„Die Sau am Kacken halten“ – dank lila-weißer „A watt“-Mentalität
Nach acht Minuten fiel das 0:1 für die Gäste aus Sandhausen. Kurz zuvor hatte Kayo eine „hundertprozentige“ Chance für den VfL vergeben. Es schien so, als ob der VfL unentrinnbar in seinem Negativlauf gefangen wäre. Doch dann traten die Lilahemden auf wie die Hauptdarsteller in der psychopositiven Kampagne „Gib dem Fatalismus keine Chance“.
Wer die ersten acht Minuten sah, wähnte sich noch in der VfL Tragikomödie „Allspieltäglich grüßt der Fußballfrust“. Das, was auf dem Brückenrasen bis dahin passierte, entsprach dem Plot einer fast schon zu platten stereotypen Absteigergeschichte. Wäre das Geschehen auf dem Platz weiterhin dieser inhaltlich flachen Handlungslogik gefolgt, hätten wir VfL-Fans dauerentsetzt zusehen müssen, wie sich der Alptraum der Hinrunde fortgesetzt hätte. Die Lilahemden wären völlig auseinandergebrochen und erneut in eine böse Heimpleite getaumelt.
Gäbe es einen Fußballgott, hätte ER sich dagegen gelangweilt, wenn ER zugelassen hätte, dass die Partie gegen Sandhausen nach dem obigen wenig originellen Drehbuch verlaufen wäre. ER hätte sich dann selbst dazu verdonnern müssen, 5 Euro ins „Klischeeschwein“ zu schmeißen. Ob ein Allmächtiger des runden Leders für sein besseres Selbstamüsement im Fußballhimmel und zur Schonung seines Geldbeutels tatsächlich in den Spielverlauf an der „Brücke“ eingriff, weiß ich nicht. In jedem Fall brach das, was dort nach der achten Minute geschah, mit dem Klischee eines typischen Absteigers, der unter der Gesetzmäßigkeit „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“ immer tiefer in die Misere hineinstolpert.
Während ein Großteil der VfL-Fans nach dem frühen Rückstand kurzzeitig erstarrt war und das lila-weiße Publikum im Stadion plötzlich verstummte, traten die Lilahemden auf, als wäre nichts Dramatisches passiert. Auch auf die Gefahr hin, dass ein erneuter Vergleich mit dem FC Bayern schon wieder für ein größeres Gelächter in der VfL-Redaktion der „Osnabrücker Rundschau“ sorgt, wage ich die Behauptung: Der VfL zeigte nach dem 0:1 die lila-weiße Variante des bajuwarischen „Mir san mir“, nämlich die Osnabrücker „A watt“-Mentalität!
Nach dem Rückstand mobilisierte der VfL eine große Moral, mit seiner Reaktion pulverisierte er alle fatalistischen Erwartungen, die in den Köpfen seiner Fans getriggert wurden, als der frühe Gegentreffer gefallen war. Als hätte Marco Antwerpen im spanischen Trainingslager unseren Spielern ein Gewinner-Gen eingepflanzt, wehrte sich der VfL mit größter Vehemenz gegen das Ergebnisdesaster einer erneuten Heimpleite, die am sich verdüsternden Zukunftshorizont heranzunahen schien. So zeigten die Lilahemden eine große Zweikampf- und Laufstärke: Eine körperliche Intensität, die psychisch von dem Glauben an den eigenen Erfolg befeuert wurde, eine Resilienz eben, die an die Seriensieger aus München erinnerte, die sich von Rückständen nicht ein klitzekleines bisschen in ihrem Selbstverständnis, das Spiel zu gewinnen, beirren lassen.
