Am 16.02.2023 war in der NOZ zu lesen, dass die in einem Zinksarg begrabene Leiche des im Reichstagsbrandprozess Haupangeklagten Marinus van der Lubbe Ende Januar exhumiert worden sei, um der Frage nachzugehen, ob der im Prozessverlauf zu beobachtende geistige Verfall auf Intoxikationen zurückgehen könnte. Der damals am Prozess beteiligte Psychiater Bonhoeffer (der Vater des später ermordeten Theologen) hatte derartige Überlegungen als „Auslandspropaganda“ abgetan.
Der Reichstagsbrandprozess wurde zunächst live im Radio übertragen. Angesichts der zahlreichen Widersprüche der Aussagen des van der Lubbe bereits im Ermittlungsverfahren war kaum zu erwarten, dass er im Prozess eine glaubhafte und nachvollziehbare Aussage würde machen können. Deshalb musste ein solcher Auftritt des Angeklagten unbedingt verhindert werden.
Die damaligen Medikamente zur Epilepsiebehandlung führten zu dem in Prozessfotos leicht zu erkennenden „Halbschlaf“ und unkontrolliertem Speichelfluss aus den Mundwinkeln.
Eines morgens um sechs Uhr kam der 1904 geborene Leidener triefnass nach Hause. Er hatte eine Gelegenheitsarbeit auf einem Sandschiff angenommen und war im Dunkel der Nacht neben den Landungssteg getreten. Er konnte nämlich nur schlecht – und schon gar nicht bei unzureichender Beleuchtung – etwas sehen. Zwei Arbeitsunfälle hatten zu einer starken Visusminderung und 1928 zur Erwerbsunfähigkeit geführt. 1931 wollte er nach Moskau wandern, um mit einem Reisebericht Geld zu verdienen. Die Reise endete allerdings auf dem Balkan. Auffällig an seinen aus dieser Zeit erhaltenen Berichten ist, dass er die Ortsnamen „nach Gehör“ schrieb, weil er die großbuchstabigen Ortseingangsschilder nicht lesen konnte.
Allein die enorme Sehbehinderung führte zu erheblichen Zweifeln an der Brandstiftung, die er nach seiner Verhaftung als Alleintäter mit Nachdruck für sich behauptete.
Noch im Januar 1933 musste er sich in Leiden einer Augenoperation unterziehen, die die Sehschärfe nicht verbesserte. Dagegen wurde festgestellt, dass die schmerzhafte und zu ständigen Tränen führende Schleimhautentzündung chronifiziert und nicht mehr behandelbar sei.
Kaum aus dem Krankenhaus – in problematischem Gesundheitszustand – entlassen, begab er sich auf die 1.000 Kilometer Fußmarsch nach Berlin, – fast ohne Geld, bis auf ein Stück Seife ohne Gepäck, ohne Schlafsack, ohne Wechselwäsche, ohne Rasierzeug, ohne die dringenden Medikamente für die frisch operierten Augen, immer um Nachtasyle bettelnd.
Dort kam er am 19.02.1933 an und kam in den kalten Winternächten in Nachtasylen unter.
Am 26.02.1933 habe er – eigentlich – den Heimweg in die Niederland antreten wollen, wanderte allerdings nach Norden, statt nach Westen, und sei in der Nacht zum 27.02. in einem Polizeiasyl in Hennigsdorf untergekommen. Am nächsten Tag sei er nach Berlin zurückgekehrt, habe in der Müllerstraße/Wedding vier Pakete Kohleanzünder gekauft. Die weitere Zeit bis zum Einstieg verbrachte er überwiegend durch eher zielloses Herumlaufen. Zu den durchwanderten Straßen machte er im späteren Ermittlungsverfahren detaillierte Angaben, – obwohl er die Straßenschilder gar nicht hätte lesen können.
An diesem Rosenmontag, bei drei Grad minus, lag in Berlin eine zwar geschlossene Schneedecke, aber infolge der Tausalze doch eher in der Form von Schneematsch.
