Dienstag, 12. März 2024

Von 100 auf Null: „Wie MCAS mein Leben verändert hat“

OR sprach mit einer Betroffenen

Etliche Erkrankungen, die gravierende Folgen für Menschen haben, müssen nicht näher erklärt werden. Anders verhält es sich bei der Diagnose „MCAS“. Diese Abkürzung steht für das Mastzellaktivierungssyndrom. MCAS kann viele unterschiedliche Symptome hervorrufen und zur Entwicklung chronisch-entzündlicher Folgeerkrankungen führen. Das MCAS ist bis heute kein eindeutig definiertes Krankheitsbild, sondern ein Syndrom: eine Anhäufung von Symptomen.

Mastzellen sind körpereigene Zellen, die im ganzen Organismus vorkommen, vor allem in den Schleimhäuten. Mastzellen sind wie Türsteher des Immunsystems und werden bei Krankheitserregern oder Infekten aktiv. Dann schütten sie über 200 Mediatoren aus (Botenstoffe, die die Eindringlinge unschädlich machen sollen). Bei einem MCAS ist das Immunsystem fehlgeleitet, es schüttet ununterbrochen diese Botenstoffe aus. So kommt es zur Überlastung des Organismus und zu ständigen Zusammenbrüchen bei Überlastung, Hitze, Kälte, Lebensmittel, Sport, Medikamente.

Im Februar 2017 wurde bei unserer Gesprächspartnerin Kerstin Taux MCAS diagnostiziert. Im Interview mit uns sprach sie unter anderem über ihren langen Weg zur Diagnose, wie sie heute im Alltag mit der Krankheit umgeht und wie sie über ihre MCAS Homepage und der weltweit ersten App zur Mastzellerkrankung versucht, Patienten:innen, Angehörige und Ärzt:innen über die Krankheit zu informieren. Frau Taux spricht zudem über ihre Petitionen, die sie an Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Lauterbach, des Weiteren eine e-Petition an die Petition des Bundestags eingereicht hat, um mehr Aufmerksamkeit in der Bevölkerung für die Erkrankung zu erreichen. Durch einen eigenen ICD-Code-Diagnoseschlüssel könnte die Krankheit bei den Krankenkassen bei den Regelleistungen aufgeführt werden.

Das folgende Interview mit Kerstin Taux macht anhand ihres persönlichen Beispiels klar, wie MCAS ein Leben verändert – und wie man sich mit anderen für das Thema engagieren kann.

OR: Frau Taux, vielen Dank, dass Sie mit uns über MCAS sprechen. Wann traten bei ihnen die ersten Symptome auf und wie äußerten sich diese?

KT: Begonnen hat alles als Jugendliche. Ich hatte häufig Magendarmbeschwerden. Damals dachte ich, dass es allen so geht. Als junge Frau verstärkten sich die Magendarmbeschwerden zu krampfhaften Schmerzen. Stress verstärkte die Symptomatik. In diesen Stresssituationen hatte ich auch manchmal Atemnot, erst wenn ich mich bewusst entspannte und ruhig blieb, bekam ich wieder besser Luft. Heute weiß ich, dass es die Mastzellen waren.

OR: Wie ging es für sie dann weiter und welche Rolle spielten die Mastzellen dabei?

KT: Mit Anfang 30 kamen plötzliche Allergiesymptome dazu. Ich reagierte allergisch auf verschiedene Bäume und Gräser. Allerdings fiel der Allergietest beim Arzt nicht so stark aus, dass eine Desensibilisierung in Betracht kam. Später, als die Mastzellerkrankung bereits fortgeschrittener war, reagierte ich im Winter mit Müdigkeit, Erschöpfung und Übelkeit auf die Kälte. Dasselbe verspürte ich auch im Sommer mit der Hitze. Heute weiß ich, dass die Magenbeschwerden von den Mastzellen herrührten, weil diese die Auslöser für die Folgebeschwerden waren.

OR: In welcher Form machte sich die Erkrankung noch bemerkbar?

KT: Es steigerte sich über die Jahre und war ein schleichender Prozess. Ich hatte ständige Zusammenbrüche und auch Anaphylaxien, das ist die schwerste Form der allergischen Reaktion, die tödlich enden kann, wenn sie nicht behandelt wird. Ich reagierte anaphylaktisch (lebensbedrohliche allergische Reaktionen, d.R.) auf Penicillin, auf Zwetschgen, auf Aspirin. Viele Jahre war ich phasenweise bettlägerig, habe jahrelang im Bett oder auf dem Sofa meine Tage verbracht. Erschöpfung, Schmerzen, Übelkeit, auf Medikamente und Lebensmittel habe ich allergisch reagiert und niemand wusste, woran es lag. Später kamen noch lebensbedrohliche Addisonkrisen, also eine chronische Nebenniereninsuffizienz, dazu, die mit Kortison behandelt wird, da der Körper nicht mehr in der Lage ist, körpereigenes Cortison herzustellen, welches aber überlebenswichtig ist. Es war eine schwere Zeit. Beruf und meinen Sport, das Tanzen, musste ich aufgeben, das war eine Erleichterung und gleichzeitig sehr schwer für mich, danach fiel ich erstmal in ein depressives Loch.

