Sonntag, 6. Oktober 2024

Opfer der „Aktion Gewitter“

Vor 80 Jahren: Verhaftungswelle nach Stauffenberg-Attentat trifft vor allem die Arbeiterbewegung

Am 20. Juli 1944 scheiterte das von hochrangigen Offizieren geplante Attentat auf Hitler. Die Nazis betrieben daraufhin eine große „Säuberungswelle“, der zahlreiche Menschen zum Opfer fielen, egal, ob sie unmittelbar an dem Attentat beteiligt waren oder einfach nur mit den Attentätern verwandt waren. Doch nicht nur auf sie hatten es die braunen Machthaber abgesehen …

„Zu der sehr unterschiedlichen, teilweise in ihrer Zielsetzung widersprüchlichen Gruppe der Verschwörer [des 20. Juli] gehörten auch die Sozialdemokraten Julius Leber und Adolf Reichwein“, heißt es dazu in der Festschrift „100 Jahre SPD in Osnabrück“. Als der Staatsreich scheiterte, wurden neben Stauffenberg und anderen auch Leber und Reichwein zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Als Folge der Tat ließ der Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, am 17. August 1944 von SS-Gruppenführer Heinrich Müller in gleichlautenden Telegrammen an sämtliche Staatspolizeistellen im Deutschen Reich die „Aktion Gewitter“ anordnen. Aus dem Wortlaut des Telegramms:

„1) …alle früheren Reichstags- und Landtagsabgeordneten sowie Stadtverordneten der KPD und SPD im Reich [sind] festzunehmen. Gleichgültig ist, ob in diesem Augenblick etwas nachgewiesen ist oder nicht. Ich erweitere diese Festnahme-Aktion auf die ehemaligen Partei- und Gewerkschaftssekretäre der SPD.

2) Die Festnahmeaktion muß gleichzeitig am 22.8.44 in den frühen Morgenstunden beginnen.

3) Die Festgenommenen sind in Schutzhaft zu nehmen und umgehend dem nächsten KL. [Konzentrationslager] Stufe 1 einzuweisen. Schutzhaftantrag unter Kennwort ‚Aktion Gewitter’.“

Offensichtlich hat selbst auf Seiten der Gestapo Unklarheit darüber bestanden, welche Bezeichnung „Gitter“ oder „Gewitter“ für die Aktion zutreffend sei, da in dem erwähnten Fernschreiben beide Begriffe verwendet wurden. Auf jeden Fall folgte eine Verhaftungswelle im gesamten Gebiet des Deutschen Reiches. Landesweit waren etwa 6.000 potenzielle Regimegegner, insbesondere Mitglieder und Funktionäre der inzwischen verbotenen deutschen Arbeiterparteien und der Gewerkschaftsbewegung betroffen.

Von links nach rechts: Heinrich Hofrichter, Fritz Alwes, Fritz Timmer und August Wehrmeyer
Von links nach rechts: Heinrich Hofrichter, Fritz Alwes, Fritz Timmer und August Wehrmeyer

Von Heinrich Hofrichter, zu der Zeit Gewerkschaftssekretär und SPD-Funktionär in Bramsche (1946 bis 1957 Bürgermeister in Bramsche), erfahren wir aus dem Vorwort zu seinem Tagebuch aus dem Jahre 1952 (Archiv der SPD Bramsche): „Nach dem Attentat auf Hitler 1944 wurden allerorts die früheren Funktionäre der SPD abgeholt, so auch ich. Nachts um drei Uhr hieß es: Aufmachen – Polizei! Die Fahrt ging nach Osnabrück zum Schloß.“ Da keine Gründe für die Verhaftung angegeben wurden, habe man zunächst angenommen, dass das Ganze auf eine gemeine Denunziation zurückzuführen sei, was sich jedoch als unbegründet herausstellte. „In engen Zellen eingesperrt, sah man bekannte Gesichter,“ so Hofrichter weiter.

