Issa Amro berichtet über die Lage in Palästina
Von Hagen Gieloff
Der palästinensische Friedens- und Widerstandsaktivist und Preisträger des „alternativen Nobelpreises“ Right Livelihood Award, Issa Amro, war am Sonntag in der Volkshochschule in Osnabrück zu Gast, um einen Vortrag über zivilen Widerstand zu halten und auf die Situation unter der israelischen Besatzung in seiner Heimat im Westjordanland aufmerksam zu machen.
Diese befindet sich momentan im Ausnahmezustand: 3 Millionen Palästinenserinnen stehen unter Lockdown, allein in Amros Heimatstadt Hebron sind 100 sogenannte Checkpoints geschlossen und damit für die Einheimischen nicht mehr passierbar.
Hebron im Süden des Westjordanlandes gilt als Paradebeispiel für das Apartheidssystem zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern, das von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und dem israelischen B’Tselem seit langem angeprangert wird.
Bestimmte Straßen dürfen von der arabischen Bevölkerung in der 200.000-Einwohner-Stadt nicht betreten werden; Importe und Exporte werden von der Besatzung genauso auf ein Minimum beschränkt wie die Versorgung mit Wasser und Strom. Im seit 1967 unter militärischer Besatzung stehenden Westjordanland haben Palästinenserinnen keine vollen Bürgerrechte und müssen im Fall einer Anklage vor Militärgerichte mit einer Verurteilungsrate von praktisch 100 Prozent, während Israelis Anspruch auf einen zivilgerichtlichen Prozess haben.
Seit Israels Angriff auf den Iran am vergangenen Freitag werden außerdem palästinensische Häuser von Soldaten der IDF beschlagnahmt, die aus Militärbasen evakuiert wurden und sich unter der Zivilbevölkerung verstecken – ein Kriegsverbrechen, das Israel selbst der Hamas im Gazastreifen vorwirft und dort als Rechtfertigung für das massenhafte Töten von Zivilisten nutzt.
Unterdrückung und Widerstand
Amro, der 1980 in Hebron geboren wurde, engagiert sich seit 2003 friedlich gegen die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat und kann aus eigener Erfahrung von der Unterdrückung erzählen. Er selbst wird für seine Arbeit seit Jahren regelmäßig schikaniert, verhaftet und geschlagen.
Die Täter kommen aus der israelischen Siedlerbewegung, die seit Beginn des Krieges in Gaza im ganzen Westjordanland noch rücksichtsloser vorgeht als zuvor. Geschützt werden die zumeist rechtsextremen Siedler von der israelischen Armee, die bei ihren Gewalttaten danebensteht, um, falls sich ein Palästinenser zu wehren versuchen sollte, diesen zu erschießen oder verhaften und sein Haus zu konfiszieren.
Verbrechen seitens der Siedler werden dagegen, wie der Verteidigungsminister inzwischen offen zugibt, nicht verfolgt. Wegen der ständigen Gewalt und Schikane haben schon ca. 13.000 Palästinenser das Stadtzentrum von Hebron verlassen müssen.
Als der studierte Ingenieur Amro selbst vor einigen Jahren von einer Siedlerin geschlagen wurde, wehrte er sich auf seine Weise: Er nutzte seine Beziehungen und internationale Bekanntheit, um gegen sie vor Gericht zu ziehen (ein Schritt, der für die meisten Palästinenserinnen kaum möglich ist), und gewann dank vieler Zeugen und von der Tat gemachten Videoaufnahmen den Prozess.
Als Amro vor einigen Tagen nach Deutschland flog, um an der Tagung der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft teilzunehmen (die auch den auf Englisch gehaltenen und live übersetzten Vortrag in Osnabrück ermöglicht hat), beauftragte er Freiwillige aus Italien und den USA, in seiner Abwesenheit sein Haus zu schützen.
Nur wenig später wurden diese von IDF-Soldaten aus dem Haus geworfen. Issa Amro, der nur ohnmächtig die Aufnahmen seiner Überwachungskamera ansehen kann, erkannte unter den Soldaten auch den Anwalt, der vor Gericht die Täterin verteidigt hatte und seit der Niederlage im Prozess einen Groll gegen ihn und seine Familie hegt.
Die Siedlungsbewegung, deren Ziel es ist, die Palästinenser aus der 60% des Westjordanlandes umfassenden „Zone C“ zu vertreiben, wird vom israelischen Staat aktiv unterstützt – neben der militärischen Begleitung auch mit 70 Milliarden Shekel (knapp 2 Mrd. Euro) für neue Siedlungen allein seit Oktober 2023. Ein Teil des Geldes geht auch an Siedlungen, die der israelische Staat selbst als „illegal“ klassifiziert, wobei nach der Genfer Konvention ohnehin alle Siedlungen im Westjordanland völkerrechtswidrig sind.
Seit dem 7. Oktober wurde das Tempo dieser Landnahme noch einmal deutlich erhöht. Selbst in der offiziell der palästinensischen Autonomiebehörde unterstehenden „Zone B“ werden nun Flächen den Siedlerinnen zugewiesen, womit das Oslo-Abkommen und die darin angestrebte Zweistaatenlösung endgültig nur noch auf dem Papier existieren. Gleichzeitig sitzen einige der ultrarechten Siedler inzwischen in der israelischen Regierung.
