Vorsicht, Reizstimmung! Die Fankommunikation beim VfL nach der Heimpleite gegen Ingolstadt …

In der Heimpartie gegen den FC Ingolstadt überzeugte der VfL in den ersten zwei Minuten und in der Nachspielzeit. Da spielte der VfL so, als könnte er in dieser Saison sicher oben angreifen.

In der langen Zeit dazwischen setzte der VfL hingegen die thiounesche Tugendlehre – d. h. den „Sei maximal“-Imperativ – nur in einer verstörenden Form um, denn er spielte maximal desillusionierend. Mit jedem Fehlpass, mit jeder Flanke ins Nichts, mit jedem Ballgeschiebe in den ungefährlichen Zonen des Spielfelds wuchs die Ernüchterung – auch bei mir, obwohl mein Fan-Ich von der Mannschaft nicht den Aufstieg zwingend erwartet. Aber in meinem Fan-Unterbewusstsein schlummert das Begehren nach der zweiten Liga, weshalb der Spielverlauf Frustgefühle triggerte. Ein Blick in den Oldschool-TP verriet: Ich war damit nicht allein! So drängte sich die Erkenntnis auf: Der VfL kommt aus der zweiten Liga heraus, aber die zweite Liga nicht aus den Köpfen der VfL-Fans.

Der VfL enttäuschte am Mittwoch vielfach die Erwartungen. Er agierte so unharmonisch, als wäre er – und nicht der FCI – der Club gewesen, der im Sommer einen großen Umbruch zu bewältigen hätte. Das neue Spielsystem erwies sich nicht als taktischer Trumpf. Denn: Der Ballbesitz blieb ohne Mehrwert, der Chancenwucher verschwand, aber nicht deshalb, weil die Chancen eiskalt genutzt worden wären. Der Chancenwucher verschwand, weil gar keine Chancen mehr herausgespielt wurden. So war das 0:1 kein Déjà-vu der letzten Saison, sondern eine leistungsmäßige Verschlechterung gegenüber den 0:1-Brückentagen, die den VfL-Fans vor einem Jahr die Laune verdorben hatten. Wie den Bayern-Fans droht uns sportlich eine Langeweile, wenn der VfL so weitermachen sollte wie gegen den FCI.  Während die Bayern-Fans in der Komfortzone an der Bundesligaspitze die Langeweile aushalten müssen, wäre unsere Langeweile kein warmer Entzug von einem spannenden Ligaalltag. Wir wären einer frostigen Langeweile ausgesetzt, die im Niemandsland der Tabelle immer dann hochkommt, wenn der geliebte Club entgegen seiner Aufstiegsorientierung – sei sie selbstbewusst oder verschwurbelt verkündet – sportlich abgehängt worden ist. Daher muss sich der VfL dringend steigern, damit dieses Szenario des großen Gähnens nicht eintritt.

„Scherne“ steht nun am Scheideweg. Er ist ein guter Trainer, ansonsten hätte er mit einem durchschnittlichen Etat letztes Jahr nicht so lange um den Aufstieg mitgespielt. Für den FC Bayern reicht es, nur ein guter Trainer zu sein, um Meister zu werden. Wer mit dem VfL unter begrenzten Budgetbedingungen aufsteigen will, muss dagegen ein großer Trainer sein, der nicht zuletzt auch die Rotation beherrscht. Ich hoffe, dass „Scherne“ diesen Entwicklungssprung in den nächsten Wochen schafft – was bedeutet, dass er die Breite des Kaders nutzen kann, ohne Kollateralschäden in Form von frustrierten Spielern zu erzeugen, die als Stinkstiefel das Kabinenklima belasten würden.

