Carl Meyer, der Osnabrücker Fußball und der Jüdische Sportverein – 2. Teil
Neue Heimat in Eversburg (hier geht es zum 1. Teil)
Carl Meyer hingegen schlug einen anderen Weg ein. Mit seiner Familie war er nach der Geburt der beiden Töchter Inge (1923) und Helga (1924) im Jahre 1925 in eine städtische Wohnung in der Artilleriestraße 15 gezogen. Durch seine Tätigkeit in der Firma Julius Cantor, die an der Atterstraße im Stadtteil Eversburg gegenüber dem Bahnhof eine Mastanlage betrieb, hatte er also oft in Eversburg zu tun. Die beiden Töchter Ingeborg und Helga besuchten die Schule in Eversburg.
Initiative zur Gründung des Jüdischen Sportvereins Osnabrück
Doch zunächst kümmerte sich Carl Meyer um seine jüdischen Mitmenschen, insbesondere um jene, die in offenem Antisemitismus unter Führung ihres Vorsitzenden aus dem Osnabrücker Turnverein gejagt worden waren. Um weiter Sport treiben zu können, musste für die so Ausgegrenzten also bereits recht früh nach einer Alternative gesucht werden. Hans Langenfeld erwähnt in seiner Sportgeschichte der Stadt Osnabrück aus dem Jahre 2005 im Kapitel „Jüdische Sportorganisationen“ einen „Jüdischen Jugendverein (Sportverein), von dem sich sonst bisher keine Spuren gefunden haben. Über die Mitwirkung jüdischer Mitbürger in den allgemeinen Turn- und Sportvereinen der Stadt ist bislang ebenso wenig bekannt.“ Dem Bochumer Sporthistoriker Dr. Henry Wahlig ist es zu verdanken, dass diese Aussage grundlegend revidiert werden konnte. In der 2012 erschienen Dokumentation „Juden im Sport während des Nationalsozialismus . Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen“ führt er aus, dass sich „im Mai 1925 ein erstes schriftliches Zeugnis des Jüdischen Sportvereins Osnabrück [findet], als der Klub anlässlich seines einjährigen Bestehens auf seine Entstehungsgeschichte zurückblickte“ und sich daher „das Gründungsdatum des Vereins […] auf den Mai 1924 rückdatieren“ lasse. Auch diese Angabe, die sich auf einen Bericht der jüdischen Zeitung Der Schild vom 1. Mai 1925 bezieht, kann nun noch genauer verifiziert werden, denn im Israelitischen Familienblatt vom 4. September 1924 heißt es:
„Osnabrück. Am 16. Mai wurde hier ein jüdischer Sportverein unter dem Namen J.S.V. (Jüdischer Sportverein e. V.) gegründet. Die Gründung des Vereins entsprang aus den vielseitigen Wünschen der hiesigen Jugend, sich sportlich zu ertüchtigen. Zu diesem Zweck hat der Verein eine Fuß- und Faustball, Tennis- und Turnabteilung errichtet; außerdem ist noch eine Abteilung für Leichtathletik und eine Jugendgruppe ins Leben gerufen. Sämtliche Abteilungen werden von einem staatlich geprüften Sportlehrer trainiert. Der Verein ist politisch absolut neutral. Evtl. Spielangebote sind zu richten an die Schriftführerin Frl. Berthel Heß, Kamp 16.“ Das Gründungsdatum des Jüdischen Sportvereins Osnabrück (JSV) ist also der 16. Mai 1924.

