(Texte & Interwievs: Heiko Schulze & Kalla Wefel / Fotos: Manfred Pollert / Technik & Gesamtgestaltung: Kalla Wefel)
Teil 12 der OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens*
„Der Gefesselte“ vor der Dominikanerkirche (mit Dokumentarfilm)
Desillusioniert blickt der mit nacktem Oberkörper an einen Pfahl gefesselte Mann in die Ferne. Am 20 Juli 1964 wurde die von Gerhard Marcks geschaffene Skulptur von Vertretern der Stadt Osnabrück vor der Dominikanerkirche am Wall eingeweiht. Die Freie Presse betonte, der 1889 geborene Künstler habe sich „nie auf modische Kompromisse eingelassen“. Weiter schwärmte das Osnabrücker Lokalblatt von einer „Klarheit der Fläche, einer souveränen Gelassenheit bildnerischer Schau, Vereinfachung der Naturform“.
Sicherlich überrascht Kunst im öffentlichen Raum eher selten mit avantgardistischen Innovationen, im Gegenteil hinkt sie meist der allgemeinen Kunstentwicklung hinterher. Bei Kunstwerken mit denen die Bevölkerung täglich, auch unfreiwillig konfrontiert wird, ist eine breite Akzeptanz Grundbedingung für die Entscheidungsgremien. Als modern jedenfalls werden auch die Zeitgenoss*innen den „Gefesselten“ nicht bezeichnet haben. Vielleicht war dieses Mahnmal noch mehr auf eine breite Zustimmung der Osnabrücker:innen angewiesen als andere öffentliche Kunstwerke. Das Standbild solle nämlich, nach den Worten des Oberbürgermeisters Kelch, den Osnabrückerinnen und Osnabrückern „zugleich Aufruf und Mahnung“ sein.
Aber Aufruf wozu? Und Mahnung woran? So gegenständlich die Formensprache der Skulptur ausfällt, so abstrakt und allgemein ist die Widmung zu Füßen des „Gefesselten“ formuliert: „Den Opfern für Wahrheit und Freiheit“. Da mochten sich viele angesprochen fühlen. Der postnationalsozialistische Konsens war – keine 20 Jahre nach dem Ende des Krieges und der NS-Herrschaft – noch recht fragil. Deutlicher auszusprechen, wer Täter und wer Opfer waren, schien (noch) wenig opportun zu sein. Zu viele Deutsche waren selbst – die einen mehr, die anderen weniger – in das NS-System verstrickt gewesen. Auch unter den Anwesenden der Feierstunde mochten so manche Opportunisten (nach heutigen Maßstäben vielleicht sogar Täter) gewesen sein. Laut der Neuen Tagespost aus Osnabrück wohnten Vertreter des Rates und der Verwaltung, des Landkreises, der Kirchen und der Bundeswehr der Einweihungszeremonie bei – also ein guter Querschnitt der städtischen Nachkriegselite.
Der Schöpfer des „Gefesselten“ hingegen war über jeden Verdacht erhaben. Der vormalige Bauhaus-Dozent Gerhardt Marcks verlor 1933 seine Stellung als Direktor der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle, weil er sich für den Verbleib jüdischer Lehrkräfte einsetzte. Sein Werk wurde fortan als „entartet“ diffamiert. In der Bundesrepublik dann avancierte Marcks zu einem anerkannten Künstler, dessen Werke dreimal bei der documenta vertreten waren – zuletzt 1964, dem Jahr, in dem der „Gefesselte“ seinen Standort in Osnabrück fand. Ein anerkannter Name also, der sich auch in dem stolzen Preis von 80.000 DM für die Skulptur widerspiegelte. Bevor eine solche Summe den fragilen Konsens um die lokale „Vergangenheitsbewältigung“ hätte gefährden können, fand sich mit der Senator-Friedrich-Lehmann-Stiftung ein honoriger Sponsor, der das Kunstwerk finanzierte und der Stadt Osnabrück übergab.
Regierungsdirektor Dr. Friemann stellte den „Gefesselten“ in seiner kurzen Ansprache als Prototyp des „wissenden Deutschen“ dar, welcher mit seinem Gang „durch das tiefe Tal der Erkenntnis […] den Kampf gegen das Unrecht für sich bereits bestanden“ habe. Das Osnabrücker Tageblatt zitierte den Lokalpolitiker weiter mit den Worten „Dieser Mann sei die steinerne Verkörperung all jener, die um die Wahrheit gewusst hätten, dass jeder weitere Tag des Krieges unnötige Opfer fordern und jede Nacht weitere Städte in Schutt und Asche legen würde.“ Hier wird nun deutlicher, an welche Wahrheit mit der Skulptur vorrangig erinnert werden soll. Und wer sich zum großen Kreis der Opfer zählen durfte: alle Osnabrücker*innen die unter den Folgen des Krieges zu leiden hatten, und wer hatte das nicht?!
