Die Möser-Realschule folgt den Spuren eines ehemaligen Mitschülers
Mehr als 80 Schülerinnen und Schüler der Möser-Realschule standen am Mittwoch, dem 11. September, morgens dichtgedrängt vor einem Haus in der Heinrichstraße. Sie wollten bei der Verlegung eines neuen Stolpersteins dabei sein – denn sie hatten den jungen Mann kennengelernt, an den dieser Stolperstein erinnern soll. Und herausgefunden, dass er ein ehemaliger Mitschüler von ihnen war.
Die jungen Leute standen dort zusammen mit den Omas gegen Rechts, die zum Teil gleichzeitig im Verein Spurensuche-Osnabrück aktiv sind, und weiteren ZuschauerInnen. Hier an der Heinrichstraße 25 wohnte Walter Sundermann, der mit 23 Jahren an den Folgen der unmenschlichen Haft im Strafgefangenenlager Esterwegen starb – ein tragisches Schicksal, das für heutige junge Menschen nicht leicht nachvollziehbar ist.
Anregt wurde das Projekt durch die kommissarische Schulleiterin Hale Ünlü-Lachnitt, Vorstandsvorsitzende des Vereins Spurensuche Osnabrück. Sie erfuhr von Anika Groskurt, die zugleich Mitarbeiterin der Friedhofsabteilung der Osnabrücker Servicebetriebe und zugleich sehr aktiv im genannten Verein ist, von dem Grab von Walter Sundermann. Die hatte von Dr. Sebastian Weitkamp, Co-Leiter der Gedenkstätte Esterwegen, vom Schicksal Walter Sundermanns gehört und herausgefunden, dass es für ihn noch keinen Stolperstein gab.
„Es war es schnell klar, dass unbedingt an Ihn gedacht werden muss“, sagt die Mitbegründerin des Vereins „Spurensuche“, der zu Gräbern aus der NS-Zeit auf Osnabrücker Friedhöfen recherchiert. „Von Anfang an war klar, dass dieses Projekt mit einer Schule angegangen werden muss. Und keine Schule hätte so gut zu Walter Sundermann gepasst wie die Möser Realschule. Mit dem Verein Spurensuche-Osnabrück begleiten wir des Öfteren Schulprojekte und unterstützen bei solchen spannenden Aufgaben. Wir besuchen dann den Unterricht, oder begleiten die SchülerInnen auf dem Friedhof bei der Spurensuche.“
Dank an Schülerinnen und Schüler
Hale Ünlü-Lachnitt ergriff gern die Gelegenheit, sich an ihrer eigenen Schule mit dem ehemaligen Schüler der Möser-Realschule zu beschäftigen. Unterstützt wurde sie dabei von Sebastian Weitkamp, der sich mit Studierenden in Osnabrück 2015 für die Ausstellung „Abgeurteilt“ zuerst mit dem Schicksal von Walter Sundermann beschäftigt hatte. Er bedankte sich bei den Schülerinnen und Schülern der Möser-Realschule für ihr Engagement, die versucht hatten, mehr über den ehemaligen Schüler ihrer Schule herauszufinden, die sich damals an Hakenstraße 10 befand. 2003 zog die Schule zur Lotter Straße um und nennt sich seitdem Möser-Realschule am Westerberg.
Sebastian Weitkamp sagte, er sei sehr bewegt, dass die Schülerinnen und Schüler der heutigen Möser-Realschule die Patenschaft für Walter Sundermann übernommen haben, der bis 1937 Schüler dieser Schule gewesen ist. Sie hätten sich intensiv mit seinem Leben beschäftigt, Informationen aus der Haftakte recherchiert und seine ehemalige Grabstelle auf dem Heger Friedhof besucht.