Friedrich „Fritz“ Timmer, SPD-Vorsitzender in Bramsche, beschreibt in seinen Erinnerungen, ebenfalls im Jahre 1952 aufgeschrieben (Archiv der SPD Bramsche), die Geschehnisse detailliert. Neben Hofrichter und ihm seien noch fünf weitere Genossen aus Bramsche, Wehrmeyer, Bührmann, Wortmann, Görtemöller und Alwes, verhaftet worden. „In Osnabrück traf dieser Schlag u. a. die Sozialdemokraten Mentrup, Szalinski und Groos und den ehemaligen sozialdemokratischen Parteisekretär Niedergesäß …“ heißt es dazu in „100 Jahre SPD in Osnabrück“.

„An dem fraglichen Morgen wurden bei der Gestapo in Osnabrück mehr als 80 Personen eingeliefert,“ erinnert sich Fritz Timmer. „Wegen Platzmangel wurden zunächst 10 bis 11 Mann in einer Zelle eingesperrt. Das winzige Fenster oben an der Zellenwand, welches auch noch mit Splitterschutz versehen war, ließ wenig Licht und Luft eindringen. Die gute Luft war bald verbraucht. Um die Mittagsstunde war die Hitze und stickige Luft fast unerträglich. Trinkwasser gab es erst nach lebhaftem Protest. Wer austreten mußte, sollte den Zelleneimer benutzen; erst nach lebhaften Trommeln mit den Fäusten wurde dem Betreffenden die Zellentür geöffnet, wo er dann mit Schimpfen und Drohungen vom Wachposten auf dem Flur in Empfang genommen wurde. Für die Nacht wurden dann die Zellentüren geöffnet. Die zur Nacht verstärkte Wache rief dann bei jeder Zellentür, das Heraustreten aus der Zelle sei verboten und falls ein Fluchtversuch unternommen werden sollte, würden 10 Mann liquidiert. Am folgenden Morgen trugen viele Häftlinge die Spuren von Wanzenbissen mit sich herum.“ Das war also die Situation, in der sich die Verhafteten der Aktion „Gewitter“ befanden. Doch, wie von einem Betroffenen bereits zehn Jahre zuvor vorausgesagt, es sollte noch schlimmer kommen …


Arbeitserziehungslager Ohrbeck

„Am folgenden Tag in den Abendstunden wurde der größte Teil der Häftlinge mit Lastwagen nach dem Arbeitserziehungslager für Fremdarbeiter in Ohrbeck abtransportiert“, schreibt Fritz Timmer weiter. Während Heinrich Hofrichter wegen einer kurz zuvor überwundenen Erkrankung als haftunfähig nach Hause entlassen worden war, wurden die übrigen, darunter Fritz Timmer, Heinrich Groos, Heinrich Niedergesäß, Wilhelm Mentrup und Fritz Szalinski, ins Arbeitserziehungslager Ohrbeck gebracht. Ein Ende des Monats August von der Gestapo erfasstes Stimmungsbild brachte zutage, dass die Verhaftungsaktion in der Öffentlichkeit Beunruhigung ausgelöst hatte, weil man nicht verstehen konnte, „dass diese Leute den Staat noch bedrohen könnten …“, wie Volker Issmer aus einer erhalten geblieben Schriftstück der Gestapo zitiert. Das Anfang 1944 von der Gestapo Osnabrück in Betrieb genommene Arbeitserziehungslager, in das die Verhafteten jetzt gebracht wurden, diente vor allem der Bestrafung „auffällig“ gewordener ausländischer Zwangsarbeiter. Die deutschen „politischen“ Häftlinge, die streng abgesondert von den ausländischen „Sträflingen“ untergebracht wurden, erhielt im Vergleich zu diesen eine Vorzugsbehandlung. „Es wurde uns noch gesagt, daß die Verpflegung gut und wir nicht zu arbeiten brauchten und wir uns bei Tage innerhalb der Einfriedung an der Vorderseite des Lagergebäudes frei bewegen konnten“, berichtet Fritz Timmer weiter. Gleich am ersten Abend bekamen sie mit, wie ausländische Häftlinge, die auf Essen warteten, von den Aufsehern regelrecht verprügelt wurden. Von weiteren Misshandlungen oder gar Tötung von Häftlingen hätten sie während ihres Aufenthalts nichts mitbekommen. Nach wenigen Wochen wurden die meisten der deutschen „politischen“ Häftlinge entlassen.

