Sonntag, 3. November 2024

Heiko Schulze: Die Uhr des Felix Löwenstein

Die Uhr des Felix Löwenstein

Die Betrachtung einer Uhr ermöglicht uns, das wissen wir alle, den hastigen Blick auf einen exakt gemessenen Zeitpunkt. Betrachten wir sie etwas länger und bringen gar die Geduld auf, einmal tiefgründig über den altbekannten Alltagsgegenstand nachzudenken, kann uns jener Zeitmesser zugleich an den unschätzbaren Wert der Zeit und somit an die Vergänglichkeit allen Lebens erinnern. Was sonst, wenn nicht die persönliche Uhr, kann uns stetig ermahnen, dass jede Sekunde unseres Daseins im Grunde unendlich kostbar ist.

Inmitten der Glasvitrinen des Osnabrücker VfL-Museums befindet sich ein besonderer Zeitmesser. Es ist eine mit Anhängekette versehene Taschenuhr, deren Räderwerk längst nicht mehr so funktioniert wie zu Lebzeiten ihres Besitzers. Umso lebendiger bleibt für jene, die sich in den letzten Jahren mit der Geschichte der besagten Taschenuhr befasst haben, die Erinnerung an denjenigen, der sie einst, gut befestigt an seiner Weste trug. Sein Name war Felix Löwenstein. Wer war dieser Mensch, der jene Taschenuhr getragen und Handlungen seines Lebens mit diesem Zeitmesser ausgerichtet hat?

Felix Löwenstein (1884-1945) war ein Osnabrücker Viehhändler und Engros-Schlachtermeister. Er wurde am 21. August 1884 in Eisleben geboren. Gewohnt hat er zuletzt am Adolf-Hitler-Platz, dem vormaligen und auch heutigen Neumarkt, Hausnummer 4. Dort befindet sich inzwischen ein sogenannter „Stolperstein“, der an den ehemaligen Mitbürger erinnert. Der Erinnerungsort Löwensteins ist somit einer von rund 300 „Stolpersteinen“ zu Ehren von Nazi-Opfern, die sich in Osnabrück befinden. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, zitierte eins der deutsche Stolperstein-Initiator Gunter Demnig den Talmud als religiöse Quelle des jüdischen Glaubens. Demnig begründete so bereits 1992 seine Idee, derartige Steine dort zu verlegen, wo die Menschen einst gelebt haben. Löwenstein zählt somit in Osnabrück zu jenen Menschen, die wir nicht und niemals vergessen wollen.

In seinem Beruf galt er über viele Jahre hinweg als recht erfolgreich. Sein Freundes- und Bekanntenkreis war beachtlich. Auch die Zahl der Menschen, denen er Geschenke, großzügig Zuwendungen oder günstige Kredite gewährte, war groß. Löwenstein war Mitglied der Synagogengemeinde, seine Frau Anni wiederum evangelisch-lutherisch. Der gemeinsame Sohn Max wurde evangelisch getauft. Anni zählte bis zu deren Verbot 1933 zur pazifistischen Deutschen Friedensgesellschaft, was durchaus Rückschlüsse auf eine sehr friedliebende und demokratische Gesinnung zulässt, welche offenkundig die gesamte Familie Löwenstein prägte.

Der Weg zum VfL

Felix Löwenstein war vor allem sportbegeistert. Mitte der 20er Jahre stieß er zum Verein Spiel und Sport. Der wiederum war 1922 aus dem nationalistisch und rassistisch ausgerichteten Osnabrücker Turnverein (OTV) hinausgedrängt worden und bestand, dies dokumentieren spätere Aussagen des sozialdemokratischen Sportpädagogen Ernst Sievers, zu 90% aus Demokraten und solchen, die sich nicht für vom OTV eingeforderte nationalistische Aufmärsche missbrauchen lassen wollten. 1924 vereinigte sich Spiel und Sport mit dem Ballspielverein von 1899. Ein Jahr später zählten Ernst Sievers wie Felix Löwenstein zu den Pionieren jenes vereinigten Clubs, der sich fortan VfL Osnabrück nannte.