„Aber dieses Grab gibt es nicht mehr in der Form. Ein Grabstein existiert nicht mehr. Das Schicksal von Walter Sundermann drohte ganz in Vergessenheit zu geraten. Nun haben die Schülerinnen und Schüler der Möser Realschule ihrem ehemaligen Mitschüler seine Geschichte zurückgegeben. Das war berührend. Durch den lokalen Bezug bleibt die Vergangenheit nicht abstrakt, sondern es kann eine persönliche Beziehung aufgebaut werden. Auf diese Weise können wir die Erinnerung an die Opfer einer verbrecherischen Diktatur lebendig halten.“
„Einer von uns, einer von euch“
Weitkamp betonte, dass Walter Sundermann Osnabrücker war, „einer von uns, einer von euch“. Es sei wichtig, an die Menschen vor Ort zu erinnern, „Opfer aus unserer Mitte, Nachbarn auch über die Grenze des Todes hinaus“. Das „Konzept Nachbarn“ bedeute, die Erinnerung an der Basis lebendig zu halten. Das unterstützte auch Ulla Groskurt für den Verein Spurensuche-Osnabrück in ihrer Rede.
Bevor es zur Stolpersteinverlegung am 11. September kam, versuchte die Schule, mehr über den ehemaligen Schüler herauszufinden. Er freue sich, dass die Beschäftigung der Schülerschaft mit Walter Sundermann neue Forschungen durch den Verein Spurensuche angestoßen habe, sagte Weitkamp. „Im Jahr 2015 konnten wir mit Studierenden der Universität Osnabrück keine Familienangehörigen mehr in der Stadt ausfindig machen. Seine Familie war nicht mehr nachweisbar. Aber vielleicht bekommen wir nun bald Kontakt zu Verwandten, die außerhalb wohnen.“
Das Ergebnis der Recherchen präsentierten die SchülerInnen im Rahmen eines kleinen Programm in der Aula der Schule, in Gegenwart eines großen Porträts des Namensgebers Justus Möser. Martin Siemsen von der Justus-Möser-Gesellschaft wies darauf hin, dass die Schule sich in der Vergangenheit bereits mit Felix Nussbaum, Hans-Georg Calmeyer und Erich Maria Remarque beschäftigt habe, Projekte, die zu mehr Demokratieverständnis geführt hätten. Der Namensgeber der Schule, Justus Möser, hätte sich seiner Ansicht nach über die Verlegung des Stolpersteins gefreut, denn, so Siemsen, „Despotismus war ihm zutiefst zuwider“. Den musste der junge Mann, um den es an diesem Tag ging, auf äußerst brutale Art erleben.
Walter Sundermann wurde am 24. Juni 1920 in Osnabrück geboren. Bis 1931 besuchte er die Volksschule, danach bis 1937 die Möser-Mittelschule, und war dort der Propaganda ausgesetzt, wie sie seit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten ab 1933 überall an den Schulen verbreitet wurde. „Die nationale und soziale Gedankenwelt in ihrer jungen Form wird Gemeingut aller deutschen Schulen werden“, verkündete Senator und Schulrat Dr. Preuß in Osnabrück in einer Festschrift „Einhundert Jahre Osnabrücker Mittelschule“ 1933. Große Aufgaben stünden der Lehrerschaft bevor „für die Gestaltung des neuen Deutschland“. Sebastian Weitkamp erinnerte daran, dass es unter den Schülern damals nicht nur Opfer, sondern auch Täter gegeben haben dürfte. Das wird am Beispiel des Reformrealgymnaisums deutlich, das sich 1933 unmittelbar angrenzend an das heutige Gelände der Möser-Realschule im Gebäude des emma-theaters befand. Von 36 Lehrern des Reformrealgymnasiums traten zwölf bereits zwischen Februar und Mai 1933 in die NSDAP ein, von den 552 Schülern gehörten 1936 bereits 541 der Hitlerjugend oder dem Deutschen Jungvolk, der Jugendorganisation der Hitlerjugend für Jungen zwischen 10 und 14 Jahren, an. Das Gymnasium durfte sich deshalb offiziell Hitlerjugendschule nennen.
