„Die Frau ohne Gesicht“: Michael Thomsens Novelle beleuchtet Kriegs- und Nachkriegsgeschehen
Der Bissendorfer Autor Michael Thomsen hat eine eindrucksvolle Novelle geschrieben. Er nutzt bewusst jene spannende Erzählform, was auf rund 100 Seiten sofort zum Weiterlesen verführt. Berichtet wird von der vermeintlichen Liebesgeschichte des polnischen Zwangsarbeiters Michal mit der Einheimischen Liesel. Hintergrund bilden die bislang nur ansatzweise erforschten Schicksale von Pawel Bryk und Lina Gräbig. Im Bissendorf der Kriegs- und Nachkriegsjahre endet alles mit der Ermordung Michals, der KZ-Haft Liesels, Intrigen und versagter Entschädigung durch bundesrepublikanische Behörden.
Im Geiste Remarques
Geschichtliche Ereignisse gewinnen erst dann eine echte Vorstellungskraft, wenn es den Schreibenden gelingt, das Geschehene am Beispiel einzelner Menschen zu erzählen. Kein Geringerer als der Osnabrücker Weltautor Erich Maria Remarque hat dies einmal im Jahre 1946 treffend auf den Punkt gebracht. Im Kontext seines KZ-Romans „Ein Funke Leben“ brachte er diese Einsicht so auf den Punkt:
»Die Menschen müssen sehen und hören, was Einzelnen geschieht, weil ihre Vorstellungskraft den allgemeinen Fakten nicht gerecht wird; sie kann nicht zählen. Eine Katastrophe fordert fünf Millionen Opfer, und das bedeutet nichts – die Zahl ist leer. Aber wenn ich Ihnen einen einzigen Menschen in seiner Vollkommenheit zeige, sein Vertrauen, seine Hoffnungen und seine Schwierigkeiten, und Ihnen dann zeige, wie er stirbt, ist das für immer in ihr Gedächtnis eingeschrieben.«
Ob sich Michael Thomsen diese Steilvorlage Remarques bei seiner Novelle zu Herzen genommen hat, weiß ich nicht. Aber in jeder Zeile seiner Abhandlung wird deutlich, wie wichtig die Einsicht des Osnabrücker Weltliteraten auch dann ist, wenn ein Autor über den NS-Mord an einem Zwangsarbeiter und über die KZ-Deportation seiner vermeintlichen Geliebten erzählt.
„Jemand musste Michal K. verleumdet oder denunziert haben.“ Wie es zur Novelle kam
So beginnt die Novelle. Aber anders als in Kafkas „Prozess“ wird in aller Klarheit das Schicksal der sogenannten „Polenhure“ Lina Gräbig, alias Liesel Gnädig, nacherzählt. Thomsen versucht, dabei ein mögliches Bild dieser Frau zu zeichnen, ihr gewissermaßen ein Gesicht zurückzugeben und beschreibt in dichterischer Freiheit, was für den Zwangsarbeiter Pawel Bryk und Lina Gräbig in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg bis zum Tod der „Frau ohne Gesicht“ Lebensrealität gewesen sein dürfte.
Die treulose Ehefrau des Kriegsinvaliden Heinrich Gräbig soll mit dem polnischen Kriegsgefangenen „Rassenschande“ betrieben haben. Der Autor versucht einfühlsam, die Leiden des einstigen Springinsfelds im Zuge der Verhöre durch die Gestapo, der Hinrichtung des polnischen Kriegsgefangenen, Linas Aufenthalte in Gefängnis und Konzentrationslager Ravensbrück sowie dem Behördenkrieg nach Kriegsende nachzuzeichnen. Das Leben aller Beteiligter wäre im Rahmen eines anderen Zeitgeistes mit hoher Sicherheit anders verlaufen.
Thomsen stolperte über diese Geschichte im Zuge der Lektüre von Veröffentlichungen des Heimatvereins Bissendorf in den Anfängen der 2000er Jahre. Die Schrecken, welche die Hinrichtung des polnischen Zwangsarbeiters Pawel Bryk hinterlassen haben, dauern im Ort noch bis heute an. Das Leid Lina Gräbigs blieb aber im Gegensatz zu Bryks Schicksal, der 1941 von Nationalsozialisten erhängt wurde, weitgehend verdrängt und im Dunkeln. Auch Fotos und Dokumente sind kaum oder gar nicht erhalten. Lina Gräbig hatte Demütigung, Gefängnis, Konzentrationslager und Krieg überstanden, hatte 1944 Sohn und Ehemann verloren und lebte in den letzten Jahren unauffällig und zurückgezogen.