Löwenstein, der es nach großem beruflichem Erfolg zu einigem Vermögen gebracht hatte, diente dem VfL von Beginn an sowohl als großzügiger Spender wie auch in aktiven Funktionen. Folgt man Jürgen Bitters im Jahre 1991 erschienenen Fußballgeschichte des VfL Osnabrück, war der Schlachtermeister, zumindest vor der Machtergreifung der Nazis, überaus tatkräftig im Club engagiert. Er diente ihm vor allem als Spielausschussobmann. Diese Position war für den VfL tatsächlich nicht weniger wichtig als Löwensteins finanziellen und sachlichen Zuwendungen. In seiner sportlichen Funktion half er nämlich entscheidend dabei mit, den alltäglichen Spiel- und Trainingsbetrieb zu organisieren. Er diente als vertrauensvoller Ansprechpartner aller Spieler und arbeitete aktiv mit dem jeweiligen Trainer zusammen. Es gab somit viel zu tun, zumal das sportliche Niveau der Punktspiele bereits ab Mitte der 20er Jahre beachtlich war und zunehmend Zuschauer anzog. Immerhin maß sich der neu auftretende VfL in der westfälischen Gauliga bzw. Bezirksliga schon damals regelmäßig mit Mannschaften wie Arminia Bielefeld oder Preußen Münster.

Dr. Hermann Gösmann, 1933 „Vereinsführer“ des VfL, seit 1937 NSDAP-Mitglied, nach dem 2. Weltkrieg erneut Vorsitzender und später DFB-Präsident, bestätigte nach dem Kriege in Form eines Briefes an Max Löwenstein, dass dessen Vater aktiver VfL-Unterstützer gewesen sei. Er habe den Verein allerdings – nach Gösmanns Erinnerung – im Jahre 1935 allein wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit verlassen müssen.

Repressalien nehmen zu

Die Repressalien gegen Juden und Andersdenkende hatten natürlich bereits seit der NS-„Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 stetig zugenommen. Ebenfalls um 1935 herum hatte Löwenstein aus „Arisierungsgründen“ seinen Betrieb komplett und ohne nennenswerte Entschädigung verloren. Er blieb danach lange arbeitslos und musste sich später als Bauhilfsarbeiter bei verschiedenen Firmen durchschlagen. Hinzu kam der erzwungene Umzug im gleichen Hause. Die Familie musste in der großräumigen Wohnung packen, was mitzunehmen war und in eine Dachgeschoßwohnung umzuziehen. Doch es blieb nicht bei dem Verlust von Betrieb und heimischer Wohnung. Am 10. November 1938, exakt einen Tag nach der Vernichtung der deutschen Synagogen und der brutalen Verwüstung jüdischer Geschäftshäuser durch SA-Kolonnen, traf Löwenstein seine erste Verhaftung. Nach Verhören und Quälereien im Gestapo-Keller, der im Westflügel des Schlosses untergebracht war, deportierten ihn die Nazi-Schergen gemeinsam mit rund 90 weiteren Osnabrückern jüdischer Religionszugehörigkeit erstmals in das KZ Buchenwald bei Weimar.

Zumal Löwenstein mit einer „arischen“ Protestantin in einer „Mischehe“ verheiratet war, wurde er – auch als früherer Teilnehmer am Ersten Weltkrieg und Träger des wegen Tapferkeit verliehenen Eisernen Kreuzes – zunächst ein wenig besser als andere behandelt. Mitte Dezember, nach knapp fünf Wochen Haft, entließen ihn die SS-Bewacher bereits wieder aus Buchenwald. Die „Mischehe“ konnte ihn auch in den Folgejahren vor einer weiteren Inhaftierung oder Deportation schützen.

Für die gesamte NS-Zeit belegen spätere Aussagen von Sohn Max Löwenstein, dass VfL-„Vereinsführer“ Hermann Gösmann dem früheren Vereinskameraden in den Folgejahren durchaus dabei half, erhebliche finanzielle Außenstände zurückzubekommen. Das wiederum blieb für eine jüdische Familie in NS-Deutschland beinahe überlebensnotwendig. Selbstverständlich war Gösmanns Handeln in einer Zeit, in der alle jüdischen Menschen der staatlichen Willkür ausgeliefert waren, tatsächlich nicht. Jeder Schuldner hätte seinem „nicht arischen“ Kreditgeber mit Spott und Schmähungen auf den Lippen jede einzelne Zahlung verweigern können. Der Rechtsstaat war längst abgeschafft.