Man muss lernen, mit der Erkrankung und den Entbehrungen zu leben, was nicht leicht ist, denn die Krankheit kann einem alles nehmen und man kann nichts dagegen tun. Man muss sein Leben neu ordnen und es akzeptieren, dankbar sein, dass man lebt und das Beste daraus machen, soweit es möglich ist. Auch die sozialen Kontakte wurden immer weniger, es gab nicht viel Verständnis für meine Situation. Man wird ohne Diagnose als Hypochonder abgestempelt – in die Psychoecke geschoben. Das ist mir sogar vonseiten der Ärzt:innen nicht nur einmal passiert. Aber es gab auch verständnisvolle Ärzt:innen, die wirklich helfen wollten, aber nicht konnten, da sie MCAS nicht kannten!

OR: Welche Erkrankungen wurden bei ihnen bis heute festgestellt, und wie viel Zeit verging bis zur letzten Diagnose?

KT: Es sind Jahrzehnte vergangen, bis vor knapp sieben Jahren MCAS diagnostiziert wurde. Ich habe eine Ärzteodyssee hinter mir und bin in mehreren Städten Deutschlands gewesen, aber ohne, dass man mir helfen konnte. Ich war in der Charité in Berlin, in der Medizinischen Hochschule Hannover, in einer Klinik im Hochsauerland, die auf Allergien spezialisiert ist, in Sendenhorst bei Münster, in einer Rheumaklinik und bei etlichen Ärzten und allen Kliniken in Osnabrück, zum Teil als Notfall oder zur Diagnostik – ohne Erfolg. Meine Ärztin schickte mich dann im Februar 2017 nach Bonn in eine Klinik, in der ich in drei Tagen auf MCAS diagnostiziert wurde. Schock und Erleichterung gleichzeitig!

Leider wird die stationäre Diagnostik nicht mehr von den Krankenkassen getragen, sodass die meisten Patient:innen hunderte von Kilometern reisen müssen. Viele Patienten schaffen das aus eigener Kraft gar nicht mehr und erhalten so auch keine Diagnose, werden als Hypochonder abgestempelt. Deshalb ist der Diagnoseschlüssel ICD-Code auch so wichtig! Zuvor wurde 2006 „Hashimoto-Thyreoiditis“ festgestellt. Das ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die die Schilddrüse zerstört. Fünf Jahre darauf wurde eine Fibromyalgie diagnostiziert. Umgangssprachlich nennt man es auch „Weichteilrheuma“ es betrifft alle Sehnen, Muskeln und das Gewebe, die Gelenke. Auch Fibromyalgie ist ein Syndrom – auch hier vermutet man mittlerweile, wie beim Reizdarmsyndrom, dass auch die Mastzellen eine Rolle dabei spielen könnten. Aber eigentlich ging es erst richtig abwärts, nachdem ich 2006 einen grippalen Infekt hatte, ich habe sechs Monate gebraucht um mich davon zu erholen, danach ging es immer weiter bergab.

OR: Sie haben Betroffenen eine Zeit lang telefonisch rund um das Thema MCAS informiert. Über welche Themen wollten die anrufenden Informationen haben und was haben sie erfahren können?

KT: In den Telefonaten haben mir die Leute unter anderem von ihrer Leidensgeschichte, der Symptomatik ihrer Erkrankung und ihrer Ärzteodyssee berichtet. Zum Teil waren die Leute so verzweifelt, dass sie auch auf dubiose Angebote eingegangen sind, weil es keine Diagnostik oder Ärzte gab. Fragen gab es immer wieder danach: zu welchem Arzt? Welche Medikamente? Welche Diagnostik? Chancen auf Heilung?

OR: Da sind sichere Informationsquellen wichtig. Welche Beschwerden könnten auf eine MCAS-Erkrankung hinweisen?

KT: Wenn ihr Körper auf Lebensmittel, Getränke, Medikamente, Hitze, Kälte, Duftstoffe, Sport, Stress, Belastung und auch normaler Bewegung – mit unter anderem Magen-Darm-Problemen, Erschöpfung, einer Histaminintoleranz, innere Hitze, Kreislaufproblemen reagiert, sie schlecht schlafen, Hautekzeme, Kopfschmerzen nach dem Essen haben, die Nase beim Essen läuft, sie vielleicht schlechter Luft beim oder nach dem Essen haben oder Schweißausbrüche bekommen, könnte es ein Hinweis sein. Auch depressive Verstimmungen werden durch eine Mastzellerkrankung getriggert. Auch bei weniger Symptomen könnte ein MCAS vorliegen.