Nach den Ausführungen von Karl Kühling, 1946 kurzzeitig Redakteur der ersten Osnabrücker Rundschau, später Buchautor und NOZ-Lokalchef, habe der Osnabrücker Bildhauer Fritz Szalinski seinen Vater nach dessen Verhaftung noch einmal gesehen, „als dieser mit anderen unter SS-Bewachung durch die Straßen geführt [wurde], um, vom Arbeitszuchtlager Ohrbeck kommend, zum [Polizei]Gewahrsam an der Turnerstraße gebracht zu werden. Vater und Sohn konnten bei dieser traurigen Gelegenheit noch einige Worte miteinander sprechen; dann sahen sie sich nicht wieder.“

Kohlezeichnung des Künstlers Fritz Szalinski, der so seinen gleichnamigen Vater nach einem Besuch in Erinnerung behielt.
Kohlezeichnung des Künstlers Fritz Szalinski, der so seinen gleichnamigen Vater nach einem Besuch in Erinnerung behielt.

Am nächsten Tag seien die Inhaftierten mit „unbekanntem Ziel“ abtransportiert worden. Fritz Timmer, ebenso das frühere Osnabrücker SPD-Ratsmitglied und Reichsbannermann Adolf Staperfeld hatten wie andere das Glück und konnten nach Hause. Auch der Osnabrücker Sozialdemokrat und spätere Mitverfasser des Grundgesetzes, Hans Wunderlich, hatte zu den Verhafteten gezählt. Doch auch er besaß insofern „Glück im Unglück“, dass auch er bereits nach wenigen Wochen wieder freikam. Ebenfalls vorübergehend frei kam auch der ehemalige Redakteur der SPD-Tageszeitung Freie Presse, Josef Burgdorf. Letzterer war allerdings permanent unter Überwachung und immer wieder in Haft.

„Aber nicht alle wurden entlassen“, schreibt Timmer in seinen Erinnerungen. „Die Genossen Groos, Niedergesäß, Mentrup, Szalinski und noch einige kamen in ein KZ-Lager und haben die Heimat nie wieder gesehen. Der G[enosse] Bubert war wegen einer Lungenentzündung in ein Krankenhaus überführt worden, sonst hätte ih[m] dasselbe Los geblüht.“ Bei den anderen erwies sich das „unbekannte Ziel“ als Konzentrationslager (KZ) Neuengamme. Zu den Letztgenannten zählte auch der Osnabrücker Kommunist August Wille.

Den ehemaligen Osnabrücker Arbeitsamtsdirektor Heinrich Groos, den vormaligen AOK-Verwaltungsinspektor Wilhelm Mentrup sowie den früheren SPD-Parteisekretär Heinrich Niedergesäß traf das gleiche Schicksal wie Fritz Szalinski. Groos überlebte die KZ-Haft als erster nicht. Mentrup und Niedergesäß kamen mit anderen KZ-Häftlingen auf dem Schiff Thielbeck in der Lübecker Bucht um, als die KZ-Oberen Tausende von Häftlingen während alliierter Bombenangriffe auf Schiffe gepfercht hatten.