Viele Schüler waren stolz, eine Uniform tragen zu dürfen und freuten sich, dass sie keine Hausaufgaben aufbekamen, wenn sie nachmittags zu den Treffen der Hitlerjugend gingen: Sport, Gesang und Geländespiele statt Schularbeiten: „Das war doch herrlich!“ berichtete ein Osnabrücker. „Etwas später, als dieser Zwang kam, wurde mir erst klar, dass nicht alles so toll war. Man wurde zu Treffen sogar abgeholt, um sicher zu stellen, dass man kam.“ Die Ausbildung war ganz klar militaristisch ausgerichtet.
Nicht allen gefielen HJ und militärischer Drill
Nicht alle fanden Gefallen an der Hitlerjugend und ihrem militärischen Drill. Walter Sundermann wollte nicht im Gleichschritt marschieren und machte nicht bei der Hitlerjugend mit. Doch 1940 wurde der gelernte Maschinenschlosser mit zwanzig Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Er wurde als Funker ausgebildet. Doch er weigerte sich, sich der militärischen Disziplin zu unterwerfen, und zeigte das, indem er etwa bei Märschen zurückfiel. Als er seine Truppe bei einem Marsch aus den Augen verlor, strengte er sich nicht sehr an, diese wiederzufinden. Er hielt sich bei verschiedenen Truppenverbänden auf, ohne sich offiziell als Versprengter zu melden. Das Gericht bezeichnete das als „Bumelleben“, bei dem Walter Sundermann seine soldatischen Pflichten verletzt habe. Dabei befand er sich immer noch an der Front und bei militärischen Einheiten.
„Walter Sundermann war sicherlich nicht der Typus des deutschen Soldaten, den sich Adolf Hitler für seinen Vernichtungskrieg in der Sowjetunion vorgestellt hatte,“ sagt Sebastian Weitkamp. Der junge Mann wurde verhaftet. Das Gericht sah in seiner „Bummelei“ eine „verbrecherische Absicht“ und legte sie als „Fahnenflucht“ aus. Obwohl es feststellte, „jugendliche Unüberlegtheit [sei] die Triebfeder zu dem Verbrechen“ gewesen, wurde er vom Feldgericht der Feldkommandantur V (244) in Borissow verurteilt und in das zivile Strafgefangenenlager VII Esterwegen eingeliefert. Von dort wurde er eine Woche später in das Konzentrationslager Esterwegen verlegt.
Sebastian Weitkamp wies in seiner Rede darauf hin, wie unmenschlich der Strafvollzug in den sogenannten Emslandlagern war. Die Schülerin Tahira las aus einem Brief von Walters Vater vor, der von einem Besuch bei seinem auf 45 Kilogramm völlig abemagerten Sohn schockiert war und sich um seine Entlassung aus dem Lager bemühte. Als Walter endlich in ein Krankenhaus gebracht wurde, war es zu spät. Kurz nach der Aufnahme im Marienhospital starb Walter im Alter von 23 Jahren an den Folgen der Haftbedingungen.
Die Schülerinnen und Schüler folgten den fast vergessenen Spuren des unsichtbaren Mitschülers, von dem es nicht einmal ein Bild gibt. Für viele Schülerinnen und Schüler war der Besuch auf dem Heger Friedhof der erste Friedhofsbesuch, und sie erfuhren, wie man sich dort verhält, „Wir waren da auch leise, wesentlich respektvoller als sonst“. Der Besuch auf dem Heger Friedhof machte neugierig, und hatte weitere Friedhofsbesuche, zum Beispiel auf dem muslimischen Friedhof in Nahne zur Folge.
Die Möser-Realschule ist heute stolz auf Walter Sundermann, den ehemaligen Schüler, der keine HJ-Uniform trug und sich auch in der der Wehrmacht nicht wohl fühlte. Die SchülerInnen bewundern Walter für seinen Mut: „Ich hätte das auch so gemacht, aber ich hätte wesentlich mehr Angst“, meint einer. Kirill stellt fest: „Walter ist ein mutiger Mann, schade, dass er gestorben ist“, und Samantha sagt, ein Spruch passe gut zu Walter Sundermann: „Nicht alle Helden tragen Capes“.