Holocaustgedenken in Bramsche
„Juden gewinnen gegen Nazis, Nazis können auch mal gut sein.“ Yaar Harell, ein junger Jude aus Berlin, hat sich das ausgedacht. Er ist Game-Designer und bezeichnet sich selbst als den nichtjüdischsten Juden der Welt. Seine Familie ist vom Holocaust betroffen, hat Angehörige in der Shoah verloren. Aber er will nicht länger zu den Opfern gehören, denn er hat mitbekommen, wie sein Vater darunter leidet. Und genau dazu will er ein Computerspiel entwickeln. Ein Filmteam hat ihn und seine Idee über Jahre begleitet. Daraus ist der Film „Endlich Tacheles“ entstanden. Am Holocaustgedenktag (27. Januar 2024) wird der Film nach den mahnenden Worten von Bürgermeister Heiner Pahlmann und Pastor Arne Hüttmann am Mahnmal für die Zwangsarbeiter:innen und deren Kinder im Gemeindezentrum der St. Johanniskirche in Bramsche gezeigt.
Yaar und die Folgen der Shoa
Über 60 Besucher:innen haben sich dort eingefunden. Auch Yaar ist eigens aus Berlin angereist. In Israel geboren, ist er bereits mit 5 Jahren mit seiner Familie nach Berlin gezogen. Er hat dort eine bürgerliche Schule besucht und Abitur gemacht. Ist mit nichtjüdischen Freunden aufgewachsen und hat sich auch antisemitischen Anfeindungen gestellt. Und er bekommt mit, wie sein Vater, sein großes Vorbild, leidet. Ihm wird schnell klar, dass das etwas mit der Familiengeschichte zu tun haben muss, mit dem Leid und der Machtlosigkeit im Holocaust. Er findet es unfair, dass auch er, „ein neues Kind in dieser Welt“, unter dem leiden soll, was seinen Eltern und Großeltern widerfahren ist. Aber er ist auch bereit, sich seinem Erbe mit allen seinen schmerzhaften Erfahrungen zu stellen.
Yaar entscheidet sich dafür, diesen langen Prozess von der Kamera begleiten zu lassen, ungeschminkt. Der Dokumentarfilm „Endlich Tacheles“ entsteht unter der Regie von Andrea Schramm und Jana Matthes. „Tacheles“ kennen wir als Umschreibung für „Klartext reden“. Laut Duden bedeutet es auch, „unverhüllt, ohne falsche Rücksichtnahme seine Meinung sagen“. In altjüdischen Redensarten ist damit auch gemeint, „endlich auf den Punkt zu kommen“. Und genau das gelingt diesem Film …
Der Dokumentarfilm „Endlich Tacheles“
Yaar möchte nicht zeit seines Lebens einem „Opferverein“ angehören, wie er seiner Mutter zu Anfang erklärt. Aus diesem Wunsch sei die Idee entstanden, ein Computerspiel zu entwickeln, in dem sich die Juden wehren und die Nazis menschlich handeln können: „Als Gott schlief“. Seine Studienkollegen Sarah und Marcel unterstützen ihn. Während seine Mutter noch zurückhaltend skeptisch reagiert, ist sein Vater hingegen schockiert, weil Yaar seine Großmutter Rina zum Vorbild für das jüdische Mädchen Regina in dem Computerspiel vorgesehen hatte. Sein Vater hält ihm vor, dass in der Realität der kleine Bruder von Rina durch die Nazis ermordet worden ist und Rina sich bis heute schwere Vorwürfe mache, weil sie ihn nicht retten konnte. Auf keinen Fall dürfe diese Realität in dem Computerspiel umgekehrt werden. Yaar besucht seine Oma Rina, die in Jerusalem lebt und erfährt von ihr, was damals mit ihrem Bruder passiert sei.