„Deutschland über alles“: Wie ein Moorbrand schwelt es weiter
Thomsen stellt in einem Nachwort, das der Buchausgabe vorenthalten blieb, bewusst brandaktuelle Bezüge her: „Lässt sich aus den Zeugnissen der Zeit um 1930 ein Zeitgeist herauslesen, der wieder in anderer Gestalt zum Tragen kommt und unsere Debatten vergiftet? Und was ist das Destillat der zugrundeliegenden Haltungen? Ich vermeine in den politischen Entwicklungen der letzten Jahre zu erkennen, was da an seltsamen „Werthaltungen“ unsere Demokratie überdauert hat, und diese gefährdet. Es mag sein, dass ich mit der im Nachwort geäußerten Meinung den Bogen etwas zu weit spanne und den Leser mit meinen Gedanken zu sehr an die Hand nehme. Dennoch wage ich es!
‚Deutschland über alles‘, eine Haltung aus braunen Zeiten schwelt weiter wie ein Moorbrand in vielen Köpfen und bricht teilweise an unerwarteten Stellen los. Manchmal, kaschiert hinter liberal sich gebenden Geistern, werden die Menschen bewertet allein nach Nützlichkeitskriterien und im Sinne einer Gesellschaft, die Wohlstand, Effizienz und Wachstum zu Vokabeln ihrer Meinungsführerschaft erklären; man nennt so etwas auch Neoliberalismus.“
Besonders markant sind Parallelen, die Thomsen bei Gefahren durch die modernen Kommunikationsmedien erkennt:
„Halbwissen und Hörensagen durchdringen die Foren, auf denen sich heute vermehrt menschliches Zusammenleben abspielt. Niemand kann etwas beweisen oder hat etwas Konkretes gesehen. Gerüchte florieren. Distanzlosigkeit bis hin zu Skrupellosigkeit, die früher in den Kneipen noch eingefangen und von Diskutanten zeitnah gemäßigt werden konnten, werden wir heute ungefiltert und distanzlos in sozialen Medien und auf der Straße gewahr.
Moralische Grundsätze scheinen beliebig und empathische Zuwendung und Aufmerksamkeit erscheinen als Ausnahme. Berichtet wird der Skandal, zugehört wird denen, die laut sind. Der Kern, den ich in solchen malignen Äußerungen zu erkennen glaube, schwelt meines Erachtens auch im gesamten konservativ, auch linksliberalen und neoliberalen Lager und findet nicht selten Eingang in eine öffentliche Meinung, die zusätzlich gespeist wird von Halbwissen, Hörensagen oder fake news.
Eine Haltung, die Schwache, chronisch Kranke, Alte, Behinderte, Zuwanderer, ‚Asylanten‘ immer nur unter dem Aspekt der Kostenverursachung betrachtet und diese Gruppen weitestgehend ignoriert oder ihnen die Solidarität verweigert, eine solche Haltung ist noch immer weit verbreitet, wurde und wird weitergegeben über Elternhaus und bestimmte politische Parteien, und sie ist nicht weit entfernt von einem Begriff, den die Nationalsozialisten ‚unwertes Leben‘ nannten. Wer der Gemeinschaft nicht zuarbeitet oder nicht zuarbeiten kann, besonders dann, wenn er es könnte und es nicht tut. Die Nazis nannten diese Menschen ‚Arbeitsscheue.‘. Alles gilt von vornherein als Schmarotzertum und wird mit Sanktionen belegt oder verachtet.
Respekt gebührt in unserer Gesellschaft erst einmal nur denen, die ETWAS LEISTEN oder geleistet haben. Die Bürger haben gefälligst erst mal in VORLEISTUNG zu gehen, müssen ihre Kraft beweisen und fürs Gemeinwohl erwirtschaften, um sich zum Beispiel eine Rente zu verdienen. Da macht der Staat es ihnen vor: ‚Schuldenbremse‘, ‚Schwarze Null‘, Begriffe wie Warnschilder gegenüber all denen, die es wagen, Forderungen zu stellen.
