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Roncalli-Premiere in Osnabrück: Verzahnung von Kunst und Manege

Ist Zirkus altbacken? Erwarten uns nervige Clowns, gepeitschte Tiere, eine stinkende Manege, grellbunte Hupfdohlen oder hässliche Kraftmeier, die irgendwelche Eisen verbiegen? Mit ähnlichen Vorurteilen habe ich am Donnerstagabend für die OR die Premierenvorstellung des Zirkus Roncalli an der Halle Gartlage besucht. Als Zirkus-Fan habe ich den Ort verlassen. Wie es dazu kam, soll hier berichtet werden. 

Foto: ORFoto: OR

Innovation unter dem Zeltdach

Bereits im Vorzelt überraschte Roncalli die Besucher*innen mit einer kleinen, hübsch gemachten Ausstellung zur eigenen Geschichte. Vorgeschmack auf jenes Museum, das zukünftig am Standort Köln entstehen soll. Wie ein Leitspruch zur Neuausrichtung klang dabei ein präsentiertes Zitat, das einmal aus dem Mund des legendären Clowns Grock (1880-1959) gekommen ist:

„Ein Mensch, der fertig ist, hat kein Ziel. Ein Mensch, der zufrieden ist, kann nichts mehr leisten. Daher Arbeit, Arbeit und Arbeit.“

Bereits hier setzte die zarte Ahnung ein, dass dieser Zirkus eine Runderneuerung ansteuert. Ein zentrales Detail bildet seit 2018 der Verzicht auf Tiere. Das Publikum erwartet also keine stinkigen Emissionen schwitzender Lebewesen mehr, die geistige oder körperliche Höchstleistungen vollbringen müssen. Der ständige Peitschenknall und wutschnaubende Befehle des Dompteurs sind bei Roncalli Geschichte. Denn die Zirkus-GmbH musste nicht erst vom organisierten Tierschutz überzeugt werden: Gut dressierte Affen, Löwen, Elefanten oder Pferde pflegen in beengten Ställen und unter der Knute dressierender Peiniger nur selten ein erträgliches Leben zu führen.

Trotzdem bleibt der Zirkus das, was er seit jeher ist. Ein Zirkus, so lautet sein historischer Auftrag, soll gleich mehrere menschliche Sinne ansprechen: gucken, hören, Manegeluft riechen. Der Anspruch ist uralt und zählt lange zur Menschheitsgeschichte. Schon im alten Rom war „Zirkus“ gleichbedeutend mit Massenereignissen. In deutschen Landen ist das Zirkus-Spektakel seit über tausend Jahren als buntes Mitbringsel umherziehender Gaukler begründet, also schriller Typen, die frei wie vogelfrei waren. Das Rund der Manege offenbart schon immer eine Welt, die lauter, farbenfroher, greller und spektakulärer als der triste Alltag jenseits des bombastischen Zirkuszeltes ist. Erinnerungen ranken sich um das Hören von lauten Ansagen, Fanfarenklängen, Orchesterlauten und dezenter Musik. Um das Sehen akrobatischer oder clownesker Darbietungen, auch um das Riechen der Manege knüpft mancher Ausflug in das eigene Gedächtnis. Vieles davon ist mit freudigen Kindheitserinnerungen verknüpft. Und jetzt? Schaumermal.

Ansagen des Roncalli-Chefs

Roncalli-Chef Bernhard Paul selbst lässt es sich nach dem Eröffnungstusch der Musizierenden nicht nehmen, das Osnabrücker Publikum persönlich zu begrüßen. Der 75-jährige, anno 1975 gemeinsam mit André Heller in Wien Mitgründer des Zirkus, freut sich sichtlich über das volle Zelt. Er zeigt Stolz nach einer schwierigen Zeit und vermittelt zum Schluss, mit viel Applaus, eine Vision für das örtliche Publikum: „Irgendwann kam Corona. Zwei Jahre konnten wir uns nicht zeigen. Niemanden haben wir trotzdem entlassen. Bald werden wir unser 50-jähriges Bestehen feiern – womöglich zur Weihnachtszeit in Osnabrück.“

Warum es nicht schlicht „Zirkus Roncalli“, sondern „Cirkus Theater Roncalli. All for art for all“ heißt, wird den Besuchenden bereits bei ersten Events auf der Manege klar. Ein ständig wechselndes Programm mit bombastischer Artistik, Jongleur-Kunst, Magie, Konzert, Gesang bis hin zu Clowns fesseln schnell das Publikum. Ideal montierte Scheinwerfer, künstlicher Bodennebel bis hin zu Ballons und Seifenblasen in allen Formaten durchziehen den kurzweiligen Abend. Dass die, auch vom Verfasser erwarteten 3-D-Projektionen virtueller Vierbeiner nicht zu sehen sind, vermisst im Grunde niemand. Alles ist echt, null Konserven.