Zurück zu den Verhaftungen im Zuge der „Aktion Gewitter“: Walter Bubert, späterer Landrat und Oberkreisdirektor des bis 1972 bestehenden Osnabrücker Altkreises, schickte später, am 6. November 1948, dem Oberstaatsanwalt einen Brief, in dem er mit eigenen Worten darlegte, was folgend im Rahmen der „Aktion Gewitter“ geschehen war. Eingekerkert worden seien 39 Angehörige der SPD, drei der KPD und zehn ehemalige Gewerkschaftsfunktionäre. Allen sei erklärt worden, dass sofortige Erschießung drohe, falls jemand flüchten sollte. Bubert schrieb wörtlich zum Aufenthalt in Zellen des Gestapo-Kellers im Schloss:

„Die Häftlinge mussten zum erheblichen Teil auf dem feuchten Zementfußboden schlafen ohne einen Strohsack oder sonst etwas als Unterlage zu erhalten, und ebenfalls wurden keine Decken zum Zudecken gegeben, so dass die Häftlinge auf dem feuchten Zementfußboden ruhen mussten und sich schwer erkälteten. (…) Ich selbst habe mir dort eine schwere Lungenentzündung zugezogen, an der ich bis Mitte April 1945, davon mehrere Monate im Krankenhaus, später zu Hause gelegen habe.“

Der Osnabrücker Amtsarzt Dr. Heinrich Osthoff hatte nach der Erinnerung von Buberts Frau die von ihm verlangte Erklärung über die Transportfähigkeit in ein Konzentrationslager mit der Bemerkung unterzeichnet: „Transportfähig ist er zwar nicht, aber was soll ich machen?! Der Kopf sitzt mir näher als der Kragen!“

Es war überraschenderweise der Gmhütter Arzt Dr. Josef Deutz, Leiter des Amtes für Volksgesundheit des Landkreises Osnabrück, gläubiger Katholik, NSDAP-Mitglied und SA-Scharführer, der seinem Patienten „Transportunfähigkeit“ bescheinigte und ihn, obwohl schwer krank, überleben ließ. An den Spätfolgen seiner Qualen sollte Bubert 1950 sterben.

Bei allem Respekt vor den Akteuren des 20. Juli 1944 darf nicht verkannt werden, dass viele dieser zum Teil hochrangigen Offiziere sich in der ersten Phase des 2. Weltkrieges aktiv an den von Hitler befohlenen Kriegshandlungen beteiligt haben und sich erst im Angesicht der drohenden militärischen Niederlage dazu entschlossen, mit dem Attentat auf Hitler ein Ende des Krieges herbeizuführen. Aber: wollten nicht auch nur die wenigsten von ihnen den Nationalsozialismus beseitigen? Im Vergleich zu diesen Militärs, denen jährlich am Tag des Attentats gedacht wird, stehen jene mutigen „kleinen Leute“ Menschen wie Szalinski, Groos, Niedergesäß, Mentrup, Hofrichter, Timmer, Knölker, Bubert, Wunderlich, Staperfeld, Burgdorf und all die anderen, die ihrer demokratischen Gesinnung treu geblieben sind und von Anfang an gegen das Nazi-Regime auf so vielfältige Weise Widerstand geleistet haben, viele sogar ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert haben. Wo wird ihr Verhalten gewürdigt?

Ergänzender Hinweis: Die hier zitierten NS-Opfer und Widerstandskämpfer Walter Bubert, Heinrich Groos, Wilhelm Mentrup, Heinrich Niedergesäß, Josef Burgdorf und Hans Wunderlich werden – wie viele andere – ausführlich im Buch des Osnabrücker ILEX-Kreises „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit. 36 Biografien mutiger Menschen“ behandelt. Der Band ist unverändert im Buchhandel zu erwerben.

Wichtiger Termin zum Vormerken:  Zum Thema „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ wird es am 6. November von 19:00 bis 21:15 Uhr im Lesesaal der Bramscher Stadtbücherei, Mühlenstraße 7, eine Lesung der AutorInnen des ILEX-Kreises geben.

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