Wie gut der VfL abschneidet, wird in einem relevanten Maß davon abhängen, ob „Scherne“ seine Qualität als Förderer junger Spieler bestätigen kann. Letztes Jahr erfüllte er seinen Coachingauftrag als Bessermacher, indem sich Kleinhansl und Kunze unter seiner Verantwortung zu Spielern entwickelten, denen das Gütesiegel des Leistungsträgers zugeschrieben werden konnte. Nun gilt es, Engelhardt dabei zu helfen, dass er sich in der dritten Liga als ein Torjäger durchsetzt, der mit seiner Trefferquote die verzweifelten Rufe nach einer nostalgischen Retrolösung – d.h. nach einem Comeback von Alvarez – verstummen lässt.  Ebenso kommt es darauf an, dass Higls Traumtor in Aue in der Rückschau kein positiver Ausreißer bleibt, sondern als Initialzündung für seinen Durchbruch betrachtet werden kann.

Um die Potenziale seiner Spieler entfalten zu können, muss „Scherne“ ein Spielsystem finden, in dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Bei den Bayern reicht die Addition der Teile für den Gewinn der Meisterschaft aus, weil die individuelle Qualität so groß ist. Beim VfL kommt es dagegen auf das System an, d.h. der Trainer muss eine strategische Anordnung austüfteln, die seinen Spielern es ermöglicht, durch ihre gemeinsame Lauf- und Ballarbeit wechselseitig stärker zu werden. Das Thioune-Prinzip eben! Ob es wirklich die Raute ist, die der Unterschied ist, der den Unterschied zur letzten Saison macht, wird sich zeigen. Das Spiel gegen Ingolstadt rief jedoch erste stärkere Zweifel hervor, ob dieses System den VfL als Mannschaft besser macht.

Allerdings ist „Scherne“ auch ein Leidtragender des unnötigsten Abstiegs der VfL-Geschichte: eines Desasters, das andere Entscheider zu verantworten haben. In der Saison 18/19 wären alle zufrieden gewesen, wenn Thioune nur ein guter Trainer gewesen wäre. Ein 0:1 gegen einen Aufstiegsfavoriten hätte keine Empörungswelle ausgelöst, waren doch die Erinnerungen an den schmerzhaften Blick in den Abgrund der Regionalliga noch zu frisch gewesen. Heute ist die Atmosphäre im VfL-Umfeld psychologisch schwieriger: Da die seelischen Wunden des Abstiegs noch nicht verheilt sind, herrscht eine emotionale Instabilität vor, die schnell in eine Reizstimmung kippen kann.

Teilweise ist die Kritik an „Scherne“ berechtigt, teilweise ist sie aber übertrieben – und maßlos wird sie dann, wenn „Scherne“ mit einem Trainer-Azubi verglichen wird, wie im Oldschool-TP geschehen ist. So lässt sich feststellen: Die emotionale Instabilität im VFL-Umfeld bringt einen gewaltigen Kritiküberschuss hervor, der sich in den sozialen Medien ausbreitet. Einerseits lassen sich unter den wütenden Stellungnahmen zahlreiche Sätze finden, die in einer plausiblen Form Mängel im VfL-Spiel benennen. Andererseits lassen sich unter den wütenden Stellungnahmen auch zahlreiche Sätze finden, in denen ein großer Frust nachwirkt: nämlich jener über den unnötigsten Abstieg der VfL-Geschichte. Die Härte dieser Kritik legt nahe, dass „Scherne“ keinen Vertrauenskredit genießt, obwohl er ihn wegen der letzten Saison verdient hätte, die bis zur Schlussphase in Halle gut verlief. Die affektgeladenen Sätze, die eine übersteigerte Kritik transportieren, irritieren mit ihrer Anspruchshaltung, die latent mitkommuniziert wird.

Gewinnt der VfL nicht, gibt es neben der berechtigten Kritik konfrontative Ausbrüche, in denen Fans ihre hochgetriebenen Erwartungen ausagieren, die zur Realität nur noch einen Wackelkontakt haben. In diesen Fällen wird eine Drittligawelt konstruiert, in der Siege für den VfL alternativlos sind – egal gegen wen. Die Möglichkeit, ein Spiel nicht mehr zu gewinnen, ist nicht mehr legitim. Selbst ein Remis bei einem ambitionierten Gegner wie Aue am Sonntag wird zu einem Gesichtsverlust. Aus einer Präferenz für den Siegcode wird eine Notwendigkeit des Siegens – wodurch die Wahrscheinlichkeit für einen Shitstorm durch eine massive Erwartungsenttäuschung gesteigert wird.

