Köpfe aus der Geschichte der Osnabrücker Rundschau – Teil 2: Karl Kühling

Karl Kühling: Zeitungsmann und Buchautor

Als am 1. März 1946 die allererste OR-Nummer erscheint, besitzt die Redaktion noch ein sehr breites politisches Spektrum. Neben dem damaligen Kommunisten „Ilex“ Burgdorf und dem Sozialdemokraten Hans Wunderlich vertritt der Redakteur Karl Kühling (1899-1985) offen die national-konservative Richtung. Im Rückblick zählt er zu jenen OR-Pionieren, die bis heute besonders viele Spuren in Osnabrücker Bücherregalen hinterlassen haben. Wer war jener Rekord-Zeilenfüller, dessen Osnabrücker Geschichtsaufbereitung zuweilen bis heute für Diskussionsstoff sorgt?

Frühe Stationen

Karl Kühling, gut situierter Kaufmannssohn, Absolvent des Ratsgymnasium und danach im Ersten Weltkrieg Soldat, wechselt nach wenigen Jahren kaufmännischer Tätigkeit im Jahr 1925 zum Osnabrücker Tageblatt. Zunächst verantwortet er dort die Sportberichterstattung. Später übernimmt er den Feuilletonteil. Nach 1933 hat es der recht national gesonnene Karl Kühling stets verstanden, sich dem Kurs der neuen nationalsozialistischen Machthaber anzupassen. Unbehelligt kann der Redakteur weiterschreiben. Inmitten der Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ wechselt er zu den Neuen Volksblättern, die als eigentliches NS-Organ gelten.
Ob, wie später behauptet wird, doch ein Zerwürfnis mit den Nazis dahintersteht? Klar ist: Schon am 28. August 1939, wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wird er im Alter von 40 Lebensjahren eingezogen und zieht danach als Soldat an die Westfront.

Zeitungspionier nach 1945

Nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsgeschehen gelingt es Kühling erfolgreich, gegenüber den britischen Militärbehörden seine Distanz zum NS-Regime darzulegen. Deutlich wird früh sein wiedererwachtes Engagement zugunsten neuer journalistischer Arbeit. Ausgewählt aus dem Kreis verbliebener Journalisten lädt ihn deshalb der neu von den Briten ernannte Regierungspräsident am 11. Februar 1946 ganz offiziell „als Vertreter der Presse“ zu einem „Bezirkslandtag“ ein, aus dem er dann auch für einige der frisch nach Kriegsende entstandenen Blätter berichtet.

Noch vor den ersten Kommunalwahlen darf Kühling, ebenfalls mit Zustimmung der britischen Besatzer, im ersten Bürgerausschuss mitwirken. In dem dürfen, so die britische Vorgabe, ausschließlich unbescholtene Nicht-Nazis sitzen. Politisch wendet sich der unverändert nationalkonservativ ausgerichtete Kühling früh der Niedersächsischen Landespartei zu, die sich 1947 in Deutsche Partei umbenennt. Kennzeichnend für Kühlings neue politische Heimat sind das Bekenntnis zum Föderalismus, ein strikter Antisozialismus und vor allem das klare Ablehnen der Entnazifizierung. Die Partei kooperiert andernorts sogar offen mit Rechtsgruppen, in denen sich frühere Deutschnationale, aber auch Nationalsozialisten zusammengeschlossen haben. Kühlings Partei unterhält vielerorts sogar beachtlich enge Kontakte zur extremen, wegen offener NS-Tendenzen 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP). Kühlings Deutsche Partei ist vor allem in Norddeutschland erfolgreich und wird sogar bis 1948, später auch von 1955 bis 1959 an der niedersächsischen Landesregierung beteiligt. Dabei stellt die DP mit ihrem Vorsitzenden Heinrich Hellwege sogar den Niedersächsischen Ministerpräsidenten. Parteimitglied Karl Kühling wiederum gehört dem ersten Osnabrücker Rat ab Oktober 1946 als Repräsentant seiner Partei an.

