Freitag, 11. Oktober 2024

Vor 90 Jahren: Beginn des Austro-Faschismus in Österreich

Wie Diktator Dollfuß in Österreich 1934 die Republik liquidierte.
Praxisbeispiel für heute?

Mehr denn je ist es an der Zeit, verstärkt über Faschismus zu reden. Dabei ist es wichtig, sowohl über jenen in der Geschichte wie auch über seine Varianten in der Gegenwart zu debattieren. Wichtig ist: Das nationalistische Terrorsystem besitzt in Europa stets viele Gesichter. In Italien zählt Mussolinis Diktatur von 1922 bis 1944, in Deutschland der Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 dazu. In Spanien hat der Franco-Faschismus von 1938 bis 1977 besonders lange überdauert. Weit weniger bekannt ist das Modell des Austrofaschismus, der sich in Österreich von 1934 bis 1938 etabliert hatte. Am 12. Februar sind es exakt 90 Jahre her, dass die Demokratie dort von einem christlichsozialen Bundeskanzler namens Engelbert Dollfuß brutal liquidiert wurde. Für die OR ist es ein Anlass genug, sich an jene Ereignisse zu erinnern.


Das Besondere an Österreich

Österreich ist seit Ende 1918 nur noch ein schmales geografisches Überbleibsel eines riesigen Habsburger-Reiches namens Österreich-Ungarn. Jener komplizierte Vielvölkerstaat ist zum Ende des Ersten Weltkriegs für immer beseitigt worden. In Deutsch-Österreich – jahrzehntelang eine unverdächtige, allein Sprachzugehörigkeit ausdrückende Bezeichnung – sticht besonders eine ungemein starke Sozialdemokratie hervor.

Plakatmotiv aus besseren Zeiten: Österreichs Sozialdemokratie proklamiert das "Rote Wien"
Plakatmotiv aus besseren Zeiten: Österreichs Sozialdemokratie proklamiert das „Rote Wien“

Im Gegensatz zu anderen Staaten ist es hier, dank der linkssozialistischen Ausrichtung der Partei, niemals zur Abspaltung einer halbwegs relevanten Kommunistischen Partei gekommen. Im Bundesland Wien regiert eine Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs, wie der offizielle Parteiname lautet, ununterbrochen mit riesiger Mehrheit seit 1918. Diese hat das gesamte Bundesland zu einer international beachteten sozialistischen Modellstadt gemacht, die sich permanent linker Besuchergruppen aus aller Welt erfreut, welche funktionierende Modelle für ihre eigene Politik suchen.

Rund 420.000 (!) Parteimitglieder allein in der Hauptstadt, ein klassenüberwindendes Bildungs- und Gesundheitswesen, ein massives Wohnungsbauprogramm mit zuletzt 60.000 Arbeiterwohnungen, die vor allem mit einer hohen Besteuerung der Reichen finanziert werden, sind neben einem stabilen Mieterschutz Merkposten, die weltweit für Furore sorgen. Noch heute wirken vorbildliche Wohnprojekte wie der Karl-Marx-Hof für den nachhaltigen Erfolg einer derartigen Politik. Und der hohe Grad sozial geschützter kommunaler Wohnungsbauten bleibt nicht minder ein zeitloses Vorzeigebeispiel.

Bundespolitisch gelingt es der Sozialdemokratie in der letzten Koalitionsregierung mit Christsozialen bis 1920, zentrale Fortschritte wie den Achtstundentag, das Verbot von Kinderarbeit, eine garantierte Arbeitslosenunterstützung, das Recht auf bezahlten Urlaub, anerkannte Tarifabschlüsse, die Legitimierung von Betriebsräten mit echter Mitbestimmung und die Einrichtung von Arbeiterkammern mit eigenen Befugnissen zu realisieren. Hinzu tritt eine unvergleichbare Organisation der Freizeit durch spielerische Kinder- und Jugendrepubliken der sozialistischen Jugendorganisationen, selbstversorgende Konsum- und Produktionsgenossenschaften, Arbeitersportbewegung und Kulturvereinigungen, eigene Presse und Literatur bis hin zu einer Arbeiterbank mit sozialen Konditionen. In anderen Staaten werden derartige Fortschritte, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später durchgesetzt.

Die Mobilisierung einer eigenen Parteiarmee, die den Namen „Republikanischer Schutzbund“ trägt und bis zu 80.000 wehrfähige Mitglieder umfasst, soll die Fortschritte nach außen hin absichern. Aus all diesen Erfolgen resultiert zugleich eine große Wertschätzung der demokratischen Republik, die Otto Bauer, maßgeblicher Vertreter des für die Partei stehenden „Austromarxismus“, für die österreichische Sozialdemokratie so ausdrückt:

Die Republik – das war den Massen nicht bloß eine Staatsverfassung, in der es keinen Kaiser mehr gibt; sondern eine Staatsordnung, die die Staatsregierung unter den wirksamen Einfluss der proletarischen Organisationen stellt.