Der VfL trat nicht nur physisch und „a watt“-mental beeindruckend auf, sondern auch fußballerisch. Unser Ex-Trainer Uwe Koschinat hätte diesen VfL-Spielstil wohl höchst anerkennend als „autoritär“ bezeichnet, vermittelte doch der Ball mit seinen Bewegungen den Eindruck, als würde er sich größtenteils dem Willen der Lilahemden unterwerfen. Nur beim Überschreiten der gegnerischen Torlinie muckte das Spielgerät ab und zu auf, ansonsten wäre der Sieg viel höher ausgefallen. Das 3:2 der VfLer war ihr verdientester Erfolg in der bisherigen Saison, denn für die Sandhäuser war es äußerst schmeichelhaft, dass sie bei dem großen Chancenplus der Lila-Weißen nur mit einem Tor Unterschied verloren.
Marco Antwerpen stellte die Mannschaft perfekt ein, wodurch sich die Spieler perfekt selbst motivieren konnten. Hinzu kam, dass am Samstag das neue 3-5-2-System bestens passte, damit die Kugel erfolgreich über den Platz gepasst, geschleppt, gedribbelt, geschossen und geköpft werden konnte. Die Außenbahnen waren in der Tiefe der gegnerischen Hälfte keine taktisch vernachlässigte Spielfläche mehr, sondern ein fußballerischer Ort, an dem der VfL torwirksam viel Alarm machte. Neben der Mentalität und dem System gehörte auch die individuelle Klasse im Sinne eines Heldenfußballs zur Erfolgsformel für das Spiel gegen Sandhausen. Bester Akteur auf dem Platz war ganz klar Lars Kehl.
Am Samstag zeigte Lars Kehl sein altes „Freiburger Fußball-Ich“, das im Trikot der Breisgauer starke Spiele abgeliefert hatte, weshalb er im Sommer 2023 als großer Hoffnungsträger zum VfL kam. Leider konnte er die Erwartungen bis letzten Samstag nicht erfüllen – in erster Linie aufgrund der vielen Verletzungen, die ihn aus dem Rhythmus brachten, aber vielleicht auch deshalb, weil Marco Antwerpen anders als seine Vorgänger erkannte, dass Lars Kehl am stärksten auf der Zehner-Position ist.
In der Partie gegen Sandhausen spielte Lars Kehl einerseits selbst starke Pässe. Andererseits bot er sich mit der strafräumlichen Positionierungsintelligenz eines Thomas Müllers immer wieder als torgefährlicher Passvollstrecker an – Entschuldigung für den erneuten Bayern-Vergleich! (Anm. d. Red.: A watt … und die gleiche Lobeshymne gibt es heute in „Kallas Einwurf“, aber ohne das unterwürfige Bayerngedöns). So wuchtete er zweimal sehenswert den Ball ins Sandhäuser Tor: Erst zum 1:1-Ausgleich und dann zum wichtigen Brustlöser-2:1 kurz vor der Pause. Beide Treffer waren insofern besonders, als sie ein fußballerisches Gesamtkunstwerk bildeten, wurden sie doch spielerisch stark von Niklas Niehoff mit Pässen in den Rückraum vorbereitet. Am zwischenzeitlichen 3:1 war Lars Kehl ebenfalls beteiligt, weil sein herrlicher Volleyschuss an den Pfosten Robert Tesche ermöglichte, im Stile eines Mittelstürmers den Abpraller ins gegnerische Tor zu schieben.
Fazit: Im Überschwang des gegenwärtigen Siegs ist die gefühlte Abstiegswahrscheinlichkeit bei „null“, die reale Abstiegsgefahr ist jedoch noch vorhanden. Daher gilt das kahnsche Prinzip von „Immer weiter, immer weiter!“, damit im Erfolgsmoment keine Sattheit entsteht. Dieses Mantra hat beim VfL auch Doc Welling verinnerlicht, wobei er es etwas anders ausdrückt. Bei ihm heißt es: „Die Sau am Kacken halten“ – was sprachästhetisch sogar schöner ist als die kahnsche Diktion und psychologisch hoffentlich genauso wirksam wie der Motivationssatz des Titanen.