„Die Kunst war bei uns immer schon da. Aber jetzt führen wir die Dinge zusammen“, hatte der Roncalli-Chef bereits im facettenreich und bunt gestalteten Programmheft versprochen.

alle Fotos: ORalle Fotos: OR
Ensemble final
Jongleur
Clown-Schaukelpferd

Programm auf der Manege

Nur skizzenhaft soll aufgereiht werden, was für das zukünftige Publikum in der Manege zu erwarten ist. Vor allem sind es häufig Zirkusmenschen, deren familiäre Gene zur Einbahnstraße in die Manege geführt haben. In dritter Generation fasziniert gleich zu Beginn der gebürtige Spanier Jonny Rico das Publikum, beginnt scheinbar belanglos und tölpelhaft, um sich im Laufe des Abends als Animateur, Clown, Musikant, Akrobat wie genialer Jongleur zu beweisen. Der in Russland und in der Ukraine aufgewachsene Clown Anatoli Akermann lebt bei seinen Einlagen von einer Einbeziehung des Publikums und stets neuen Überraschungseffekten. Die Clowns Gensi oder Paolo Carillon beherrschen völlig andere Clown-spezifischen Rollen perfekt. Die Britin Krissie Illing überzeugt durch sehr kurzweilige Zwischeneinsätze mit gespielter Tölpelhaftigkeit.

Das Duo Minasov demonstriert Magie in Hochform. In Bruchteilen von Sekunden wechseln Mann und Frau ihre Kleidung, ohne das Zuschauende nur ansatzweise begreifen können, wie das funktioniert. Weitere Magie-Auftritte anderer Akteure folgen mit nicht kleinerem Zuspruch. Knochenlos erscheinende Körperkünstler*innen wie Maria Sarach, das Duo Luna, Vanessa und Sven oder das pausenlos im Mehrfachsalto zu erlebende Männerquartett JUMP’N’ROLL machen Zuschauenden deutlich, wie begrenzt der eigene Bewegungsapparat angesichts derartiger Körperkünste ist. Stimmstarke Sängerinnen wie Sash oder Nox präsentieren ebenso wie das ausdruckstarke Roncalli-Ballett tänzerische Leistungen, die auf traditionellen Theaterbühnen keinen Vergleich scheuen müssen.

Wem bei Verwandtschaften mit tradierter Kunst nun noch das Metier der Malerei gefehlt hat, soll auch hier nicht enttäuscht werden. Als sehr ungewöhnlichen Act hat Roncalli-Chef Bernhard Paul Zirkus-Kolleg*innen dazu animiert, als lebendige Bildnisse berühmter Maler, gut geschminkt und dekoriert mit dem passenden Rahmen, im Lauftempo durch die Manege zu eilen und als optische Anknüpfungspunkte für Werke von Michelangelo, Rembrandt, Spitzweg, Rubens, Munch, Hopper, Margritte oder Lichtenstein zu brillieren. Der bewusst mit wenig Artistik verzierte Programmteil dürfte die Hauptbotschaft der Roncalli-Verantwortlichen sein: Zirkuswelt ist zugleich auch Kunst – und keineswegs am schieren Kommerz orientierte Massenunterhaltung mit Verfallsdatum.


Zirkus und Kunst: Geht das zusammen?

Dem Verfasser bleibt zum Schluss die mit der Premiere aufgeworfene, eigentlich banal klingende Fragestellung mit Tiefsinn: Warum gilt ein Zirkus wie der von Roncalli nicht längst als pure Kunst? Denn alles, was auf der Manege demonstriert wird, sind professionelle Sequenzen anerkannter Kunstrichtungen. Gesang, Konzert, Theater, Comedians, optische Faszination, Magie, Ballett und Bewegungsästhetik in Reinform. Weil diese Fragestellung, präsentiert durch Roncalli, nunmehr im Raume steht, ist die erste Prüfung des ästhetischen Lackmustests bereits bestanden. Denn Kunst, über die debattiert und auch gestritten werden kann, ist für die Spezies ein unverzichtbarer Baustein.

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