Zoff in der OR

Insbesondere von konservativer Seite mehrt sich nach dem Start der OR am 1. März 1946 die Kritik am scheinbaren Linkskurs der Rundschau. Angeblich herrsche die Sicht der „Arbeiterschaft“ im Blatt vor. Die Artikel des Kommunisten Josef Burgdorf und des Sozialdemokraten Hans Wunderlich, die sich vehement für eine restlose Aufarbeitung der NS-Verbrechen und für ein neues, nicht mehr kapitalistisches Deutschland ohne Nationalismus und Militarismus einsetzen, gefallen insbesondere Kühling ganz und gar nicht. „Da ich“, schreibt er später in seinem Lebenslauf, „den Stil dieser Zeitung nicht für gut hielt und dem auch Ausdruck gab, wurde ich nach wenigen Monaten fristlos entlassen.“ Ob Kühling sein Aus in der OR tatsächlich als Entlassung erlebt hat oder schlichtweg resigniert, weil er sich mit seiner nationalkonservativen Sichtweise nicht durchsetzen kann, ist heute nicht mehr festzustellen. Zumindest gewinnen die Gegner der Osnabrücker Rundschau einen neuen Bündnispartner und werden am Ende mit ihrem Ziel, der OR ein Ende zu bereiten, erfolgreich sein.

Ortswechsel und Heimkehr

1947 zieht es Kühling aus seiner Heimatstadt fort. Er wird Redakteur der Volkszeitung in Celle, die seiner Deutschen Partei sehr nahesteht und in der er sich politisch entfalten kann. 1949 kehrt Kühling allerdings wieder dauerhaft nach Osnabrück zurück und tritt der Redaktion des Osnabrücker Tageblatts bei. Wie viele seiner Parteifreunde aus der Deutschen Partei schließt er sich nach Jahren der CDU an. Journalistisch wechselt er 1960 das Blatt und avanciert schließlich zum Lokalchef der CDU-nahen Zeitung „Neue Tagespost“. Verstärkt nimmt er im Laufe der Jahre wieder ein parteipolitisches Engagement auf. Von 1964 bis 1972 gehört er, zuletzt sogar als CDU-Fraktionsvorsitzender, dem Stadtrat an und fungiert dort als ehrenamtlicher Senator mit viel Einfluss auf das kommunale Geschehen.

Der Vielschreiber

Neben seiner parteipolitischen und journalistischen Tätigkeit ist vor allem ein Betätigungsfeld zunehmend sein eigentliches Markenzeichen: Er schreibt und veröffentlicht pausenlos Bücher wie Broschüren zur Osnabrücker Stadtgeschichte. Weil es Kühling erfolgreich gelingt, für seine Autorentätigkeit auch überparteiliche Anerkennung zu gewinnen, kommt es zu öffentlichen Wertschätzungen: 1966 erhält er aus der Hand des SPD-Oberbürgermeisters Willi Kelch die Mösermedaille. Am 5. Juni 1984 wird ihm sogar wegen „Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart der Stadt Osnabrück, um sie im Geschichtsbewusstsein der Bürger wachzuhalten“ das Ehrenbürgerrecht der Stadt verliehen. Einen Karl-Kühling-Weg kennen überdies Tausende Osnabrücker, die den Rundkurs um den Rubbenbruchsee zu schätzen wissen.

In der Tat: Selten hat ein Journalist der Osnabrücker Stadtgeschichte so viele literarische Spuren hinterlassen wir Karl Kühling. Zum Spektrum seiner rund 20 (!) Bücher zählen mehrere Firmen- und VfL-Chroniken, ein Buch zum Theater, vor allem auch reich illustrierte Bände zur Stadtgeschichte bis 1945. Weitere Titel Kühlings: „Die Juden in Osnabrück“, „Osnabrück. Altstadt um die Jahrtausendwende. Erinnerungen und Erlebnisberichte“, „Niemand hat größere Liebe – Geschichten und Gedichte aus der Heimat“, „Olle Use. Vom Laischaftswesen und anderen Dingen“ sowie „Beim Osnabrücker Bier“. Mit Alfred Vogel verfasst er u.a. „… und gelacht haben sie auch. Geschichten von Originalen, Schalken und Schelmen aus dem alten Osnabrück“ sowie „Olle Use: Vom Laischaftswesen und anderen Dingen“.

