spot_img
Aktuelle Kurzmeldungen aus OS & Umzuspot_img
Aktuelle Polizeimeldungenspot_img
Aktuelle Veranstaltungenspot_img
Samstag, 13. Dezember 2025

Teil 7 der OR-Serie „Täter-Hetzer-Profiteure“: Gerhard Schlikker (1874–1964)

Gerhard Schlikker im Spiegel seiner Entlastungszeugnisse

Der Unternehmer und Jurist Gerhard Schlikker (1874–1964) trat 1932 der NSDAP bei und blieb bis 1945 Parteimitglied. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ihm zur Last gelegt, dass er der Partei am 1. April 1932 die „Villa Schlikker“ in Osnabrück als Parteizentrale mietfrei überließ und für ihre Zwecke zur Verfügung stellte. Schlikker war seit 1926 Eigentümer der elterlichen Villa am Kanzlerwall 27, hatte diese aber nie bewohnt, da sein Lebensmittelpunkt in Berlin bzw. Schüttorf lag. Über die näheren Hintergründe seiner Geschichte informiert ab Dezember der folgend wiedergegebene Artikel in den Osnabrücker Mitteilungen.


„Warum ich Nationalsozialist wurde!“  Gerhard Schlikker – oder: zur Geschichte eines Steigbügelhalters
Wiedergabe aus: Osnabrücker Mitteilungen 130, 2025 (im Erscheinen)

In Vorfeld soll es hier um das Erscheinigungsbild Gerhard Schlikkers im Spiegel seiner Entlastungszeugnisse gehen. Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens (1945–1950) wurden mehrere dieser Erklärungen eingereicht.

Allgemein gehören diese Zeugnisse in Entnazifizierungsverfahren zum wesentlichen Bestandteil der Verteidigung. Sie wurden beigebracht, um die Angeklagten so gut wie möglich zu entlasten. Ihre Qualität ist unterschiedlich einzuschätzen, gelten sie doch häufig als aus Gefälligkeit ausgestellte „Persilscheine“, die die Angeklagten ‚reinwaschen‘ sollten. Dennoch sollte ihre Einfluss auf das Verfahren nicht unterschätzt werden. Immerhin wurden sie meist eidesstattlich abgegeben und spielten in den Prozessen durchaus eine Rolle. Im Falle Gerhard Schlikkers legt beispielsweise ein undatierter Vermerk nahe, dass die Aussagen tatsächlich unmittelbar in die Beurteilung einflossen bzw. Beweiskraft besaßen: Alle Zeugenaussagen und die vorgelegten eidestattlichen Erklärungen und Entlastungszeugnisse bestätigen und erhärten die eigenen Angaben des Sch[likker].[1]

Dem Entnazifizierungshauptausschuss (EHA) Nordhorn hatte Schlikkers Rechtsanwalt Jungehülsing insgesamt 12 Entlastungszeugnisse zugeleitet. Die Zeugnisse stammten aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden:

  1. a) Deutsche Zeugnisse
    Fräulein Ton Weihe, Berlin-Wilmersdorf, Detmolder Str. 65
    2. Albert Broeking, Gevelsberg, Fabrikant
    3. Dr. Hermann Heyers, Wachenheim/Rheinpfalz, Haus Bürklin
    4. Lohnbuchhalter Lambert Fehsecker, Schüttorf
    5. Kraftfahrer Bonke, Schüttorf
    6. Bürgermeister a.D. Verwold, Schüttorf
    b) Holländische Zeugnisse
    1. Edwin Meyer, Amsterdam, Schubertstr. 12 (2 Zeugnisse)
    2. Frau Lotte Meyer-Viol geb. Barburg (Halbjüdin)
    3. Fräulein Elisabeth Meyer-Viol, Wassenaar-Haag, Ridderlaan 8
    c) österreichische Zeugnisse
    1. Frau Irmer Quittner, Wien 19, Gergor-Mendel-Str. 50
    2. Dr. Kraus, Wien
    3. Paul Deutsch, Chefredakteur einer der ersten Wiener demokratischen Zeitschriften (Jude)
    [2]