Der Hass der Rechten und Ultrareligiösen

Spiegelbildlich zur Stärke der Linken organisiert sich in Österreich postwendend eine konservativ-religiöse wie nationalistische Rechte. Sie findet ihre Stärke vor allem aus der ländlichen Bevölkerung und aus alten Machteliten in Wirtschaft, Finanzkapital, Großgrundbesitz, Katholischer Kirche, Armee, Polizei, höheren Schulen und Universitäten, Justiz und Verwaltung. Allen sind republikanische und soziale Fortschritte zutiefst zuwider. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass es der Sozialdemokratie trotz konstant über 40% liegenden Stimmenanteilen niemals gelingt, eine rote Regierung für ganz Österreich zu stellen. Der Hass der Rechten auf den organisierten Sozialismus nimmt synchron zu dessen Erstarken zu.


Schritte auf dem Weg nach rechts

Zugleich macht die christlich-soziale Regierung, parteipolitisch so etwas wie ein Vorläufer der heutigen Österreichischen Volkspartei (ÖVP), Heer und Polizei zunehmend zu einer Bastion der österreichischen Rechten. Eine autoritär geführte „Heimwehr“ als bewaffneter Stoßtrupp reaktionärer Kräfte tritt hinzu. Ein erster massiver Schlag der Rechtskräfte gegen die Sozialdemokratie ist die blutige Niederschlagung einer Wiener Arbeiterdemonstration am 15. Juli 1927, die sich gegen die unveränderte Klassenjustiz verwahrt – und 85 Tote zur Folge hat.

Von da an beginnt ein Prozess des massiven Abbaus demokratischer Rechte. Zugleich werden paramilitärische Verbände der Rechten, auch mit massiver Unterstützung faschistischer Nachbarstaaten wie Italien und Ungarn, immer stärker. Hinzu tritt die immer heftigere Wirtschaftskrise, welche Österreichs Rechte mit massivem Sozialabbau beantworten will, dem Linke naturgemäß entgegenstehen.

Statt einer Republik mit Parlament fordern Rechtskräfte, die auch in der christlich-sozialen Regierungspartei immer dominanter werden, einen klerikalen Ständestaat. Der gleichgesonnene Parteiideologe Richard Schmitz nennt jenen Ständestaat eine „Zusammenfassung der durch Sicherheit ihres Berufes und Dienstes an der Gesellschaft Zusammengehörigen“, welche den Staat durch eine „berufsständische Neuordnung“ prägen sollen.

Nebenher: Auch vom AfD-Chefideologen Björn Höcke gibt es bis heute ähnliche Visionen.

In Österreich ist es der christlich-soziale Bundeskanzler Ignatz Seipel (1876-1932) persönlich, der irgendwann zum finalen Halali auf die Republik bläst. Kommt dies bekannt vor? Originalton des Kanzlers: „Nach meiner Ansicht rettet jener die Demokratie, der sie von der Parteienherrschaft reinigt und dadurch erst wieder herstellt.“

Zerstörer Dollfuß

Engelbert Dollfuß, in seinen Idealen sehr stark am katholisch-faschistischen Italien Mussolinis orientiert, heißt der neue christlich-soziale Bundeskanzler, der Seipel im Mai 1932 nach dessen Tode als Chef einer Koalitionsregierung aus Christlichsozialen, Landbund und Heimwehren folgt. Dollfuß wird in der Folgezeit endgültig zum Liquidator der Republik. Ein erster Schritt ist es, die faschistische Heimwehr in staatliche Institutionen einzubinden, sie weiter massiv zu bewaffnen und deren Propagandamaschine zu stärken. Dass sich die Heimwehren zunehmend zu einem eigenständigen Faktor entwickeln, tut dem rechten Bündnis insgesamt keinen Abbruch. Zugute kommt den Rechten, dass innerhalb der Sozialdemokratie zwar heftig über Struktur und Ausbildungsinhalte des Republikanischen Schutzbundes gestritten wird, diesen ausufernden Debatten aber kein schlüssiges Verteidigungskonzept zugunsten der Republik folgt. Selbst einem Generalstreik steht die Partei- und Gewerkschaftsführung bis zum Schluss eher skeptisch gegenüber.

