Und wenn du mir was sagen willst, darfst du nur flüstern.'“
Assia Gorban über den Abtransport mit dem Zug ins Konzentrationslager:
„Dann ist ein Zug gekommen. Aber der Zug war für Tiere, mit kleinen schmalen Fenstern oben und breiten Türen wie ein Tor, große Waggons. Man hat gesagt: ‚Schnell! In die Waggons.‘ Wir waren so wie Heringe im Fass, mussten ganz eng stehen. Einige sind sofort gestorben in dem Waggon. Kinder haben geweint, Kranke haben geschrien. Und plötzlich hören wir, dass der Zug fährt. Wohin, hat uns gar niemand gesagt.“
Aviva Goldschmidt über das Vernichtungslager Belzec:
„Man wusste, da war ein Vernichtungslager, das hieß Belzec. Und da kamen alle Juden, also die Kranken, Alten und Kinder, die sind dort hingekommen, auch die Familie, alle Geschwister meiner Mutter, die hatte zwölf Geschwister, alle sind dort umgekommen.“
Ruth Melcer über Auschwitz:
„Auschwitz war so ein Albtraum. Es war alles wie ein Inferno. Die Toten, die Apelle, der Geruch. Und ich dachte immer: ‚Der Himmel ist rot.'“
Dr. Leon Weintraub über Versöhnung:
„Das Wort Versöhnung ist für mich annehmbar, denn Vergeben, Verzeihen ist für mich unmöglich. Wie könnte ich einem SS-Mann verzeihen, der Zyklon-Gas reingeworfen hat, der meine Mutter, meine Verwandten getötet hat? Von 80 Mitgliedern der engsten Familie, das heißt die Geschwister meiner Eltern und ihre Kinder, meine Cousins, haben nur 16 überlebt. Das heißt, dass vier von fünf ermordet wurden.“
Aviva Goldschmidt über ihr Verhältnis zu Deutschland:
„Es war nicht leicht, aber ich bin nicht mit Hass erzogen worden. Im Gegenteil, ich bin sehr liebevoll erzogen worden. Meine Mutter hat mir sehr, sehr viel Liebe und Zuneigung geschenkt. Und ich habe nicht gelernt, zu hassen. Und ich bin jedem Menschen, als ich hier nach Deutschland kam, völlig unvoreingenommen begegnet.“
Charlotte Knobloch über antisemitische Proteste seit Beginn des Nahostkriegs infolge des Massakers durch die Hamas:
„Demonstrationen, wo der Tod von Juden gefordert wird und der Tod von Israelis gefordert ist. Das ist doch nicht zu glauben. Es gibt Einzelne, die das tun: sich gemeinsam mit uns diesem Judenhass entgegenzustellen. Wir sind zu wenige, viel zu wenige. Ich hoffe aber, dass sich das ändern wird und dass man aufwacht, die Menschen zu schützen, die die Hoffnung gehabt haben, in einer freien Demokratie zu leben.“
Herbert Rubinstein über die Folgen des 7. Oktober 2023:
„Die Zeit, die wir jetzt erleben, ist für uns alle – vor allem als Juden – eine sehr, sehr, sehr traumatisierende und bedenkliche, mit Angst erfüllt. Denn der Judenhass hat sich in Deutschland, aber auch weltweit in den letzten Monaten seit dem 7. Oktober enorm gesteigert. Die Demokratie müssen wir alle verteidigen, unabhängig von Religionen oder von politischen Einstellungen. Es darf nicht ein Zweifel an der Demokratie sein.“
Dr. Eva Umlauf über Erinnerung und die Rolle der Jugend:
„Ich finde, dass es sehr wichtig ist, gerade an junge Menschen zu appellieren. Warum? Weil sie die Zukunft sind. Weil sie alles in der Hand haben, später, weil sie zur Wahl gehen werden. Sie müssen unsere Demokratie schützen, weil, wenn sie das nicht tun, dann haben wir keine, dann haben wir wieder eine Diktatur.
Assia Gorban – Nie wieder!:
„Es gibt die zwei Wörter ‚Nie wieder!‘. Ich glaube, dass die junge Generation, auch die ältere, alle Generationen nach dem Krieg wissen, was passiert ist. Und sie verstehen, dass das nie wieder passieren darf. Denn sonst… Wir sehen, was jetzt in der Welt passiert: Kriege. Tote. Und es ist eine schlimme Sache.“