Ein Sturm im Schnapsglas

Gedanken nach der Berlin-Wahl

Es gibt Momente in der deutschen Politik, da muss man sich zuweilen kopfschüttelnd die Augen reiben. Nehmen wir einen besonders geeigneten Protagonisten für kräftige Sprüche. Jens Spahn, neben Hardliner und Parteichef Friedrich Merz neuer Kraftprotz seiner Partei in der Talkshow-Welt, sagte laut Merkur-Bericht am Montag: „Die Berlinerinnen und Berliner haben den Wechsel gewählt. Sie haben diesen rot-rot-grünen Senat satt.“

Weitere, ähnlich klingende Sätze anderer ließen sich unendlich ergänzen. Das Unheimliche an derartigen Aussagen ist eigentlich nur, dass manche aus der Hauptstadt-Journaille eine ähnliche Version zum Besten gaben. Bei Springer-Leuten ist das zu erwarten. Aber bei seriösen ARD- oder ZDF-Menschen? Klar kann es im politischen Betrieb theoretisch so etwas wie einen echten Wechsel geben: Wenn zum Beispiel ein Erdrutschsieg mit absoluter Mehrheit über 50% klar macht, wer künftig das Sagen haben soll. Also eine demokratische Selbstverständlichkeit.

Aber in Berlin? Man muss es sich im Munde der Erkenntnis ein Ergebnis zergehen lassen: Die Hauptstadt-CDU erhielt exakt 28,2 % (!) aller Voten der Wähler*innen. Im Ernst und sehr nüchtern betrachtet: Kann man hier einen „Erdrutschsieg“ für den CDU-Spitzenkandidaten Kai Wegner erkennen, wie dies einige Neunmalkluge meinen?

Womöglich ist ein Blick auf die Realitäten für manche schmerzlich. Darum wechseln wir vom Blick durch schwarze Brillen, durch die man eh nicht viel sieht, doch bitte einmal auf Klarsicht: Keine drei (!) von zehn (!) wählenden Personen haben ihr Kreuz bei der CDU gemacht – von insgesamt viel mehr Wahlberechtigten und Stadtmenschen ohne Wahlrecht mal abgesehen.

Und siehe: Die Komplettierung vermittelt ein völlig anderes Bild! Die Parteien der amtierenden Senatskoalition, über deren Bilanz man natürlich und zu Recht trefflich streiten darf, bekamen im neuen Abgeordnetenhaus zusammen 90 (!) Mandate. Das sind komfortable 57% (!) der Gesamtsitze. Die zweifellos erstarkte Union bekam 52 von 159 (!), die AFD 17.


Politische Primarstufe

Ein Schulkind, das aus solchen mathematischen Fakten eine Mehrheit für die CDU herleiten würde, hätte bereits im zweiten Grundschuljahr Probleme, das Klassenziel zu erreichen. Merzens, Spahns oder Wegners Wahrnehmung, die Wählerschaft hätte völlig eindeutig für einen Wechsel optiert, katapultiert die schwarzen Scharfmacher also in Wahrheit in die politische Primarstufe.

Unbeirrt streiten bis zur Stunde aber noch weitere Medienflüsterer für einen CDU-geführten Senat. Immerhin habe die Union eine deutliche relative Mehrheit gewonnen. Zugegeben sind daraus legitime Rechte abzuleiten: Viele davon sind guten demokratischen Gepflogenheiten geschuldet. Unbestritten darf jetzt eben Kai Wegner als erster die anderen Parteien zu Gesprächen einladen. Unbestritten wird die CDU als stärkste Fraktion das Präsi-Amt des Abgeordnetenhauses besetzen. Das alles zählt zu Grundregeln der Demokratie.


Inhalte müssen zählen, keine Posten

Ebenso zu den demokratischen Grundregeln zählt es aber auch, nicht mathematische Größen, sondern politische Inhalte zum Kriterium einer Koalitionswahl zu machen. Und da sollen entweder Grüne oder SPD ernsthaft entdecken, mit der Union mehr Gemeinsamkeiten zu haben als mit anderen linken Koalitionspartnern? Sind Lesetugenden abhandengekommen? Sollen allein Posten oder Entscheidungswege wichtiger sein als Inhalte?

Mal im Klartext anhand nur weniger Beispiele: Die Union steht für das Auto und für massiven Straßenausbau, rotrotgrün für eine ökologische Verkehrspolitik mit starkem Fokus auf ÖPNV und Rad. Die Union will vor allem Gymnasien und schulische Standards stärken, die Gegenseite steht für integrative Schulpolitik. CDU-ler schüren allzu gern migrationsfeindliche Stimmungen im Sinne des „Pascha-Banners“ Friedrich Merz, die andere Seite steht für Integration, Inklusion und ein Ja zum multikulturellen, toleranten wie weltoffenen Berlin. Unions-Sprecher zeigen Sympathie mit Gebühren für den KiTa-Besuch. Parteien der Senatskoalition stehen für kostenfreie Bildung. Die CDU prügelt gern auf den öffentlichen Dienst und dessen unbestritten mangelnde Leistungsfähigkeit nach Sparrunden ein – ist aber zugleich (wie die FDP) der dogmatischen Ideologie des „Schlanken Staates“ verpflichtet. Die CDU steht für das heiliggesprochene Gebot des Neuverschuldungsverbots. Rotrotgrüne zweifeln dessen ökonomische Sinnhaftigkeit in Krisenzeiten an. Wo also um Himmels Willen sollen Rote oder Grüne hier Gemeinsamkeiten mit der Wegner-Partei finden?


