Donnerstag, 28. März 2024

Frischer Wein in falschen Schläuchen?

Gedanken nach einer fröhlichen Wahlnacht

Nach den Bundestagswahlen herrscht in großen Teilen des progressiven Lagers eine gute Laune. Ich gebe zu: Auch ich habe mich gefreut, dass nicht einmal ein Viertel der Wählenden ihr Kreuz bei den Unionsparteien gemacht hat. Angesichts der Maut-, Lobby- und Maskenskandale, vor allem in Anbetracht der Nullbilanz der CDU-CSU-Ministerien, scheint es so etwas wie politische Gerechtigkeit zu geben. Oder existieren inzwischen nennenswerte Stichworte, die belegen, welche segensreichen Fortschritte in all den Merkel-Jahren allein auf Druck der Unionsparteien durchgesetzt wurden? Mir fallen nur solche ein, die im „Maschinenraum“ schwitzend schaufelnder SPD-Ministerialen als Treibstoff in den Ofen gingen, damit der Kahn zumindest wackelnd weiter schwamm.

Überdies erfüllt es Menschen wie mich mit Freude, dass der demografische Wandel mittlerweile in furioser Weise den deutschen Konservativismus erfasst hat. Vor allem die unter 70-Jährigen, sozialisiert nach 1968 und in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts, ticken völlig anders als Mittsiebziger oder gar Achtzigjährige. Und in urbanen Zentren ist die Union längst auf dem Weg auf Platz drei – zuweilen weit hinter Grünen und SPD.

Trotzdem: Ich komme trotz optimistischer Grundstruktur nicht umhin, kritisch zu fragen, ob wir frischen Wein in Schläuche füllen können, die bislang nur Ungenießbares transportieren. Nicht aus angeborener Miesepetrigkeit, eher aus nüchterner Einsicht.

Denn all diejenigen, denen glaubhaft an einer ökologischen, ökonomischen und vor allem sozialen Umkehr, an einem schnellen Raus aus den Nebelschwaden der Merkel-Republik gelegen ist, haben vor allem an zwei Punkten zu knapsen.

Der erste und zentrale ist das Verfehlen einer absoluten Mehrheit durch die politische Linke. Konkret: Wie soll eine fundamentale Abkehr von der Schuldengrenze gelingen, die selbst in kapitalistischen Staaten wie den USA oder Japan völlig unbekannt ist und die jeder progressiven Politik am Ende die Luft zum Atmen nimmt? Und ganz konkret: Wie sollen CO2-Grenzen, eine ökologische Verkehrswende, Mindestlohn, Bürgerversicherung und ein Ende der Zweiklassenmedizin, wie sollen sichere gesetzliche Renten, eine Abschöpfung des schwindelerregenden Reichtums zugunsten des Allgemeinwohls bis hin zur Beendigung der Kinderarmut eigentlich gelingen, wenn es dazu keine Bundestagsmehrheit gibt? Insofern ist das Wahldesaster der Linkspartei, völlig egal, ob selbstverschuldet oder nicht, ein Desaster der gesamten politischen Linken.

Der zweite Schub Wasser in den Wein des Aufbruchs ist die Stärke der FDP. Diese Lobbyfront aller Bestverdienenden kann derzeit vor Kraft gerade noch einmal so viel laufen, um ihr lautes Nein gegen alle Belastungen ihrer Klientel als Zeichen für Modernität zu glorifizieren. Und kaum jemand traut sich zu widersprechen. Denn es ist ja „Vertraulichkeit“ vereinbart. 11,5 % aller Stimmen dürften jetzt ausreichen, um den Stöpsel jener Badewanne ausgehändigt zu bekommen, in dessen lauwarmem Wasser derzeit Deutschlands gesamten Hoffnungen auf ein besseres Morgen schwimmen.

Klar: Auch dünne Strohalme können helfen, um nach dem Abtauchen ins tiefe Wasser nicht ganz abzusaufen. Eine Ampelkoalition, in der jeder Partner seine Farbtüpferchen setzen kann, verheißt natürlich auch Gutes: mehr Datenschutz, endlich die überfällige Cannabis-Freigabe, ein humaneres System der Migration, womöglich auch einen besseren Anschluss an die digitale Welt, vielleicht sogar kapitalkonforme wie messbare Schritte in Richtung CO2-Senkung. Alles sind Fortschritte, die mit einer verstaubten Union zur Utopie verkommen wären.

Aber hilft uns das auf Dauer?

Die Schuldenbremse wird selbst ökologisch-sozialen Konjunkturprogrammen, die in den USA ein Joe Biden umsetzt, einen bleiernen Riegel vorschieben. Die Schere zwischen Arm und Reich dürfte weiter auseinanderdriften. Die Zukunftschancen der Kinder werden weiter allein vom Elternhaus abhängen. Die Macht der Bosse in Banken und Konzernen wird ungebrochen bleiben. Prekäre Jobs dürfte es weiter geben. Die Altersarmut wird absehbar mit Händen zu greifen sein. Hartz 4 dürfte, auch unter einem anderen Mode-Etikett, weiter ein Anschlag auf die Menschenwürde sein. Und falls wieder die nächste zyklische Konjunkturkrise ausbricht, dürfte klar sein, dass die Herrschaften der FDP alles tun werden, um Gewinner zu schonen und die Lasten bei den Schwächsten abzuwälzen.

Falls es also überhaupt zu einer Ampel statt zur Mumien- und Monstershow einer Jamaika-Koalition kommt: Könnte womöglich der Tag kommen, an dem wir Rotgrün-Gelb verfluchen? Ich hoffe nicht. Aber, um es im Fragestil eines Trend-Reporters zu erkunden: „Schließen Sie aus, dass es so kommt?“ Tja, was kann der Mensch schon ausschließen?

 

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