Yaar und seine Studienkollegen reisen auch nach Krakau und besuchen das Gelände des ehemaligen KZ Plaszow. Sie wohnen in einem baufälligen Gebäude, das jenem Haus ähnelt, in dem Rina und ihre Familie damals gelebt haben könnten, und versuchen, Einzelheiten für ihr Computerspiel zu entwickeln. In einem sehr emotionalen Moment telefoniert Yaar mit seinem Vater und erklärt ihm schluchzend, wie sehr ihn die Begegnung mit der Vergangenheit seiner Familie hier am Ort des Geschehens nahegeht. Wenig später ist auch der Vater bei seinem Sohn in Krakau. Dieser Ort, der für ihre Familie viel Leid gebracht hat, verändert die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Und schließlich erfahren beide bei einem Zusammentreffen mit Nachkommen jener polnischen Familie, die Rina und Roman damals als Kinder aufgenommen hatten, noch ein furchtbares Familiengeheimnis…
Emotionen
Der 104 Minuten lange, preisgekrönte Film, der sogar für den Grimmepreis nominiert war, und über mehrere Jahre gedreht wurde, folgt keinem Drehbuch. Die Szenen haben sich aus der jeweiligen Situation heraus zu entwickelt, orientieren sich aber an einem schlüssigen, unsichtbaren Erzählfaden. Und sie berühren die Betrachter:innen durch ihren stark emotionalen Ausdruck. Die anschließende kurze Pause ist deshalb willkommen, um die tiefen Eindrücke, die der Film hinterlassen hat, einen kurzen Moment „sacken“ zu lassen und die Gedanken, die der Film ausgelöst hat, ein wenig zu ordnen.
Gesprächsrunde mit Yaar
Die anschließende Gesprächsrunde mit Yaar Harell, Alexandra Schütte und Arne Wegner von den Jusos eröffnete der Bramscher NS-Forscher Dieter Przygode mit der direkten Frage an Yaar, ob sich durch diesen Film das Verhältnis zu seinem Vater verändert habe. Yaar bestätigt mit klaren Worten, dass sich ein innerer Konflikt im Verhältnis zu seinem Vater, der am Anfang des Films durch eine eher ungewöhnliche Einladung in einen Boxklub mit einem Probeboxkampf symbolisiert wird, im Laufe des Films immer mehr auflöst, weil Yaar tiefer in die eigene Familiengeschichte eintaucht und dadurch ein Verständnis für das Verhalten seines Vaters („Ich habe als Kind nie Geburtstag gehabt und auch keine Geschenke bekommen“) entwickelt, das die beiden schließlich einander näher bringt.
Nach den Worten Yaars leiden die Nachkommen noch heute. „Es gibt jedoch Projekte und Ansätze, die Hoffnung machen, dass dieses Leid zeitgemäß und künstlerisch aufzuarbeiten, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen.“
„Der Film spricht junge Menschen an“, äußert sich Alexandra Schütte, die bei den Bramscher Jusos aktiv ist. „Als angehende Geschichtslehrerin ist für mich die Frage, wie ich das Thema Holocaust sinnvoll und nahbar für Schüler und Schülerinnen angehen kann, natürlich elementar. Yaars Film, vor allem aber auch die Idee des Computerspiels, ist meiner Meinung nach eine großartige Möglichkeit junge Menschen mit einem so emotionalen Thema in Berührung zu bringen. Davon abgesehen hat mich Yaars Geschichte stark gerührt, weil er eine Perspektive aufmacht, über die ich selbst während meines Studiums noch nie so nachgedacht habe.“
Dieser Aspekt wurde von Yaar aufgegriffen, der es für enorm wichtig hält, neue Wege der Erinnerung zu finden. „Mehr denn je brauchen wir Projekte, die warnen und aufklären, besonders in einer Sprache, die die junge Generation versteht und sich vertraut fühlt: soziale und interaktive Medien.“
Auf die Zwischenfrage aus dem Publikum, ob es nicht möglich sei, diesen Film auch in Schulklassen zu zeigen, erklärte Yaar Harell: „Das haben wir schon gemacht und werden es auch weiter anbieten.“ Immerhin befanden sich im Publikum auch Schüler:innen des älteren Jahrgangs des Bramscher Greselius-Gymnasiums, die sich den Film mit ihrem Geschichtslehrer angesehen hatten, und Mitglieder des Bramscher Jugendparlaments. Sie hätten den Film „unglaublich interessant“ gefunden, bekräftigten sie, weil er „neue Einblicke in die Nachkriegsgeneration der Juden gegeben“ habe. Besonders beeindruckt waren sie, den Hauptprotagonisten des Films „persönlich kennenzulernen.“
Und was ist nun aus dem im Film erwähnten Computerspiel „Als Gott schlief“ geworden? „Das Spiel wird aktuell entwickelt und befindet sich in der Konzeptionsphase“, konnte Yaar den Anwesenden berichten, auch dass Fördermittel eingeworben werden konnten. „Wir planen, Mitte nächsten Jahres einen spielbaren Prototypen vorzustellen.“
„Ich fand es großartig, dass der Abend so kommunikativ gestaltet war und auch das Publikum gut eingebunden war“ ergänzt Arne Wegner von den Bramscher Jusos, der ebenfalls in der Gesprächsrunde mit Yaar dabei war. „Man hat gemerkt, dass das Thema nach wie vor die Menschen berührt, egal ob jung oder alt.“ Arne Wegner und Alexandra Schütte nutzten die Gelegenheit, auf ihr mediales Projekt „Pfad der Erinnerung“ hinzuweisen, das kurz vor der Realisierung stehe und an vielen Orten im Bramscher Stadtbild neue Möglichkeiten eröffnen werde, Lokalgeschichte zu erleben.