OR: Diese und viele weitere Hinweise findet man sowohl auf Ihrer MCAS-Webseite als auch in der weltweit ersten App, die Sie gemeinsam mit einem ehemaligen Arbeitskollegen für Patient:innen, Angehörige und Ärzte entwickelt haben und kostenlos zur Verfügung stellen. Über welche Themen wird dort noch informiert?

KT: Auf meiner Webseite und kostenlosen App (mit Ernährungstagebuch) unter anderem über Symptome, Diagnostik und Therapie sowie Informationen zur Petition. Zudem gibt es viele Ernährungstipps und Rezepte und eine Auflistung internationaler Ärzte, Hilfe für den Alltag und wo man sich Unterstützung suchen kann. Was tut mir gut? Probleme bei Krankheit und Beziehungen usw.

OR: Sie engagieren sich seit Jahren, um über MCAS zu informieren. Im Vorgespräch erwähnten sie, im August 2021 eine Gruppe für Osnabrücker:innen gegründet zu haben, die regelmäßig Veranstaltungen erstellen. Zudem bieten sie selbst seit diesem Jahr sogenannte Waldbaden-Kurse an. Worum geht es bei den beiden Aktivitäten?

KT: Bei der Facebookgruppe „MENSCHEN TREFFEN OSNABRÜCK“ handelt es sich um ein kostenloses Angebot, das sich an Menschen richtet, die gerne etwas unternehmen möchten, vielleicht aber niemanden haben und allein sind. Es handelt sich dabei um Kinobesuche, Veranstaltungen, Cafébesuche, gemeinsam Wandern usw.
Es gibt zwei Moderatoren, die mich unterstützen, wofür ich sehr dankbar bin und die auch kostenlose Angebote einbringen. Ich biete einmal im Monat ein Gruppentreffen an. Aber vor allem die Mitglieder sind gefragt und können sich selbst einbringen, Anfragen einstellen oder sich anderen Angeboten anschließen. Zum Waldbaden: Ich habe mich im Sommer 2023 in zwei Fortbildungen zur „Kursleiterin Waldbaden – Achtsamkeit in der Natur“ und weiterhin zur „Achtsamkeitstrainerin in der Natur“ weitergebildet. Daraus habe ich ein soziales Projekt entwickelt. Einmal im Monat biete ich für drei Stunden einen Kurs in der Natur an. Die Einnahmen gehen direkt von den Teilnehmern an das Tierheim und/oder an das Hospiz in Osnabrück. Dieses Projekt liegt mir auch sehr am Herzen, weil es mir selbst auch so viel Freude bringt und ich Kraft aus der Natur schöpfen kann.

OR: Sie erwähnten es bereits, dass der Weg zur Diagnose lang und auch teuer war. Sie haben 2020 auf der Online-Aktivismus-Plattform Change.org eine Petition eingereicht, die an den Bundesminister für Gesundheit, Prof. Dr. Heiner Lauterbach, richtet. Damit soll MCAS einen ICD-Code und damit die ambulante und stationäre Diagnostik von den Krankenkassen übernommen werden. Wie ist der aktuelle Stand?

KT: Es haben bereits über 8000 Personen die Petition unterschrieben. Das nächste Ziel wären 10.000 Unterzeichner:innen, damit das Gesuch mehr Gewicht erhält.

OR: Was würden Sie sich in Bezug auf die Erkrankung wünschen?

KT: Dass MCAS einen eigenen ICD-Code erhält, damit überall alle Ärzt:innen diagnostizieren und therapieren können, die Krankenkassen alle Kosten tragen, auch die stationären. Damit MCAS in der Gesellschaft „sichtbar“ wird. Zudem würde ich mir wünschen, dass Gelder in die Forschung fließen und Medikamente auf den Markt kommen, damit MCAS-Erkrankte ein normales Leben führen können. Mittlerweile habe ich, unabhängig von der Petition bei der BfArM, der Behörde für Arznei- und Medizinprodukte mit einem Vorschlagsverfahren einen ICD-Code vorgeschlagen.
Die Fachgesellschaften sind die ausschlaggebenden Posten, die diesem nun entweder zustimmen oder es ablehnen werden. Mir ist klar, dass es Personen gibt, die dies blockieren – aber ich erhoffe mir trotzdem, dass der ICD-Code für sinnvoll anerkannt und kodiert wird. Damit wir MCAS-Erkrankte ein würdevolles Leben führen können, denn davon ist viel abhängig, beispielsweise Pflegestufen, Frühberentung, Anerkennung der Erkrankung, Medikamente bis hin zur Forschung.

Über die Homepage findet man den Link zur Change org Petition und auch die Verlinkungen zur App: https://systemisches-mastzellaktivierungssyndrom-mcas.de/

Bis zum 9. Januar 2024 ist meine Petition direkt beim Bundestag veröffentlicht, ich würde mich freuen, wenn viele Osnabrück:innen mich unterstützen und diese unterschreiben.

https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2023/_11/_19/Petition_160075.html

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