Intellektuelle Geisterfahrten in Osnabrück

Zu Michael Clasen, linkshassender Kommentator der Neuen OZ, wird Rolf Wortmann in seinem Beitrag zur Berlin-Wahl, der heute Abend um 18 Uhr in der OR erscheint, bereits das Treffende sagen. Ein weiteres passendes Beispiel Osnabrücker Querdenkens liefert mal wieder Heiko Pohlmann, Chef und Oberideologe der von ihm dirigierten Hase(n)post. Originalton vom 13. Februar:
„Ich muss sagen, ich bin eigentlich viel zu sprachlos über die Dreistigkeit mit der die beiden Spitzenkandidatinnen von Grünen (nur ein klein bisschen verkackt) und SPD (schon deutlich mehr verkackt) gegenüber der Union (Auferstanden aus Ruinen) nach diesem Erdrutschsieg weiterhin einen völlig unbegründeten Führungsanspruch für sich reklamieren.“

Um sich selbst noch einmal mental zu toppen, zitiert der Hase(n)post-Kommentator anschließend seinen „Lieblingsblogger“ Felix von Leitner, dessen Produkt der Kulturwissenschaftler Michael Seeman in der TAZ in 2015 einmal „das Leitmedium von ahnungslosen, reaktionär-ignoranten Arschlochnerds“ genannt hat. Pohlmann sieht das als Geistesverwandter natürlich völlig anders. Ihm gefällt offenkundig dieser von ihm genussvoll zitierte Leitner-Satz, bezogen auf die SPD, vorzüglich:
„Man könnte fast denken, dass die jemand wählt. Aber so blöde kann doch keiner sein. Oder? ODER?“

Folgt man dieser Logik, müssen Hitler und Bismarck, unter deren jeweiliger  Regentschaft die Sozialdemokratie zweimal in ihrer Geschichte verboten worden ist, ja nicht so falsch gelegen haben. ODER?

Offenkundig bilden derartige Tourenberichte intellektueller Geisterfahrten nur die Spitze eines Eisberges, den wir auf der modernen Titanic allerdings bedächtig und realistisch erkennen sollten. Man kann Demokratie und die darin Handelnden solange verächtlich machen, bis alles erledigt ist. Aber was ist das alles gegen viele Klicks und lukrative Anzeigeneinnahmen für geistabtötende Werbung?

Was nicht wundert: Der „Oberhase“ offenbart ja ohnehin immer wieder recht gern, wie sehr er alles abgrundtief hasst, was er links von CDU, FDP und AFD verortet. Aktive der Linkspartei bilden für ihn, offenbar nicht nur in Berlin, einen „postrealsozialistischen hartlinken Wurmfortsatz“ von SPD und Grünen. Gut vierzig Jahre sind es her, da bildeten alle Linken für CSU-Chef und Pinochet-Fan Franz-Josef Strauß „Ratten“ und „Schmeißfliegen“. Für Pohlmann also „Wurmfortsätze“. Was macht man mit denen eigentlich in wirklichen Leben, wenn man derartigen Geistesergüssen folgt? Überlassen wir die Antwort der OR-Leserschaft.


Ein klassisches Déjà-vu

Kehren wir auf die Bundesebene zurück. Ein selten erkanntes Phänomen ist übrigens ein klassisches Déjà-vu: Anlässlich der Bremer Bürgerschaftswahl 2019 gab es einen ähnlichen Sturm im Schnapsglas wie jetzt in Berlin. Erstmals war die dortige CDU mit knapp 27 % stärkste Partei geworden. Die SPD war mit knapp 25 % abgestürzt. Grüne (17,4 %) und Linke (11,3 %) bildeten daraufhin mit der Sozialdemokratie ein auf inhaltliche Gemeinsamkeiten fußendes Bündnis. Ein Teil der Medien – Beispiel war ein kopfschüttelnder Wutausbruch des Talkmaster-Kings Markus Lanz – schäumte und zeigte entsetztes Unverständnis. Und heute? Bürgermeister Andreas Bovenschulte führt eine solide arbeitende Stadtregierung an, die sich nicht zuletzt in der Pandemie-Zeit viel Achtung verschafft hat. Kennt noch jemand den Namen des damaligen CDU-Spitzenkandidaten? Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, nach ihm zu googeln.

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