Sind auch zahlreiche Veröffentlichungen Kühlings unbestritten verdienstvoll und erweitern das Osnabrücker Geschichtsbild für mehrere Generationen, durchzieht eine oft geäußerte Kritik insbesondere jene Veröffentlichungen, die sich mit der NS-Historie befassen. Klar ist: Kühling beschönigt keineswegs unbestreitbare Verbrechen der Nationalsozialisten. Andererseits geht er selten in die Tiefe, um das mörderische System mit Hintermännern, Machtstrukturen, Tätern und Opfern ausführlich darzustellen.

Kritiklos gegenüber einem Nazi-OB

In einem Falle produziert der Autor sogar eine nahezu groteske Beschönigung. Denn eine Figur, die entscheidend der Nazi-Diktatur in Osnabrück ihren Weg geebnet hat, huldigt Kühling dermaßen, dass es im Nachhinein peinlich wird. Es geht um Dr. Erich Gärtner, Oberbürgermeister, Nazi und SA-Mann, der die Gleichschaltung des Stadtrats vollzog und Verfolgungen von NS-Gegnern aktiv mitgetragen hat. Neueste Forschungen belegen beispielsweise unbestritten, welch unsägliche Rolle Gärtner bei der „Arisierung“ der vernichteten Osnabrücker Synagoge 1938 bis hin zur Ermordung der Bäuerin Anna Daumeyer gespielt hat.

Foto : Hochverehrt von Karl Kühling: Nazi-OB Dr. Erich Gärtner (1882-1973)

Die Ermordung der couragierten Frau offenbart mehr als alles andere das Wesen Gärtners. Es ist die Geschichte eines Mordes. Während britische Soldaten Osnabrück am 3. April 1945 weitgehend eingenommen haben, ist OB Gärtner seinerzeit mit einem Auto gemeinsam mit Gauinspekteur Fritz Wehmeyer und NS-Kreisleiter Willi Münzer auf den Hof des Bauernhofes an der Nordstraße gefahren. Offenkundig empört sie, dass dort zur Begrüßung der Briten eine weiße Fahne gehisst worden ist. In ihren Verdacht gerät die Bäuerin Anna Daumeyer, die sich schützend vor ihren Sohn stellt und das Hissen der Fahne zugibt. Mutmaßlich Gärtner persönlich, so vermutet es später der Sohn der Bäuerin, hat seine Mutter daraufhin mit einem Kopfschuss ermordet. Einen Tag später ist Osnabrück unter britischer Kontrolle und jeder Nazi-Spuk beendet. Kühling ist womöglich zugute zu halten, dass er von derartigen späteren Forschungsergebnissen zu Lebzeiten noch nichts Detailliertes wissen konnte. Damit ist er nicht allein. Bis in die 80er-Jahre hinein hängt sogar ein Ölgemälde des Nazi-OB im Rathaus. Andererseits hat Kühling Gärtner offenkundig gekannt und detailliert wahrgenommen. Wie auch immer: Der Autor widmet Gärtner zu Ehren im Jahre 1963, 18 Jahre nach Kriegsende, tatsächlich sein Buch „Osnabrück 1925-1933“. Wörtlich heißt es nach dem Umblättern der ersten Seiten:

„Herrn Dr. Erich Gärtner, Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück 1927-1945, bewährt als Stadtoberhaupt, bewährt als Mensch zur Zeit der schwersten Not, in aufrichtiger Verehrung gewidmet.“

Dass Kühling innerhalb der OR-Redaktion im Jahre 1946 mit derartigen Einstellungen nur wenig Gemeinsamkeit mit seinen Redakteurskollegen Burgdorf und Wunderlich gefunden hat und es somit zum offenen Bruch innerhalb der Zeitungsmacher gekommen ist, kann bei einer solchen Haltung auch im Nachhinein keineswegs verwundern.

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