Welches Bild zeichnen die beigebrachten Zeugnisse von Gerhard Schlikkers Verhalten und Einstellung und welcher Wert kann diesem Bild beigemessen werden? Zusammengefasst bescheinigen die Zeugnisse, darunter drei von niederländischen Staatsbürgern und zwei von (Halb-)Juden, Gerhard Schlikker trotz seiner Mitgliedschaft in der NSDAP eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung zur Partei, in der er nur zahlendes Mitglied gewesen sei. Er habe nicht mit Heil Hitler gegrüßt und sein Parteiabzeichen nicht offen getragen, auch habe er im Betrieb nicht für die Partei agitiert. Holländische Arbeiter seien von ihm genauso behandelt worden, wie deutsche. Er nahm sie auch gegen die Partei und ihre Organisationen in Schutz. Für befreundete oder bekannte Nicht-Parteigenoss:innen und NS-Verfolgte habe er Hilfe geleistet und den antijüdischen Pogrom sowie den Krieg missbilligt. Im Detail lassen sich die getroffenen Aussagen in mehrere Aspekte unterteilen, die eine Annäherung an das Verhalten Gerhard Schlikkers während der NS-Zeit ermöglichen.

"Braunes Haus" als Ansichtskarte
„Braunes Haus“ als Ansichtskarte

 

Verhalten in der Fa. Schlikker & Söhne

Gerhard Schlikker betonte in seinem Prozess, dass er als verantwortungsvoller Unternehmer während der Kriegszeit nahezu permanent vor Ort war.[3] Für ihn war wichtig, belegen zu können, dass er in der Fa. Schlikker & Söhne keine nationalsozialistische Werbung verbreitet hatte. Seine Mitarbeiter bestätigen dieses Bild in ihren schriftlichen Erklärungen. Der Betriebsrat, namentlich B. Middelberg, H. Kröner, H. Köhler, G. Flucht, Gerrit Poel, H. Troost und I. Verwolt, bezeugtenSoweit wir ihn zu beobachten Gelegenheit hatten, hat er sich im Betriebe der Firma Schlikker & Söhne in Schuttorf niemals im Nationalsocialistischen Sinne betätigt, niemals für die Partei geworben oder gesammelt. Das Parteiabzeichen haben wir nie an ihm bemerkt, ebensowenig ist uns je aufgefallen, dass er sich des Deutschen Grusses bedient hätte.[4] Letzteres konstatiert auch der Bürovorsteher und Handlungsbevollmächtigte, Hans Barmeyer.[5]

Dieses Bild erweitert Lohnbuchhalter Lambert Feseker noch, indem er die Art des Grüßens zu einer Art Beleg innerer Widerständigkeit stilisiert, indem er in seiner eidesstattlichen Erklärung resümiert, dass Schlikker der Bewegung gegenüber eine mehr als zurückhaltende, besser gesagt ablehnende Einstellung an den Tag legte. Besonders ist mir aufgefallen, dass er das „Heil Hitler“ des NSDAP-Betriebsobmannes nicht in gleicher Weise erwiderte, sondern es bei dem früher üblichen „Guten Morgen[“] pp. bewenden liess. Ein bei der radikalen Gesinnung des Obmanns nicht ganz unbedenkliches Verhalten. Feseker setzt Schlikkers Verhalten zur weiteren Hervorhebung in Relation zu anderen Personen: Zu erwähnen ist hierbei noch, dass manchem Nicht-Pg. zu einem solchen Verhalten gegenüber diesem Obmann oft der Mut fehlte.[6]

In diesem Sinne erwähnt Feseker auch die Behandlung der niederländischen Zwangsarbeiter des Betriebes. Er habe gesehen, dass die uns während des Krieges zugewiesenen holländischen Grenzgänger keinesfalls schlechter gestellt und behandelt wurden, als unsere eigenen Leute. Gegen Angriffe, denen diese Arbeiter von Seiten der Nazi-Partei oft ausgesetzt waren, wurden sie von Herrn Dr. Schlikker wie auch von Herrn Criegee in Schutz genommen. Wenn z.B. die holländischen Grenzgänger wegen angeblicher Sabotage auf Veranlassung der DAF durch den Betrieb gemassregelt werden sollten, hat Herr Dr. Schlikker wie auch Herr Criegee dies nicht durchgeführt, was bei den Parteistellen oft grosse Entrüstung hervorrief.[7] In dieser Situation war es vermutlich für Schlikker von Vorteil, dass er Parteimitglied war.