Anlass der Einweihungsfeier war also der 20. Jahrestag des gescheiterten Umsturzversuches am 20. Juli 1944. Ein großer Teil der Männer um Graf Schenk von Stauffenberg fungierten jahrelang als Stützen des NS-Regimes. Angesichts der abzusehenden Niederlage aber unternahmen sie einen letzten, verzweifelten Versuch, das NS-Regime zu stürzen. Gleichwohl waren die Verschwörer auch Anfang der 1960er Jahre noch keineswegs unumstritten; vielen Deutschen galten sie nach wie vor als „Vaterlandsverräter“. In derselben Ausgabe des Osnabrücker Tageblatts, die von der Mahnmal-Einweihung vor der Dominikanerkirche berichtet, erhält die zeitgleiche Gedenkfeier am Berliner Bendlerblock ebenfalls einen Bericht. Dort sah sich Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier – als Mitglied des Kreisauer Kreises selbst in die Attentatspläne vom 20. Juni eingeweiht – dazu veranlasst, zu versichern, „dass der Angriff auf Hitler nicht unternommen worden sei, um Deutschlands Kriegsgegnern zu helfen, sondern um weiteres Blutvergießen zu vermeiden“. Der zweithöchste Repräsentant der Bundesrepublik bedauerte in seiner Rede, „noch sei in diesem Land nicht jeder willens oder fähig, zu erkennen oder zuzugeben, dass es Patrioten gewesen seien, die es gewagt hätten, die Herrschaft der Hakenkreuzler in Deutschland zu vernichten“.
Die Unbestimmtheit der Widmung für die „Opfer für Wahrheit und Freiheit“ hat aber neben der prekären Anerkennung des militärischen Widerstandes noch einen weiteren Grund. Regierungspräsident Dr. Friemann schloss seine Rede mit dem Wunsch, dass „das Mahnmal zugleich ein Stein der Hoffnung sein“ möge. Der Hoffnung nämlich auf ein geeintes deutsches Vaterland. Bei dem Mahnmal sollten zwei Daten zusammen gedacht und erinnert werden: der 20. Juli 1944 und der 17. Juni 1953. Eine gemeinsame Gedenkstätte für den Widerstand um Graf Schenk von Stauffenberg und für die Opfer des Arbeiteraufstands in der DDR! Eine Verbindung, die heute nicht sofort einleuchtet. Ursprünglich suchte die Stadt Osnabrück bereits seit Mitte der 1950er Jahre nach einem Ort, um an die Opfer der NS-Herrschaft zu erinnern. Seit dem Bau der „Berliner Mauer“, 1961, wurde ebenfalls nach einer angemessenen Stelle gesucht, die sich eignete, um an diejenigen zu erinnern, die ihre Auflehnung gegen die DDR-Herrschaft mit Verfolgung und Tod bezahlten. Von der Verwaltung kam dann der Vorschlag, beiden Opfergruppen einen gemeinsamen Gedenkort einzurichten. Eine aus damaliger Sicht durchaus schlüssige Lösung. Dabei mögen nicht nur finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben. Tatsächlich ermöglichte es dieser geschichtspolitische Kurzschluss in totalitaristischer Perspektive auch, diejenigen Teile der Stadtbevölkerung an die öffentliche Würdigung des Widerstandes gegen das NS-Regime heranzuführen, die in einem nationalistischen Denken verhaftet geblieben waren.
Der Ort für den „Gefesselten“ eignete sich für dieses Vorhaben besonders, da zu dieser Zeit Pläne bestanden, die Dominikanerkirche als Gedenkstätte auszubauen. Als die Skulptur vor der ehemaligen Klosterkirche aufgestellt wurde, war der Vorplatz noch vom Krieg und den Provisorien der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt. Ein Wartehäuschen und eine Toilettenanlage sollten noch entfernt werden, bis der Platz sein heutiges Aussehen erhielt. Später fanden weitere Skulpturen hier eine dauerhafte Bleibe: der „Große sitzende weibliche Torso“ (1978-86) und der „Große Nagelkopf“ (1981/82). Beide Kunstwerke waren abstrakter gestaltet als die Gedenkstatue von 1963, blieben aber ebenfalls im figürlichen verhaftet. Dennoch wird auf den ersten Blick deutlich, dass der aus Basalt gehauene „Gefesselte“ mit seinem selbstbeherrschten Pathos aus einer gänzlich anderen Zeit stammt.
*Die 14-teilige OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens wird gefördert vom Fachbereich Kultur der Stadt Osnabrück.