Der oben beschriebene Fanhabitus ist eine Denkungs- und Handlungsart, die nach dem alten Glanz der Zweitligaherrlichkeit strebt, ohne diese Ambitionen mit den gegenwärtig verfügbaren Ressourcen objektiv fundieren zu können. Er ist ein Fanhabitus der Ewigkeit, der sich von Fakten wie der Stärke der Konkurrenz oder den eigenen Budgetzwängen nicht beeindrucken lässt. Das in der Wutkommunikation immer wieder durchschimmernde Identitätskonzept, ein ewiger Zweitligist zu sein, ruht in einer Anspruchshaltung, die nur tautologisch im Sinne von „weil der VfL der VfL ist“ begründet werden kann – wobei sie das vor sich selbst verbergen muss, weil sie sich ansonsten selber widerlegen würde. Mit dem Fanhabitus der Ewigkeit wird der Fußball zu einer Fiktion, bis die Realität böse hineingrätscht. Das Spiel gegen Ingolstadt war so ein Foul der objektiven Welt, das zu starken Identitätsschmerzen bei den Betroffenen führte.

Eine bessere Atmosphäre im VfL-Umfeld wäre ein wichtiger Aufstiegsfaktor. Die Frage wäre daher: Wie werden die VfL-Fans ihre Reizstimmung wieder los? Der Fanhabitus der Ewigkeit ist ein untauglicher Problemlösungsversuch, weil sich eine Wiederholung des Fußballmärchens aus der Saison 18/19 nicht durch eine übersteigerte Erwartungshaltung herbeizwingen lässt. Im Gegenteil, die damalige Aufbruchstimmung wurde durch Einstellungsmuster begünstigt, die zunächst frei von Aufstiegsambitionen waren. Das Fußballmärchen entstand, auch weil sich im Sommer 2018 ein nüchterner Realismus durchgesetzt hatte.

Um ein besseres Klima für einen Aufstieg zu schaffen, ist in der VfL-Anhängerschaft wohl eine paradoxe Intervention notwendig. Mit dieser Methode ist eine Selbstirritation gemeint, indem Sätze sagbar werden, die widersprüchlich erscheinen, Sätze wie: „Der VfL kann auch als Tabellensiebter oder -achter noch attraktiv sein!“ Auch mir fällt so ein Satz nicht leicht – und für diejenigen, die den Fanhabitus der ewigen Zweitligazugehörigkeit verinnerlicht haben, ist er die maximale Provokation. Aber der VfL ist mehr als sein sportlicher Erfolg, was an Tagen wie dem Ingolstadt-Spiel schnell aus dem Blick gerät. Denn eine wertebasierte Fankultur im Konsens mit einer wertebasierten Geschäftsführung ist ein Identitätsanker, der auch jenseits der Aufstiegsplätze einen starken emotionalen Halt gibt.

Mit Hilfe dieser nicht-sportlichen Identitätsanker muss die zweite Liga aus den Köpfen der Fans herauskommen, um dann später wieder eingeführt zu werden, wenn der Moment dafür reif ist. Anstatt jeden Punktverlust als eine Identitätsbedrohung wahrzunehmen, sollten sich die VfL-Fans selbst eine Versöhnung mit dem Mittelmaß der dritten Liga verordnen, um offen für einen Neuanfang zu werden, aus dem dann doch wieder Großes – der Wiederaufstieg – entstehen kann. Mit einem realistischen und fehlerfreundlichen Erwartungsmanagement können wir VfL-Fans zu einem zwölften Mann werden, der eine besondere Atmosphäre erzeugt: eine positiv emotionalisierende Atmosphäre, die dabei hilft, dass die Spieler im schönsten Trikot seit 82/83 wieder so überperformen, als wäre die Thioune-Zeit zurück.

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