Itamar Ben-Gvir, ein Siedler aus Hebron und in Israel selbst verurteilter Terrorist, verteilt heute als Minister für nationale Sicherheit Gewehre an die Siedlerbewegung. Und über das Alltagsleben der Menschen im Westjordanland bestimmt Bezalel Smotrich, der offen zum Verbrennen palästinensischer Dörfer aufruft.
Dem Widerstand gegen diese Entwicklungen hat Issa Amro sein Leben gewidmet. Er begann sich mit gewaltfreiem zivilen Ungehorsam zu engagieren, als während seines Studiums die Polytechnische Hochschule Hebron abgeriegelt wurde, und schaffte es zusammen mit seinen Mitstreitern nach einem halben Jahr, die Wiederöffnung zu erwirken. 2007 war er einer der Mitbegründer von Youth Against Settlements und arbeitet heute mit den Human Rights Defenders zusammen. Der Widerstand gegen die Besatzung, betont Amro, erfolgt in der Realität fast immer friedlich, während in den Medien nur bei Gewaltausbrüchen berichtet wird.
„Die Hebronisierung der Welt“
Allgegenwärtig ist in Issa Amros Heimat auch die Überwachung. Wer sein Haus außerhalb bestimmter vorgegebener Zeiten verlässt, wird auf Schritt und Tritt von Kameras beobachtet, in deren Gesichtserkennungssystem jeder palästinensische Anwohner erfasst ist.
Dabei betont er die Verflochtenheit zwischen den Geschehnissen in Palästina und dem Rest der Welt: Die Überwachungstechnologien wie Kameradrohnen und KI-assistierte Gesichtserkennung, die an den Palästinensern im Westjordanland getestet werden, werden in alle Welt exportiert – genau wie polizeiliche „Expertise“ und in Gaza erprobte Waffen.
Wenn Frauen aus Hebron Amro fragen, ob die Drohnen auch in die Schlafzimmer filmen, sage er nein, erzählt er – aber in Wahrheit wisse weder er noch sonst irgendjemand, wie weit die Überwachung reicht und was mit den gesammelten Daten geschieht. So drohe eine „Hebronisierung der Welt“, bei der die Techniken der Unterdrückung nach und nach an immer mehr Orten zum Einsatz kommen.
Gleichzeitig kann gewaltfreier Widerstand nur mit Hilfe von außen funktionieren – auch und gerade aus Deutschland. Die Kamera als Werkzeug des Widerstandes, wie sie Youth Against Settlements und andere Organisationen einsetzen, kann nur eine Wirkung entfalten, wenn die dokumentierten Menschenrechtsbrüche auf Aufmerksamkeit, Empörung und letztendlich politischen Druck stoßen.
Darum ruft er dazu auf, nie aufzuhören, Bildung und öffentliche Aufmerksamkeit für die Lage der Palästinenserinnen zu mobilisieren und gegen die Unterstützung von Israels Vorgehen zu protestieren, mit Repressionen zu rechnen und kreativ und flexibel auf sie zu reagieren – und dabei immer auch konsequent gegen Antisemitismus zu kämpfen. Ohne diese Arbeit sei seine Organisation machtlos, erklärt Amro den Zuhörenden: „Without your work, we don’t exist.“
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
Hoffnung hat Amro trotz allem. Er erzählt vom israelischen Politiker Yair Golan, der den Umgang mit den Palästinensern anprangerte und dessen Partei bei den darauffolgenden Wahlen deutlich an Sitzen gewann, von der zunehmenden Unterstützung für die palästinensische Sache in Spanien, Norwegen, den Niederlanden und sogar den USA. Auch deutsche Politiker zeigten, wenn er allein mit ihnen sprach, Verständnis und Unterstützung für den Widerstand gegen die Besatzung – nur in der Öffentlichkeit trauten sie es sich noch nicht.
Selbst am 7. Oktober 2023, als Issa Amro von israelischen Sicherheitskräften entführt und gefoltert wurde, geknebelt und mit verbundenen Augen an einen Stuhl gefesselt war und glaubte, nun sterben zu müssen, wäre er in Frieden gegangen. Er habe gedacht, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden und sein Bestes gegeben hat.
Die wahren Helden der Gewaltfreiheit sind für den 45-jährigen die Menschen, die sich nicht vertreiben lassen. Die Frauen, die sich entscheiden, mit ihren Familien in Palästina zu bleiben; die Kinder, die dafür kämpfen, zur Schule gehen zu können; alle, die in Israel und Palästina gegen die Besatzung ihre Stimme erheben.
Entscheidend – und ein Wunder – sei es, unter diesen Umständen eine Gemeinschaft zu bleiben. So arbeiten Amros Organisationen auch an Dingen, die anderswo Selbstverständlichkeiten sind: Einen Kindergarten, ein Frauen- und ein Jugendzentrum haben sie schon gebaut; als nächstes soll ein Kino dran sein. Die Materialien von Zement bis Spielzeug müssen sie dabei mühselig hereinschmuggeln. Trotzdem lohne sich diese Arbeit, denn nur, indem die Gemeinschaft zusammenhält, kann sie überleben.
„Existence for us is resistance“, sagt Amro – für sein Volk sei das Existieren Widerstand.