Bemerkungen zum Band „Fast vergessene Osnabrücker Stadtgeschichte“
Der jetzt druckfrisch im Buchhandel erhältliche Sammelband zur Stadthistorie von 1801 bis zur früheren Nachkriegszeit darf Kritik all jener erfahren, die das Erleben Namenloser verschmähen und eher die Geschichte privilegierter Gestalten in den Mittelpunkt ihrer Aufzeichnungen rücken. Geschähe dies, hätte das Buch seinen wichtigsten Erfolg erzielt. Denn der Buchautor bekennt sich bewusst zur Einseitigkeit seiner historischen Betrachtungen.
Was Geschichtsbücher oft mit Yellow Press verbindet
Wer sich mit Historie befasst, kann es sich ganz leicht machen. Man nehme berühmte Akteure der Geschichte, die sich mit imposanten Bauwerken, Denkmälern, teuren Ölgemälden und selbstverliebten Abhandlungen, manchmal auch mit persönlichem Hobby verewigt haben und fasse seine Erkenntnisse huldvoll zusammen. Der Weg zum Bestseller ist oft nicht weit. Betrachten wir diese Form der höflichen Berichterstattung kritisch, verhielte es sich in etwa so, als wenn unsere Zeit in der Zukunft allein aus Abhandlungen der Yellow Press entnommen würde. Lesende der Zukunft würden dann eher dieses Bild von unserer Zeit bekommen:
Wer flog gern per Privatjet zum Frühstück nach Ibiza? Was verursachte die Bauchschmerzen der Gräfin? Warum guckte der Prinz neulich seine Tante so schäbig an? Wer durfte mit Playboy Sowieso auf seiner Yacht auf dem Atlantik herumschippern? Warum ist die Ehe von Fürst Ernesto gescheitert? Warum kann das Kind von Helene Fischer so schlecht einschlafen?
Auch wenn uns derartige Gleichsetzungen absurd vorkommen mögen: Sie prägten die Geschichtsschreibung über Jahrhunderte, im Grunde bis in die heutige Zeit hinein. Wie viele Geschichtsbücher sind allein mit höfischem Gebaren gefüllt? Wie wurde der Kunstgeschmack Herrschender in Schlössern gepflegt? Warum werden Traktate Reicher und Mächtiger so lustvoll verbreitet? Warum gilt das militärische Befehlen weniger Feldherrn noch immer viel mehr als das tausendfache Verrecken ihrer Soldaten? Warum gelten reiche Fabrikherren als legendär, für die sich Lohnabhängige ihre Gesundheit ruinierten?
Kurzum: Es ist viel einfacher, Erbstücke Reicher und Mächtiger zu zitieren als das kärgliche Etwas, das Millionen von Namenlosen hinterlassen haben, die privaten Reichtum erst durch die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ermöglicht haben. Die meisten der Abhängigen, seien es Knechte, Heuerlinge, Handwerksgesellen oder Arbeiter, erst recht couragierte Frauen, haben fast niemals große Schriften, kolossale Porträtbilder oder Bauten, sie haben meistens nicht einmal erhalten gebliebene Grabstätten hinterlassen.
Bei der Stadtgeschichte ist all dies nicht anders: Fürstbischöfe, Stadtautoritäten wie Möser oder Stüve, reiche Bürgermeister, Senatoren oder kapitalkräftige Unternehmer diktieren, wie Privilegierte aus anderen Gefilden Deutschlands, unzählige Straßen- und Platzbezeichnungen. Ihre Konterfeis firmierten zu Statuen, Büsten und Gemälden. Ihre kostbaren Besitztümer schmücken Schlösser, Museen und vornehme Häuser.
Ein Ja zur Einseitigkeit
Der Autor dieser Zeilen bekennt sich zur Einseitigkeit. Schreibe ich als Heiko Schulze Abhandlungen zur Stadtgeschichte, möchte ich, dass dabei vorwiegend andere als die Mächtigen und Reichen Gehör finden. Mich interessieren eher namenlos gebliebene Menschen, die unsere heutige Demokratie durch ihr selbstloses Handeln erst ermöglicht haben. Wie anders wollen wir unsere Republik, bei allen Unzulänglichkeiten einer kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung, anders wertschätzen als durch Hervorhebung derjenigen, die bereits in der Geschichte für Freiheit, Gleichheit und Solidarität gekämpft haben? Nicht selten geschah dies unter Inkaufnahme existenzbedrohender Gefahren. Sehr oft wurde mutiges Handeln gegen Herrschende mit dem Verlust des eigenen Lebens bezahlt.
Fast vergessene Stadtgeschichte
Der vorliegende, erheblich aktualisierte Sammelband von Aufsätzen und Serien, die in den vergangenen dreieinhalb Jahren in der OR allein im Internet veröffentlicht wurden, findet sich nun zwischen festen, lindgrünen Buchdeckeln. Inhaltlich geht es beispielsweise um Handwerksgesellen, die in Osnabrück anno 1801 einen am Ende blutig verlaufenden Generalstreik gegen die Obrigkeit entfachen und dabei Bezüge zur Französischen Revolution erkennbar machen. Weitere Abhandlungen betreffen zahllose soziale und rechtliche Fortschritte, welche mit der 1813 beendeten französischen Besetzung Osnabrücks verbunden waren. Intensiv berichtet wird über die Urquelle von hiesiger Gewerkschaftsbewegung, Sozialdemokratie, Volksbildung und Sportvereinswesen, die mit dem Arbeiterbildungsverein von 1849 verbunden ist. In Erinnerung gerufen wird der Werdegang der ersten, 1946 von den Briten zugelassenen Osnabrücker Rundschau, die erstmals nach zwölf Jahren NS-Terror eine demokratische Berichterstattung ermöglichte. Abgeschlossen wird mit einem Aufsatz über die frühe Nachkriegszeit, in der ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister namens Heinrich Herlitzius durch eine üble Intrige alter Stadteliten sein Amt verlor.
Der seit drei Tagen ausgelieferte Band ist ab sofort über den örtlichen Buchhandel zu beziehen und darf gern demokratisch-kontrovers diskutiert werden.
Heiko Schulze:
Fast vergessene
Osnabrücker Stadtgeschichte
Hardcover
304 Seiten
mit aufwändiger Fadenheftung & Leseband
€ 24,00