Ein Radio führt ins KZ

Aufgrund eines Verstoßes gegen die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ („Hören von ‚Feindsendern“) wurde Felix Löwenstein gegen Kriegsende doch noch in Haft genommen. Man hatte im Keller des von der Familie bewohnten Hauses ein Radiogerät gefunden, dessen Besitz allen Juden streng verboten war. Der genaue Zeitpunkt seiner Inhaftierung im Polizeigefängnis Turnerstraße ist nicht bekannt. Dort saß er – gemeinsam mit seiner Frau und auch anderen Gegnern des NS-Regimes – unter menschenunwürdigen Bedingungen bis Ende 1944 ein.

Danach wurde Löwenstein gemeinsam mit weiteren inhaftierten Männern ins KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin deportiert. Das berüchtigte KZ in Neuengamme bei Hamburg wurde zur nächsten Station. Der KZ-Überlebende Hans Hastreiter berichtete später in einem Brief an die Witwe eines der zahllosen Opfer von den Qualen, die dort Häftlinge wie auch Felix Löwenstein zu erleiden hatten:

„2-3 Mann und noch mehr in einem Bett waren keine Seltenheit – dazu dauernd nass und kalt. Außerdem die seelischen und moralischen Bedrückungen jeder Art.“

Als alliierte Truppen dem Lager zu Beginn des Aprils 1945 zunehmend näherkamen, verordneten die SS-Wächter den Gefangenen eine Umlegung in das KZ Bergen-Belsen. Das Heranrücken der alliierten Truppen zwang die NS-Wächter zu ständigen Umleitungen des mit KZ-Häftlingen gefüllten Güterzuges. Hastreiter berichtete im besagten Brief:

„Mit 80-100 Mann in einem Waggon, ohne alles. (…) Mit einem Stück Brot und, wer Glück hatte, einem Schluck Wasser. (…) Täglich starben 50-60 oder noch mehr an Entkräftung.“

Nach über zehn Tagen Irrfahrt waren die Drangsalierten schließlich in Bremervörde angekommen. Tausende ausgehungerte, verlauste, in gestreifte Lumpen gehüllte und oft barfüßige Menschen bewegten sich im „Todesmarsch“ unter den Augen der Zivilbevölkerung durch den Ort. Das Ziel Sandbostel diente zugleich als eines für rund 15.000 Kriegsgefangene. Die rund 7.000 KZ-Häftlinge bekamen weitere Baracken zugewiesen und unterlagen einer weit schlechteren Behandlung als die ehemaligen Kriegsgegner. Trost und Zuversicht spendeten den Gefangenen allein die täglich kursierenden Nachrichten, wonach die alliierten Soldaten zunehmend näher heranrückten. Nahender Geschützdonner und Flugzeuge am Himmel schien alles zu bestätigen.

Baracken des Lagers. Foto: Gedenkstätte Lager Sandbostel

Am späten Abend des 19. April brach unter den Häftlingen ein Aufstand aus. Von Überlebenden wurde er später als „Hungerrevolte“ bezeichnet. Auslöser war vermutlich der SS-Befehl, wonach alle KZ-Häftlinge wieder zurück nach Hamburg-Neuengamme gebracht werden sollten. Die Häftlinge, mitten unter ihnen auch Felix Löwenstein, widersetzen sich todesmutig der Anordnung. Verzweifelt versuchten sie, ihre erneute Deportation zu verhindern. Nur wenige hundert konnten von der SS und den Wachmannschaften zusammengetrieben werden. Noch während des Appells aller noch marschfähigen KZ-Häftlinge soll es dann zu einem Fliegeralarm gekommen sein. Im Chaos stürmte ein Teil, unter diesem auch Felix Löwenstein, am Eingang des Lagerteils auf der Suche nach Essbarem die angrenzenden Lagerräume. Der Aufstand wurde von der SS und den Wachmannschaften niedergeschlagen und hunderte Häftlinge dabei ermordet. Exakt zu diesem Zeitpunkt muss sich Felix Löwenstein, der bis dahin alle Torturen leidlich überstanden hatte, eine Verletzung zugezogen haben. Die genauen Umstände, bei denen dies geschah, sind bis heute unbekannt. Fest steht allein: Auch weil nur ein Arzt für das gesamte Lager anwesend war, konnte der verletzte Löwenstein, wie so viele andere, nicht rechtzeitig behandelt werden.