Bei Kindern drückt man ein Auge zu; sie haben sich aber später als Erwachsene gefälligst als Steuerzahler und nicht als reine Geldempfänger zu gebärden. Sie sollen das Abitur schon nach zwölf statt nach 13 Jahren machen, Effizienzsteigerung eben. Wer den so hart erarbeiteten Besitzstand der Bürger in Gefahr bringt, wird geächtet; erhält bestenfalls den Status eines Aussätzigen, der den Wohlstand als Gefangener, wie im Krieg, oder Hilfsarbeiter mehren, der aber in allen Dingen der gesellschaftlichen Teilhabe entzogen wird.“
Ein Mensch wie Lina Gräbig: Appell für eine andere Sicht der Gegenwart
Dass es auch ganz anders ging und geht, sieht Thomsen am Beispiel seiner Novellenfigur Lina Gräbig. Er schreibt:
„Aber es gibt ja immer wieder Menschen – wie Lina Gräbig – die zuerst den Menschen sehen und nicht allein den Wert, den er für die Gemeinschaft hat. Diese abweisenden WERTHALTUNGEN sind bis heute die Basis eines gemeinsamen Nenners zwischen Faschisten, Konservativen und Neoliberalen und haben bis in die Mitte unserer Gesellschaft weite Verbreitung gefunden. Diese Werthaltungen fungieren wie ein tertium comparationis zwischen dem Nationalsozialismus und dem Neoliberalismus, der einem ungehemmten Kapitalismus das Wort redet, und sie leben im Bauch unserer Demokratien fort.
Man will, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben und separiert sie von denen, die von schlechtem Einfluss sein können. Gnädig ist man bestenfalls noch mit jenen, die für ihre fehlende Leistungskraft nichts können, ihnen wird dann so etwas wie ‚christliche Nächstenliebe‘ zuteil. Nun ist aber die Würde des Menschen unantastbar! Sie gilt eben auch denen, die sich dem allgemein Erwarteten (bewusst) entziehen oder die die Hürden dafür nicht überspringen können.
Wenn dann noch der scheinbar ‚Wertlose‘ oder ‚Minderwertige‘, entgegen allen Erwartungen, nicht nur erwartete Normen (über)erfüllt und sich erdreistet (haben sollte), einem Nachbarn das Weib auszuspannen, dann schäumt der ‚Wert-Erhalter‘ des Status Quo über und Neid und Missgunst spritzt den Hass als Denunziation heraus. Pawel Bryk, darf noch gutaussehend, kompetent und fleißig sein, wertvoll (gewinnbringend) also, aber wie schön ist es für die Neider, wenn sie sich auf eine Ideologie berufen können, die es bis an die Spitze staatlicher und juristischer Macht geschafft hat, und die in dem Wort „Rassenschande“ Bestätigung findet!“
Warum Erinnerungen oft fehlen
Thomsen zitiert in seinen Schlussbemerkungen den Bissendorfer Ortshistoriker Manfred Staub: „Es fehlen Erinnerungen an Lina Gräbig in der Nachkriegszeit. Sie lebte in dem kleinen Dorf, ohne Aufmerksamkeit zu erregen und Spuren zu hinterlassen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die handelnden Personen, die an der Gestapoaktion gegen sie beteiligt waren, auch die Denunzianten, alle ungestraft ihrer bisherigen Tätigkeit nachgingen.“
In Thomsens Novelle wird deutlich: Spätestens ein launig angesetzter Fototermin Linas mit einem Zimmerermann in Osnabrück, der ihre vermeintlichen „Liebschaften“ mit älteren Männern angeblich nachwies, dürfte ihren Ruf besiegelt haben. Allein aus datenschutzrechtlichen Gründen wäre so eine Zurschaustellung des gemeinsamen Fotos heute nicht mehr möglich. Und eine Abfolge der damaligen Ereignisse, wie im Fall Lina Gräbig, hätte es womöglich nie in der damaligen Ausprägung gegeben. Was heute toleriert wird, war damals nicht akzeptabel. Beides, kirchliche Moral und nationalsozialistische Gesinnung, ließen das seinerzeit nicht zu.