Engelbert Dollfuß (1892-1934)
Engelbert Dollfuß (1892-1934)

Unter Dollfuß wird die Republik fortan scheibchenweise beseitigt. Zunächst werden zentrale Ministerien wie Inneres und Justiz mit bekennenden Faschisten besetzt, die entsprechende Strukturen in allen Ämtern und Behörden schaffen. Außenpolitisch wird der Einfluss der italienischen Mussolini-Regierung immer stärker. Jene will zusätzlich mit Finanzhilfen dafür sorgen, dass Österreichs Sozialdemokratie zerschlagen wird. Innenpolitisch werden massiv Unternehmen gestützt, die ihren von Massenarbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten eigene „Gewerkschaften“ anbieten. Jene werden bald rund 40% aller Beschäftigten umfassen. Organisiert sind dort die, denen es vor allem um ihre Job-Absicherung geht und damit weniger um den Erhalt der Republik.

Der weitere Niedergang der sozialistischen Arbeiterbewegung deutet sich an, als polizeilich und militärisch im Frühjahr 1933 ein Streik der Eisenbahner niedergeschlagen wird. Streikführer landen im Gefängnis. Als sich überdies das Parlament in Wien durch den Rücktritt aller drei Präsidenten kurzfristig nach irgendwelchen Abstimmungspannen selbst lahmlegt, ergreift Dollfuß seine Chance: Er zerschlägt das Parlament per Notverordnung endgültig. In seiner „Trabrennplatz-Rede“ am 11. September 1933 betont der Mussolini-Anhänger Dollfuß sehr deutlich:

Das alte Parlament mit seinen Führern und Abgeordneten ist verschwunden – auf Nimmerwiedersehen … Der Einfluss der Sozialisten ist für immer ausgeschaltet. Feierlich verkünde ich den Tod des Parlaments.

Verzweifelt startet die Sozialdemokratie umgehend eine Unterschriftenaktion zur Wiedereinsetzung des Parlaments. Aktivistinnen und Aktivisten ziehen von Haus zu Haus und sammeln dafür – bei nicht einmal sieben Millionen Einwohner*innen – 1,2 Millionen Unterschriften. Stolz übergeben sie die Listen an den eher machtlosen Bundespräsidenten Miklas. Die Unterschriften zur Erhalt der Republik landen zum Verstauben in den hintersten Winkeln der Regierungsbehörden.


Verzögerte Gegenmaßnahmen

Um Menschenleben zu schützen, verzichtet die sozialdemokratische Führung vorerst auf massive Gegenmaßnahmen in Gestalt einer Mobilisierung und vollständigen Bewaffnung ihres Republikanischen Schutzbundes. Auch in den Gewerkschaften gibt es von oben keine Regung, einen Generalstreik zu organisieren. Es überwiegt die menschliche Angst, die Existenz oder sogar das Leben der eigenen Anhängerschaft zu riskieren. Noch vertraut man in Partei- und Gewerkschaftsreihen auf Rechtsstaatlichkeit und erlangte Rechte. Letzteres besitzt aber spätestes bis zum Juni 1933 keine Basis mehr: Dollfuß nötigt die christsozialen Verfassungsrichter mit eiskaltem Kalkül zum Rücktritt, wodurch sich dieses oberste Gericht der Republik selbst ausschaltet.

Nun kann der von Sozialistenhass getriebene Kanzler so richtig loslegen: Weitere Schritte der Dollfuß-Regierung sind die Umstellung des freien Verkaufs sozialdemokratischer Zeitungen auf den Postversand, die Verhängung des Standrechts bei „böswilliger“ Sachbeschädigung, die Einschränkung der Zuliefermöglichkeiten sozialistischer Genossenschaften, die Abschaffung jeglicher Personalvertretung im öffentlichen Dienst, der restlose Austausch sozialdemokratischer Mitglieder in Arbeiterkammern durch Dollfuß-Hörige, nicht zuletzt die Liquidierung der Steuerhoheit Wiens, was jene „Musterstadt“ am Ende handlungsunfähig machen soll.

Am massivsten geht Dollfuß fortan gegen den Republikanischen Schutzbund vor. Anfang Februar lässt er alle Schutzbundführer des Landes flächendeckend verhaften. Die rote Wehrformation besitzt fortan keine Führung mehr. Zusätzlich kommt die Regierungs-Order zur Entwaffnung der ihr so verhassten republikanischen Wehrformation. Polizisten und Soldaten setzen sich in Bewegung, um die Waffen ihrer Todfeinde einzusammeln.