Die Initiative dazu ging von Carl Meyer aus, der „in einer Versammlung die Angelegenheit zur Sprache brachte“, heißt es dazu in der Festschrift weiter. Dessen Schwägerin Berthel Heß fungierte als Schriftführerin. Carl Meyer, der selbst noch beim SV Ballsport Eversburg als Funktionär und Schiedsrichter aktiv war, unterstützte den Gründungsprozess mit seinen bisherigen Erfahrungen aus dem Vereinsleben. In kurzer Zeit konnte deshalb der Jüdische Sportverein ins Leben gerufen werden, wie in einer Festschrift zum einjährigen Bestehen hervorgehoben wurde. Ob Carl Meyer im neu gegründeten Jüdischen Sportverein Führungsaufgaben wahrnahm, ist nicht belegt. Er wird zumindest beratend tätig gewesen sein. Wegen seiner besonderen Verdienste um die Vereinsgründung wurde er aber von den Mitgliedern zum Ehrenvorsitzenden ernannt.
Aktiv beim SV Ballsport Eversburg
Nach übereinstimmenden Angaben von Höweler und Willecke setzte etwa zur gleichen Zeit in Eversburg eine Aufbruchstimmung zur Gründung eines Fußballvereins ein, von der auch Carl Meyer mitgerissen wurde. Die Pioniere seien zwanzig junge Leute aus der Gegend um den Sedanplatz gewesen, also in unmittelbarer Nachbarschaft zur Artilleriestraße, wo die Familie Meyer wohnte. Sie nannten ihren Sportverein „Ballsport“. Als die „Ballsportler“ genügend Aktive zusammen hatten, stellten sie eine Fußballmannschaft auf. Anfänglich spielten sie am Everskotten auf einer Wiese. Ein Jahr nach der Vereinsgründung begannen die „Ballsportler“ auf einem Grundstück an der verlängerten Sedanstraße mit dem Bau eines eigenen Sportplatzes. In mühevoller Arbeit, an dem sich sämtliche Mitglieder beteiligten, wurde auf dem sehr unebenen Gelände am Barenteich in nur vier Monaten eine neue Sportanlage hergerichtet. Am 15. August 1926 konnte gegen den Spielverein 16 das Einweihungsspiel ausgetragen werden. Carl Meyer wurde Mitglied in diesem neu gegründeten Fußballverein Ballsport Eversburg.

Fußballer, Schiedsrichter oder Funktionär?
Vieles deutet darauf hin, dass Carl Meyer von Anfang an im Vereinsleben des Eversburger Fußballklubs eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Einem Versammlungsprotokoll zufolge, das der Ballsportler Reinhold Klaaßen beim Amtsgericht Osnabrück ausfindig gemacht und dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, wurde er für den Wahlausschuss des Vereins vorgeschlagen. Allerdings wurde er, wie auch andere der Vorgeschlagenen nicht gewählt, weil man sich „darauf geeinigt hatte, dass nur Mitglieder in den Wahlausschuss gewählt werden sollten, die im Gesch.[äfts]-Jahr 1929 / 30 kein Amt innegehabt hatten. Welches Amt Carl Meyer bekleidete, erfahren wir in einem weiteren Abschnitt des Protokolls: „Der Bericht des Sp.[iel]-Ausschusses, den Herr Meyer gab …“ Carl Meyer wird demzufolge also „Spielausschussobmann“ im Verein gewesen sein. Er konnte der Mitgliederversammlung von dem Erfolg der ersten Herrenfußballmannschaft berichten, die „es wieder einmal geschafft hat, eine Klasse höher zu steigen“, woraufhin in der Versammlung ein „Ball Heil“ auf die erfolgreiche Elf ausgebracht wurde.

Carl Meyer konnte hervorheben, dass sich einige Spieler „durch ihr pflichtgetreues Verhalten gegenüber dem Verein besonders verdient gemacht hätten…“ Er beklagte allerdings auch, dass der „Zusammenhang der I. Elf in letzter Zeit sehr nachgelassen [habe] … Von der II. Elf konnte Herr Meyer berichten, dass die Zusammengehörigkeit sehr gut sei und dieses wohl in erster Linie dem Spielführer G. v. Doom als Verdienst angerechnet werden müsse.“ Wie engagiert, etabliert und vor allem anerkannt Carl Meyer in diesem Verein war, geht aus dem weiteren Verlauf der Versammlung hervor. Zunächst unterstützte er den Antrag für ein „Stimmrecht für die Jungmannen“, über den lebhaft debattiert wurde. Als es bei der Abstimmung keine Mehrheit für den Antrag gab, erhob er Einspruch gegen die Abstimmung. Eine Wiederholung der Abstimmung brachte dann eine klare Mehrheit, so dass die „Jungmannen volles Stimmrecht“ erhielten, auch dank der Intervention von Carl Meyer. In welchem Maße Carl Meyer im Verein akzeptiert und respektiert wurde, zeigte sich bei den anschließenden Wahlen zum Vorstand und zum Spielausschuss. Neben anderen wurde auch Carl Meyer für den Posten des ersten Vorsitzenden vorgeschlagen. Bei der Abstimmung unterlag er allerdings dem neu gewählten Vorsitzenden. Dafür wurde er im Anschluss mit den meisten Stimmen erneut in den Spielausschuss gewählt und erhielt so die verdiente Anerkennung für seinen ehrenamtlichen Einsatz im Verein. Carl Meyer blieb es schließlich vorbehalten, eine Aufstiegsfeier für die erste Herrenmannschaft vorzuschlagen, was mit großer Mehrheit von der Versammlung beschlossen wurde. Aus alledem lässt sich herleiten, dass Carl Meyer im SV Ballsport Eversburg bestens integriert war.
Gelegentlich wird er auch als aktiver Fußballer ausgeholfen haben, zumindest legt das ein Vereinsfoto nahe, das Carl Meyer inmitten einer Ballsportmannschaft im Trikot zeigt. Wegen einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Verletzung waren seine sportlichen Aktivitäten allerdings eingeschränkt.
„Carl war Fußballschiedsrichter“, hatte sein Neffe Erwin Voss in Argentinien gesagt. Auf einem weiteren Foto ist er abgebildet in schwarzer Schiedsrichterkleidung. Aus einem Mitteilungsblatt der freien Gewerkschaften und der Arbeiter-, Sport- und Kulturvereine erfahren wir, dass für zwei Spiele in Bramsche zwischen den ersten und zweiten Herrenmannschaften aus Bramsche und Nordhorn „Meyer (Eversburg)“ als Schiedsrichter angesetzt war. Am 14. Februar 1932 war er als Schiedsrichter der Partie zwischen der „Freien Spvg. Schinkel 1“ und „Bünde-Hunnebrock 1“ vorgesehen, die an der Schellenbergstraße in Osnabrück ausgetragen werden sollte.

