Dienstag, 22. Oktober 2024

„Blechtrommel“ im Osnabrücker Theater: eine weitere Premieren-Betrachtung

Lohnenswerter Besuch, der zum Nachdenken verleitet
Von Ursula Alberts

Ergänzend zu der Theaterkritik von Kerstin Broszats möchte auch ich meine Sicht zu dem Stück mitteilen. Im September 2010 fand im Rahmen der Ruhrtriennale erstmalig eine Aufführung des Literaturklassikers von Günter Grass als Theaterstück auf deutschen Boden statt und zwar in einem ehemaligen Stahlwerk in Bochum.

Nun konnte am vergangenen Wochenende im Osnabrücker Theater die Premiere „Der Blechtrommel“ in der spannenden und eindrucksvollen Inszenierung von Christian Schlüter mit langanhaltendem Applaus gefeiert werden. Stefan Haschke überzeugte in seiner Rolle des widerständigen Oskars, der mit seinen nervenzersägenden Schreien alle Fenster in seiner Schule zum Bersten bringt und auch die Brille seiner Lehrerin nicht verschont. Der Erzähler der Rahmenhandlung ist Ronald Funke, der aber auch noch in anderen Rollen agiert, wie auch die weiteren fünf SchauspielerInnen des Stückes. Die Romanfiguren Jan Bronski, Agnes und Alfred Matzerath sind Hans-Christian Hegewald, Cora Kneisz und Oliver Meskendahl. Den Kreis der DarstellerInnen vervollständigen Sascha Maria Icks als Fräulein Spollenhauer und Nientje C. Schwabe als Großmutter, auch diese noch in weiteren Rollen.

 

Oskar-Darsteller Stefan Haschke. TV-Insider*innen kennen ihn seit 2018 auch als schrulligen Kommissar Drechshage im ZDF-Krimi „Wilsberg“. Foto: Theater Osnabrück
Oskar-Darsteller Stefan Haschke. TV-Insider*innen kennen ihn seit 2018 auch als schrulligen Kommissar Drechshage im ZDF-Krimi „Wilsberg“. Foto: Theater Osnabrück

Wie in der literarischen Vorlage fragt sich auch Oskar auf der Bühne: “Wie fange ich an?“ und gibt gleich die Antwort, „Ich beginne weit vor mir, denn niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte seiner Großeltern gedenkt.“ (siehe Programmheft)

Mit der kunstvoll gestalteten Figur der kaschubischen Großmutter Oskars im erhöhten Bühnenhintergrund wird in die zeitgeschichtliche Realität der Handlung eingeführt und mit Dialogen in kaschubischer Sprache veranschaulicht.

In rasantem Tempo und mit den SchauspielerInnen in wechselnden Rollen, nimmt die Geschichte von Oskar Matzerath ihren Lauf, wobei die ausgewählten Episoden prägnant herausgearbeitet sind. Mir gefiel die Nähe zur Literaturvorlage, die 1959 im damaligen Nachkriegsdeutschland durchaus ein Skandal war. Die zum Teil medial eingeblendeten Bühnenbilder im Hintergrund waren eher schön.

Die facettenreiche Figur des Oskars, der sich mit drei Jahren entschließt, nicht mehr zu wachsen, der widerständig ist, aber nicht nur ein „guter“ Antifaschist, sondern auch ein an sich und sein Überleben denkender, eher böser Egoist, der am Tode mehrerer Menschen in seinem Umfeld mitschuldig ist, lässt die Frage aufkommen, wofür er steht. „Vielleicht ist er mit seiner trotzigen Verweigerung, erwachsen werden zu wollen, Symptomträger einer durch den Nationalismus geprägten und traumatisierten Elterngeneration“, überlegt Christian Schlüter. „Vielleicht reicht diese Traumatisierung bis heute, wiederholt sich deshalb die Geschichte?“ (NOZ vom 12.10.2024, S. 16).

Auch nach diesem Theaterstück bleiben Fragen offen, unter anderem wie der fortschreitende Rechtsruck zu erklären und zu bewältigen ist. Sind die Risse im Boden unserer Demokratie so weit, dass die bewältigt geglaubten Dämonen in neuer Gestalt daraus hervortreten?

Es ist lohnenswert, sich mit dieser Bühnenfassung auf der Grundlage des Buches des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass auseinanderzusetzen, um unverarbeiteten Traumata im gesellschaftlichen Umfeld der Kriegsgenerationen nachzuspüren und auch in diesem Fakt gegebenenfalls einen Grund für den Rechtsruck in unserer Gegenwart zu sehen.

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