Foto: Gedenkstätte Lager Sandbostel

Am 29. April 1945 erreichten die ersten britischen Soldaten das Lager Sandbostel. Sie befreiten etwa 14.000 Kriegsgefangene und 7.000 KZ-Häftlinge. Für Felix Löwenstein kam die Befreiung zu spät.
Zu Ehren der Eingepferchten zog ein Musikzug über das Lagergelände. Die Nazi-Bewacher waren meist längst getürmt.

Nur einen Tag später, am 30. April 1945, starb Felix Löwenstein an den Folgen seiner Blutvergiftung. Er wurde in einem Massengrab in Sandbostel beigesetzt. Als nur schwacher Trost verbleibt, dass der Geschundene die Befreiung des Lagers durch die British Army womöglich noch vernehmen durfte.

Löwenstein war einer von kaum zählbaren Opfern. Allein zwischen dem 12. Und 29. April 1945 waren bereits 3.000 Häftlinge an Hunger und Typhus gestorben. 3.000 weitere sollten die ersten beiden Wochen nach ihrer Befreiung nicht überleben.

Kaum anzunehmen ist, dass Felix Löwenstein im Lager jemals Näheres über das Schicksal seiner Familie ach deren Verhaftung erfahren durfte. Seine Frau Anni Löwenstein war, das war ihm noch bekannt, im Juni 1944 ebenfalls im Polizeigefängnis Turnerstraße inhaftiert gewesen. Sohn Max war bereits im April 1944 im Polizeigefängnis Münster eingesperrt worden. Anni wurde am 31. März 1945, vier Tage vor dem Einmarsch britischer Truppen in Osnabrück, aus der Haft entlassen. Mit gleichem Datum entließ man Max Löwenstein aus dem Zwangsarbeitslager. Er, der in den 50er Jahren in großer Verzweiflung mit Selbstmord aus dem Leben scheiden sollte, hatte für die Organisation Todt arbeiten müssen, einer im 2. Weltkrieg nach militärischem Vorbild organisierten Bautruppe. Mutter und Sohn mussten sich nach 1945 noch etliche Jahre lang verzweifelt um eine Entschädigung für ihre Leiden bemühen.

Aus der spärlichen Hinterlassenschaft des KZ-Häftlings Felix Löwenstein, versehen mit der Nummer 87067, verblieb in Archivbeständen allein seine Taschenuhr. Still erzählt sie seither die Lebensgeschichte ihres Besitzers. Später Geborene ermahnt sie täglich neu, den Vorsatz „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“ in die Tat umzusetzen. Dies gilt überall – nicht zuletzt beim Fußball, um im Sinne von Felix Löwenstein für Demokratie und Menschenwürde, gegen Ausgrenzung, Antisemitismus und Diskriminierung einzustehen.

Quellen:
Junk, Peter; Sellmeyer, Martina: Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Bramsche 2000

Bitter, Jürgen: Die Fußballgeschichte des VfL Osnabrück, Osnabrück 1991
Kreutzmann, David: Felix Löwenstein. Vom Vereinsförderer und Funktionär zum Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft; in: VfL-Museum sowie Bündnis Tradition lebt von Erinnerung, Lila-weiß in brauner Zeit. Forschungen und Erkenntnisse zum VfL Osnabrück im Nationalsozialismus, Osnabrück 2021
Homepage der Gedenkstätte Sandbostel: https://www.stiftung-lager-sandbostel.de

 

 

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