Als Gaujugendfunktionär erhielt Carl Meyer noch im Jahre 1932 vom Vorstand des Westdeutschen Spielverbandes die goldene Ehrennadel für besondere Verdienste überreicht. Er sei „schon seit langen Jahren Gaujugendvorsitzender für den Bezirk Osnabrück“, heißt es in einer Meldung des Israelitischen Familienblatts vom 30. Juni 1932 mit der ergänzenden Bemerkung „Wenn man berücksichtigt, daß er hier unter starken antisemitischen Anfeindungen zu leiden hat, so ist die Auszeichnung besonders hervorzuheben.“

In dieser Aussage deutet sich an, dass die Akzeptanz des jüdischen Deutschen Carl Meyer in seinem Osnabrücker Umfeld bereits vor der Machtübergabe an Hitler „bröckelte“. Über seinen weiteren Werdegang bei Ballsport Eversburg und dessen Umfeld ist bislang noch nichts bekannt.
Danach …
Carl Meyer und seine Angehörigen gelang 1936 / 37 noch rechtzeitig die Flucht nach Argentinien, bevor die Nazis mit der Judenverfolgung und der „Endlösung der Judenfrage“ bitteren Ernst machten. Er starb am 23. Mai 1956 in Buenos Aires.
1987 besuchte Helga Reinberg, eine der beiden Töchter Carl Meyers, auf Einladung der Stadt Osnabrück neben anderen ehemaligen jüdischen Osnabrückern ihre Geburtsstadt. Mit dabei ihr Sohn Raul und ihr Enkel Ami.

„[Mein Vater] war Mitglied des Ballsportvereins“, bestätigte Helga Reinberg (geborene Meyer). Zum Besuchsprogramm gehörte daher selbstverständlich auch eine Stippvisite beim SV Ballsport Eversburg am Barenteich. Im Clubhaus traf sie auf einen Vereinsangehörigen, der sich sogar noch an ihren Vater erinnern konnte.
Am 6. März 2022 kehrte auch Carl Meyer posthum nach Osnabrück zurück. Im Rahmen der Wanderausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung. Jüdische Stars im deutschen Sport bis 1933 und danach“ gehörte Carl Meyer zu 17 lebensgroßen Foto-Figuren jüdischer Sportler, die auf dem Platz vor dem Osnabrücker Dom platziert waren, darunter ehemalige Fußballnationalspieler, deutsche Meister oder auch Turnolympiasieger:innen.

In den Enkeln von Carl Meyer lebt die Sportbegeisterung fort. Juan Schwersensky (Sohn von Inge Meyer) und Raul Reinberg (Sohn von Helga Meyer) sind selbst Anhänger von Fußballvereinen: Juan, der inzwischen von Argentinien nach Canada übergesiedelt ist, begeistert sich für den argentinischen Club Atletico Platense, Raul lebt in Israel und ist Anhänger von Hapoel Be’er Sheva. Beide verfolgen mit großem Interesse die Spiele des VfL Osnabrück.