Ohne das Reichstagsgebäude näher in Augenschein zu nehmen, ohne sich über etwaige Betriebszeiten zu erkundigen, sei er dann gegen 21 Uhr rechts neben dem Haupteingang zu einem der Balkone des Reichstagsrestaurants hochgeklettert, habe dort seine Streichhölzer verbraucht, um eine Packung Kohlanzünder in Brand zu setzen, habe dann ohne Verwendung von Werkzeugen oder auch nur einem Stein die beiden Scheiben – je 10 mm dicke – der doppelt angelegten Balkontür eingetreten und sei so in das Reichstagsgebäude eingedrungen. Er habe dann irgendwie den Weg zum Plenarsaal gefunden, unterwegs aber bereits eine zweite Packung Kohleanzünder verbraucht, und habe u.a. seine Jacke als Leuchthilfe im stockfinsteren Reichstagsgebäude benutzt. Im Plenarsaal habe er dann mit letzten Brandmitteln Feuer gelegt und habe sich dann, ohne den Erfolg seiner Tat zu prüfen, in einen Nebenraum begeben, um – mit nacktem Oberkörper – seine Verhaftung abzuwarten.
Soweit bis hierher die offizielle Version, wie sie in der Begründung der Verurteilung zum Tode niedergelegt wurde.
Die Menge des im Vorfeld, im Ermittlungsverfahren und im Prozess Gelogenen, Verbogenen, des Unwahrscheinlichen und sachlich Falschen ist gewaltig, – hier nur einige Beispiele:
Der Aufstieg zu dem Balkon in acht Metern Höhe konnte nicht so erfolgt sein, wie behauptet, das Einschlagen der beiden Scheiben der Balkontür wäre nur mit einem schwere Fäustel möglich gewesen. Das so entstandene Loch hätte keinen Durchstieg erlaubt. Fotodokumenten von dieser Scheibe fehlen. Der Weg im Reichstagsgebäude konnte nicht – wie behauptet – genommen werden. Die behaupteten Zeitabläufe stimmte nicht, – letztlich ließ man den Verhafteten so lange laufen, bis die Zeiten stimmten. Auf dem Weg wären mehrere Scheiben einzuschlagen gewesen, – die Scherben lagen aber auf der falschen Seite. Die getragene Kleidung wäre als Brandfackel und Leuchtmittel ungeeignet gewesen. Die verbliebenen Brandmittel hätten für die Entfachung eines Feuers im Plenarsaal nicht ausgereicht.
Aufschlussreich sind die in der Brandnacht gefertigten Täterfotos, deren innere Widersprüchlichkeit von der „großen“ Reichstagsbrandliteratur bisher nicht erkannt bzw. berücksichtigt wurde. Der Öffentlichkeit wurde van der Lubbe im Wesentlichen mit diesen Fotos vorgestellt:
Auf dem linken Foto wirkt van der Lubbe sauber, mit akkuratem Haarschnitt und ordentlich gekämmt, frisch rasiert und die Schuhe geputzt, die Hose ohne besondere Verschmutzungs- oder Knitterzeichen, für eine unversorgte Konjunktivitis kein Anhalt.
Irgendwelche Spuren der Entbehrungen von Wanderschaft und Nachtasyl sind nicht zu bemerken.
Dabei wäre doch vom Erscheinungsbild eher eine struppig-ungepflegte Person in hagerem, reduziertem Ernährungszustand, die Schuhe mit Tauspuren des Schnees zu erwarten gewesen.
Das rechte Foto zeigt van der Lubbe diesmal vollständig bekleidet:
Hatte er Jacke und Hemd nicht zur Brandlegung benutzt? Wieso trägt er die Mütze, die erst Tage später im Brandgebäude gefunden wurde? Wie kommt er an eine Packung derjenigen Kohleanzünder, die er zur Brandlegung vollständig aufgebraucht habe?
Waren die Fotos vielleicht schon vor der Tat aufgenommen worden?
Insbesondere die Sehbehinderung, die ihn in der Nacht oder auch bei flackernder Beleuchtung zum Blinden machten, und auch die Ungereimtheiten des Einstieges mussten zu Zweifel führen, ob van der Lubbe zur Brandlegungszeit überhaupt im Gebäude gewesen war.
Der ehemalige SA-Mann Hans-Martin Lennings hatte am 04.11.1955 bekundet, dass er zusammen mit anderen SA-Leuten den Kommunisten van der Lubbe auf Befehl im Auto zum Reichstag gebracht habe. Dort habe man den Rauch des Feuers, das van der Lubbe der Legende nach erst entzünden sollte, bereits wahrnehmen können.
Genau dieses Dokument war Jahrzehnte verschollen und fand sich erst im letzten Jahr im Nachlass des Verfassungsschützers Tobias Fritz, der seit den 1950er Jahren der Hauptexponent der Einzeltäter-Theorie gewesen war.