Schlikkers frühe Begeisterung für den Nationalsozialismus

Ein Hauptmanko Schlikkers war seine frühe Begeisterung für den Nationalsozialismus noch vor Januar 1933. Wie gingen seine Bürgen damit um? Da der Fakt nicht zu leugnen war, wurde ihm ein – vielleicht etwas naiver? – Idealismus bescheinigt, der aber durch das eigentliche antinazistische Verhalten zu relativieren sei. Edwin Meyer aus Amsterdam war bekannt, [d]ass Herr Schlikker vor 33 aus idealistischen Gründen Mitglied der N.S.D.A.P. geworden ist, aus Missmut und Ärger über das elende politische Parteisystem der damaligen Zeit. Er hat sich aber nie militant für die Partei eingesetzt; noch weniger hat er sich seit der Machtübernahme, als die Schäden und Nachteile der Partei zu Tage traten, für Verteidigung de[r] Maßnahmen eingesetzt. Im Gegenteil. Dort, wo keine Anzeige bei den Behörden zu befürchten war, hat er offen gegen die Principien und Massnahmen gesprochen und agiert.[8] Hier war demnach – neben den Anreizen des Nationalsozialismus selbst – auch das vermeintliche Versagen der Weimarer Republik Schuld.

Dass Schlikker bald von seiner früheren Meinung völlig abgekommen sei, bestätigt ihm sein Chauffeur Eberhard Bonke aus Schüttorf aufgrund seines besonderen Vertrauensverhältnisses: Als Herr Dr. Schlikker die Gewissheit gewonnen hatte, dass er sich mir gegenüber, bei zwanglosen Unterredungen auf unseren Fahrten, ganz offen äussern konnte, machte der Genannte in den letzte[..] Jahren vor dem Kriegsbeginn kein Hehl daraus, dass er das Treiben der NSDAP. auf das allerschärfste verurteilte.[9]


Verführung – das ‚betrügerischen Verhalten‘ der NSDAP

Die Gründe für das Fehlverhalten – die Unterstützung des Nationalsozialismus – wurden denn auch nicht bei Menschen wie Schlikker gesucht, sondern dem ‚betrügerischen Verhalten‘ der Partei angelastet. Diese habe, so das entworfene Bild, erst gelockt und dann den ‚ehrlichen Idealismus‘ der Menschen verraten. So argumentierte beispielsweise Schüttorfs ehemaliger Bürgermeister Bernhard Verwold: Herr Dr. Schlikker gehörte nach meiner Überzeugung zweifellos zu denjenigen Personen, die sich anfangs für das aufgestellte und verlockende Programm der Partei interessierten, es ehrlich und gut gemeint haben, und die sich später hintergangen und arg betrogen fühlten.[10] Darin ist sich auch ein anonymer Zeuge sicher. Er bescheinigt Schlikker, dass dieser der NSDAP nie beigetreten wäre, wenn er ihren wahren Charakter früher erkannt hätte: Herr Dr. Schlikker ist mir bekannt als ein Mann, der auch als Parteimitglied die oft gegen alles Recht verstossenden Maßnahmen der Partei nie gutheißen konnte. Es ist meine feste Überzeugung, daß, wenn Herr Dr. Schl[ikker] im voraus erkannt hätte, daß durch die Nazipartei das Recht gebeugt und die Lüge zum Prinzip erhoben würde, er niemals ihr beigetreten wäre.[11]

Als Reaktion auf den Betrug erfolgt dann in der Darstellung die wachsende und am Ende erbitterte Gegnerschaft des Verführten. Dr. Ernst Kraus aus Wien hatte doch immer den Eindruck, dass [S]ie ein erbitterter Gegner des Nazismus waren und um so erbitterter, je siegreicher unsere Truppen vorgegangen sind … in der richtigen Auffassung, dass diese Phyrrussiege unsere Qualen nur verlängern und den sicheren Untergang herausschieben werden.[12] Schlikkers Berliner Rechtsanwalt Heyers fasst es in die Worte: Schon Anfang 1934 wollte er vom Nationalsozialismus nicht mehr wissen und während der folgenden Jahre steigerte sich seien Abneigung zu ausgesprochener Feindschaft.[13]

NS-"Ehrenhalle" mit Reichsadler, Hitlerbüste und SA-Schlägern als Fensterdekoration. Lichtenberg-Foto, anno 1937
NS-„Ehrenhalle“ mit Reichsadler, Hitlerbüste und SA-Schlägern als Fensterdekoration. Lichtenberg-Foto, anno 1937