Reaktionen
Die ehemalige Landtagsabgeordnete Ulla Groskurt, die extra aus Osnabrück in ihre ehemalige Heimatstadt Bramsche gekommen war, zeigte sich tief beeindruckt von dem Film, dessen Hauptprotagonist „die Zuschauer mit in seine Welt der Zerrissenheit“ genommen und teilhaben lasse an der „Auseinandersetzung mit den Erlebnissen seiner Eltern und seiner Großmutter“ und letztlich an seiner „Suche nach dem eigenen Ich.“ Das Miterleben im Film habe mittrauern lassen und das anschließende „direkte Gespräch mit Yaar hat das Verstehen vertieft.“
Pastor Arne Hüttmann, der die Räumlichkeiten des Gemeindezentrum von St. Johannis zur Verfügung gestellt hatte, zeigte sich erfreut darüber, dass an einem Samstagabend „sich so viele Menschen Zeit für das Gedenken genommen haben.“ Der Film habe einen guten Eindruck davon vermittelt, „was es bedeutet, mit dieser Last der Geschichte als junger Mensch umzugehen, sowohl in der Opfer- als auch in der Täterperspektive.“ Besonders wertvoll sei die anschließende Gesprächsmöglichkeit gewesen: „Es braucht diese Gesprächssituationen wieder mehr in unserer Gesellschaft, damit wir zueinander finden und uns irgendwann nicht nur miteinander, sondern auch mit unserer Geschichte versöhnen können. Ich würde mir wünschen, dass auch die Schulen wieder vermehrt den Austausch mit den Schülern über dieses Thema wagen, um eine aufkeimende Ignoranz oder ein aufkeimendes Desinteresse aufzubrechen.“
Stefanie Uhlenkamp von der Städtischen Jugendpflege zeigte sich erfreut darüber, dass sie die Gedenkveranstaltung mit Mitteln aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ unterstützen und damit ermöglichen konnte, dass der Dokumentarfilm „Endlich Tacheles!“ bereits zum zweiten Mal in Bramsche gezeigt wurde. Dadurch, dass es gelungen sei, den Hauptprotagonisten des Films, Yaar Harell, nach Bramsche zu holen, habe „es quasi Geschichte zum Anfassen“ gegeben. „Das war ein wirklich eindrucksvoller Abend.“
Die Demonstrationen gegen rechts, an denen sich in Bramsche, Osnabrück und anderen Orten zigtausende Demokraten beteiligten, würden deutlich machen, dass die Menschen sich ihrer Verantwortung bewusst seien im Kampf für Demokratie und gegen Antisemitismus und Rassismus, hob Bürgermeister Heiner Pahlmann hervor. „Die Veranstaltung und der Dialog heute sind wichtige Bausteine auf diesem Weg.“
Fazit
Der Film „Endlich Tacheles!“ hat deutlich gemacht, dass nicht nur die Überlebenden der Shoah leiden, sondern auch ihre Nachkommen. Auch wenn in wenigen Jahren die letzten Überlebenden verstorben sein werden, ist aber damit das Leiden nicht beendet. Die Scheu nehmen vor der Begegnung mit Juden ist ein ganz wichtiger Aspekt, sie wieder in die Gesellschaft zurückholen, dahin, wo sie einst waren und wo sie auch heute wieder hingehören: unter uns und zu uns.
„Ich bin dankbar, dass ich den Film in Bramsche vorstellen durfte und habe den Abend sehr genossen“, schreibt Yaar Harell in einer E-Mail ein paar Tage später. „Ich habe mich sehr gefreut über die Offenheit der Anwesenden, denn gerade der Dialog vor Ort ist sehr wichtig. Und ich würde mich sehr freuen, wenn es in naher Zukunft weitere Möglichkeiten geben könnte, den Film oder ähnliche Projekte in Bramsche zu zeigen.“