Weiter schreibt Thomsen: „Die Recherchen des Historikers Sebastian Weitkamp machen aber im Nachhinein eine Tragik deutlich, die den Geist der braunen Gesinnungen noch in der jungen Demokratie der Bundesrepublik zeigt und ihn (bis heute?) fortleben lässt.“
Klar wird: Lina Gräbig wurde nicht allein durch die an sie herangetragene öffentliche, negative Meinung mit anschließender Denunziation bestraft. Dies geschah offenkundig auch nicht allein durch den Tod des polnischen Zwangsarbeiters, dessen grausame Hinrichtung sie in gewisser Hinsicht als mitschuldig empfunden haben dürfte. Es erfolgte auch nicht allein mit Gefängnis und Konzentrationslager, aus dem die Gefangene, mit der Nummer 9954 lebend, aber malträtiert herauskam, auch nicht durch den frühen Tod des Sohnes und des Ehemanns. Schwerwiegend war ebenso Linas spätere Meidung und Ächtung im Dorf. Gleiches traf auf die Art und Weise des Umgangs staatlicher Behörden mit ihren Anträgen auf Entschädigung zu. Fatal war am Ende deren Aberkennung und die Rückzahlungsforderungen ihrer bereits zugestandenen Entschädigungszahlungen.
Ein Geist lebt fort
Thomsen: „Es ging also nach dem Krieg weiter. War der Corpus beschädigt, so lebte der Geist dennoch fort. Manche trugen ihre braun gefärbte Ideologie noch jahrzehntelang weiter, sie marschierten in den Institutionen noch bevor der Begriff ‚Marsch durch die Institutionen‘ Ende der 60-er Jahre von links erfunden wurde und impften die Nachfahren mit ihrem Gift.
Und heute? Worauf berufen sich all die Hetzer aus der rechten und neoliberalen Sphäre? Nun – es sind eben andere Werte! Nicht Frieden, Solidarität, Nachhaltigkeit, Klimarettung, Naturerhalt, Empathie oder Respekt, sondern Gewinn, Vorteil, Eigeninteresse, Wohlstand, Wachstum, Effizienz und Nützlichkeit stehen vor aufklärerischer Vernunft und ethischen Grundhaltungen.
Diese aus meiner Sicht falschen Prioritätensetzungen in den Gehirnen der mehr rechten und der teilweise linksliberal-grünen Eliten, aber vor allem der (neo)liberalen und konservativen, politischen Landschaft führen zu Gegnerschaft, Respektlosigkeit und über kurz oder lang zum Krieg. Sie gefährden aber sicher langfristig die Demokratie, weil sie immer wieder ansetzen am Selbsterhaltungstrieb und instinktgetriebenen Wunsch nach Anerkennung und Besserseinwollen der meisten Menschen. Ein übertriebener und zur Schau gestellter Stolz auf die eigene Herkunft lässt keinerlei Raum für Selbstkritik und Demut.
Der Geist von 1933 kehrt sukzessive in neuem Gewand zurück. Bürgerinnen und Bürger unseres Dorfes bildeten im Sommer 2024 deswegen eine Menschenkette um das Rathaus.
Wohlstandsgefährder, wie Asylbewerber und Sozialhilfeempfänger („Asoziale“), sowie Andersdenkende und Ausländer werden in den Nachbarschaftsgesprächen, in Kneipen und in sozialen Foren des Internets angeprangert und über öffentlich getriebene Meinung und Lobbyismus bis hin zu sozialpolitischen Entscheidungen, die sogar Gesetzeskraft erlangen, abgestraft. Denn sie beanspruchen schließlich, und das ‚unverschämterweise‘, Geldleistungen aus den Steuergeldern der – in den Reden der PolitikerInnen angesprochenen – ‚hart arbeitenden‘ Bevölkerung. Der Gesang ‚Ausländer raus‘, noch 2024 ‚blau‘ gesungen, hat etwas, was vor hundert Jahren Menschen hervorbrachte, die jüdische Geschäftsfenster zertrümmerten.“
Unter dem Stempel dieses Nachworts gelesen, ist die Zeit um Pawel Bryk und Lina Gräbig, denen Thomsen mit Michal K. und Liesel Gnädig neue Gesichter verleiht, vielleicht gar nicht so weit entfernt. Kurzum: Wer der Gegenwart einen Spiegel aus der Geschichte vorhält, liegt mit der Lektüre der Novelle exakt richtig. Im Buchhandel ist die Novelle erhältlich. Unbedingt lesen! Der Band kostet 7,99 Euro.