Opfer-Mythos

In Steigerung der erbitterten Gegnerschaft wird Schlikker sogar selbst zum Opfer des Nationalsozialismus. Bezugnehmend auf die Salzburger Ereignisse im Herbst 1935 äußert sein damaliger juristischer Beistand Heyers: Die Berliner Gestapo beschuldigte Dr. Schlikker, sich im Herbst 1935 in Salzburg sehr abfällig über das Naziregime geäussert zu haben, was an Landesverrat grenze. Ich, damals als Anwalt in Berlin ansässig, vertrat Dr. Schlikker […] auch in diesem Falle zu seinen Gunsten. Die Angelegenheit zog sich sehr in die Länge. Die Geheime Staatspolizei kam immer wieder auf die Sache zurück, und es bedurfte unserer vereinigten anstrengten Bemühungen, dass sie endlich von weiterem Vorgehen Abstand nahm, ohne freilich, soweit ich das beurteilen kann, ihren Verdacht fallen zu lassen.[14] Offensichtlich hat sich Schlikker auch später gelegentlich in der Öffentlichkeit gegen das Regime positioniert. So bescheinigt ihm Edwin Meyer aus Amsterdam für das Jahr 1940: Nach Einbruch von Hitler in die westlichen kleinen Staaten hat er dieses öffentlich verurteilt und sogar die Ansicht vertreten, das Deutschland für diese Verbrechen durch Verlust des Krieges bestraft werden müsste.[15]


Ausbleibender Wiederaustritt aus der NSDAP

Wo nun sichtbar wird, dass sich Gerhard Schlikker bald wieder von seiner anfänglichen Begeisterung für den NS distanzierte, wird die Frage virulent, wieso er dann nicht ebenso frühzeitig wieder aus der Partei ausgetreten ist. Wieso erfolgte kein Parteiaustritt? Bürgermeister Bernhard Verwold liefert dazu das Argument, Schlikker sei eh nur eine ‚Karteileiche‘ gewesen. Ich habe immer wieder feststellen können, dass der Genannte von der Nazipartei sehr stark, ja tatsächlich so weit abgerückt war, dass man ihn nur als zahlendes Mitglied, sogenanntes Kartei-Mitglied, betrachten konnte, zumal er sich nicht mehr darum kümmerte.[16]

Irma Quittner aus Wien bescheinigt Gerhard Schlikker, dass das Thema für ihn schambehaftet gewesen sei: Es blieb mir lange verborgen, dass Du ein Parteibuch hattest und es war mir ein tiefe Erschütterung, als ich davon von Dir erfahren habe, eine Tatsache, deren Du nur mit grosser Beschämung Erwähnung tatest.[17] Dennoch war die Frage des pro und contra Thema in Gesprächen Schlikkers mit seinen Freund:innen und Bekannten. Solche wie Toni Weihe rieten ihm sogar von einem Parteiaustritt ab: Wir haben oft über seinen evtl. Austritt aus der Partei gesprochen, doch musste ich ihm immer wieder entschieden davon abraten, denn das Nächste wäre seine Inhaftierung und somit sein baldiges Ende gewesen, besonders da er sich schon oft durch heftige Kritik unliebsam gemacht hatte und von befreundeter Seite gewarnt worden war.[18]

Gemeint war die Bedrohung, gegebenenfalls inhaftiert zu werden. So analysiert Irma Quittner Schlikkers Verhalten aus dessen Sorge um das eigene Wohlergehen: Aus diesem Irrtum rechtzeitig die Konsequenzen zu ziehen, wäre ja möglich gewesen, wenn man sich nicht vor dem KZ gefürchtet hat — aber nicht jeder ist zum Helden und Märtyrer geboren.[19] Genau dies bestätigt Edwin Meyer aus Amsterdam mit der folgenden Stellungnahme zu Schlikker: Auf mein Befragen, weswegen er nicht aus der Partei träte, da er doch nicht mit den Principien einig ginge, antwortete er, dass er am liebsten diesen Schritt nehmen möchte, dass er aber befürchtete[,] sofort durch die Gestapo zitiert zu werden, um nach den Ursachen seines Verhaltens zu unterfragen, mit der Folge, dass er womöglich als Abtrünniger in ein Konzentrationslager kommen würde und sämmtliche andere Folgen zu tragen hätte.[20]


Unterstützung jüdischer Menschen und ‚rassisch Verfolgter‘

Angesichts des Antisemitismus der Nationalsozialist:innen waren entlastende Zeugnisse, die nachwiesen, dass sich Angeklagte für jüdische Menschen eingesetzt hatten, besonders wertvoll und wurden deshalb im Verfahren von der Verteidigung ausdrücklich hervorgehoben. Im Falle Gerhard Schlikkers gibt es dazu gleich eine ganze Reihe von Aussagen. Zunächst wird ihm seine Empörung über die Ereignisse während der Reichspogromnacht im November 1938 bescheinigt. Schlikker Chauffeur erinnert sich, dass wir uns unmittelbar nach den Judenpogromen mit ihrer Verbrennung der Synagogen auf einer Autofahrt befanden und wir beide [sic!] über dieses Unmenschliche Vorgehen der Partei aufs Äusserste empört waren.[21] Auffällig sind hier im Übrigen – wie auch an anderen Stellen – die zur Selbstentlastung neigenden Formulierungen. Und Toni Weihe aus Berlin-Wilmersdorf hebt sogar eine besondere Bedeutung des Ereignisses für Schlikkers antinazistische Entwicklung hervor: Schon deutlich vor dem Krieg rückte er merklich vom Nazismus ab. Den letzten Rest gab ihm die Aktion „Rache für Paris“ am 8./9.11.1938. […] Dr. Schlikker war entsetzt über die beispiellosen Ausschreitungen und drückte dies in folgenden Worten aus: „In was für verbrecherische Kreise bin ich hinein geraten!“[22]