Der 12. Februar

Unter diesen, extrem ungünstigen Bedingungen nehmen die tragischen Ereignisse des 12. Februar ihren Lauf. Viele Sozialdemokraten fassen verzweifelt den Beschluss, ihrer eigenen Wehrlosigkeit endlich ein Ende zu setzen. Linzer Schutzbündler nehmen als erste allen Mut zusammen und widersetzen sich aktiv ihrer Entwaffnung. Die Gegenseite antwortet mit Brachialgewalt. Arbeiter kämpfen gegen Berufssoldaten und Berufspolizisten, alte Gewehre schießen gegen Kanonen der Armee an. Alles spricht sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land herum. Die Beteiligten sind im Nu in bürgerkriegsähnliche Kämpfe verstrickt, die rasend schnell bis nach Wien übergreifen.

Verhaftete kommen aus allen Altersgruppen.
Verhaftete kommen aus allen Altersgruppen.

Der sozialdemokratischen Parteiführung gelingt es tragischerweise nicht mehr, ordnend in das Geschehen einzugreifen oder sich Verhandlungsoptionen zu sichern. Teile des Schutzbundes sind unverändert führungslos. Andere wehren sich nun mit ihren Waffen – und riskieren das eigene Leben für den Erhalt der Republik.

Der Kampf ist schnell ausweglos: Rund 75.000 Angehörige von Heimwehr, Bundesheer und Polizei stehen mit ihren aufgebauten Kanonen und ratternden Maschinengewehren vor allem in Wiener Arbeiterbezirken rund 20.000 Sozialdemokraten gegenüber. Von denen ist überdies die Hälfte, auch aufgrund der Razzien der Vergangenheit, völlig unbewaffnet. Verzweifelte nehmen sich Knüppel oder Eisenrohre, um sich und die Pepublik zu verteidigen. Insgesamt sterben infolge der Kämpfe bis zu 360 Personen.

Nach wenigen Tagen eines opferreichen Kampfes müssen sich die Kämpfer des Republikanischen Schutzbundes schließlich ergeben. Alle werden verhaftet – ebenso sämtliche Führungspersönlichkeiten und wichtige Funktionsträger*innen der Sozialdemokratischen Partei, die, ebenso wie Gewerkschaften und alle Sport-, Selbsthilfe- und Kulturorganisationen, triumphierend von der Dollfuß-Regierung verboten wird. Am 1.Mai 1934 wird das Regime eine neue Verfassung beschließen. Auch auf dem Papier ist Österreich nun keine demokratische Republik mehr, sondern ein autoritär geführter „Ständestaat“, der sich an faschistischen Ideen orientiert.

Kanzler Engelbert Dollfuß, unverändert am italienischen Modell des Faschismus ausgerichtet, wird am 25. Juli des gleichen Jahres 1934 höchstpersönlich zum Opfer eines gescheiterten Putsches österreichischer Nationalsozialisten. Die Mörder sind in sein Kanzleramt eingedrungen und haben ihn niedergestreckt. Der Mord an Dollfuß zählt zu den besonders makabren Ereignissen in der weiteren Geschichte des Austrofaschismus.


Schritte zur „Heimführung“ ins Deutsche Reich

Das völlige Fehlen einer wehrhaften Arbeiterbewegung macht es den deutschen wie auch österreichischen Nationalsozialisten in den kommenden Jahren leicht, das spätere Schuschnigg-Regime zur Übergabe ihres Staates an NS-Deutschland zu zwingen. Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht am 11. März 1938 beseitigt somit auch die kurze Ära des Austrofaschismus. „Österreich haben wir heim ins Reich geholt!“, verkünden es grölende Nationalsozialisten und Wehrmachtssoldaten.

Vor allem die zwar autoritär-faschistische, aber nichtrassistische und sehr katholische Ausrichtung von Dollfuß wie später von Schuschnigg waren Adolf Hitler ein Dorn im Auge. Und dem alten Dollfuß-Freund Benito Mussolini sind die neuen deutschen Bündnispartner mit ihrem mächtigen Reich trotz ihrer „Rassenideologie“ allemal wichtiger als die Klerikalfaschisten der Alpenrepublik.

Makaber ist, dass Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in weiten Kreisen des national-konservativ gesonnenen Österreichs bis heute Sympathie besitzt. In nicht wenigen Parteibüros der Regierungspartei ÖVP hängt sogar sein Konterfei. Verbreitet ist diese Dollfuß-Sympathie natürlich ebenso in der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Schließlich hat der Mann ja in ihren Augen mit den verhassten Roten Schluss gemacht. Österreichs „Freiheitliche“ könnten bekanntlich, gemäß aktuellen Umfragen, in einer Koalitionsregierug mit der ÖVP sogar den nächsten Kanzler stellen. Ein Grund mehr also, über den 90. Jahrestag des 12. Februar 1934 zu diskutieren. Es ist kein antiquarisches Nebenthema.

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