Weihe und Schlikker verband der gemeinsame[..] Freund Dr. Meyer-Viol, dessen Frau eine Halbjüdin […] war. Dr. Meyer-Viol musste emigrieren aus Bayreuth.[23] Von Seiten der Familie Meyer-Viola wurde Schlikker bescheinigt, dass er den rassisch Verfolgten mehrfach insbesondere finanzielle Hilfe zukommen ließ. Lotte Meyer Viol versicherte: Was sein Benehmen gegenüber seinen nichtarischen Freunden, zu denen ich mich als geborene Warburg auch zähle, betrifft, kann ich nur bestätigen, dass er auch nach den Nürnberger Gesetzen der treue Freund geblieben ist & nach unserer Auswanderung aus Deutschland alles getan hat, um meinen Kindern den Aufenthalt im Ausland zu ermöglichen; er hat mir eine beträchtliche Geld Summe als Erziehungsbeihilfe für sie nach Holland überwiesen.[24] An anderer Stelle bescheinigt sie – um ihrer Aussage noch mehr Gewicht zu geben – als Schwester des Nobelpreisträgers Prof. Otto Warburg, Schlikker eine klare Positionierung in Sachen des Antisemitismus: Du hast auch von Anfang an gar keinen Hehl daraus gemacht, und Dich offen gegen die Nürnberger Gesetze, was die Arierfrage anbelangt[,] gestellt. Nicht nur in Deinen Äusserungen, wie so viele andere Menschen, sondern vor allem in Deinen Taten hast Du bewiesen[,] dass es wichtiger ist, seinen nicht-arischen Freunden zu helfen, als sie nur zu bedauern. Was wäre aus der Erziehung meiner Kinder geworden ohne die Unterstützungsgelder die Du ihnen hast zukommen lassen. Wir sind dir darum zu ewigem Dank verpflichtet. [25] Das bestätigt auch die Tochter Elisabeth Meyer-Viol in Genf. Schlikker sei ein guter alter Freund unserer Familie, bei uns im Haus bekannt […] für seine radikale Anti-Nazi-Einstellung, im Sinne dieser Einstellung hat er sehr viel für uns getan, hauptsächlich in den schweren Jahren der Deutschen Besetzung in Holland.[26]

Ihr Onkel Edwin Meyer aus Amsterdam bekräftigt dies: Mit Rat und Tat hat er stets denen von der Partei verfolgten Juden und anderen geholfen. [Die Kinder] meines verstorbenen Bruders, die unter die Nürnberger Gesetze fielen und nach der Emigrierung durch die Reichsfluchtsteuer in finanzielle Not gerieten, hat er verschiedentlich durch Geschenke und Geld tatkräftig unterstützt, wofür sie ihm zu Dank verpflichtet sind.[27] Und Dr. Ernst Kraus aus Wien bescheinigt Gerhard Schlikker in einem anderen Schreiben dementsprechend: Ich erinnere mich auch, dass Sie damals rassisch verfolgten Hilfe geleistet haben.[28]

Irma Quittner aus Wien dankt Gerhard Schlikker wiederum für seine Unterstützung ihres jüdischen Ehemanns: Ewig muss ich Dir danken, dass Du mir damals in Marseille alle Deine üb[r]igen Dollar gabst, um meinem armen Mann, der mich dort erwartet hat, und der aus rassischen Gründen das Reich, […] Wien verlassen musste, damit zu unterstützen. Sie selbst war 1942 wegen ihrer Ehe unter Druck geraten und angeklagt worden: Gegen mich selbst lief im Jahre [19]42 ein Process, der dazu angetan war[,] mich um Geld und Heim zu bringen, es war im Oktober [19]42 beim Landesgericht Döbling, Hirschler kontra Quittner, wo Du mich moralisch und materiell unterstützt hast … mein Verbrechen war, das[s] ich einmal mit einem Juden verheiratet war (Scheidung von Tisch und Bett im Jahre [19]30 wurde nicht als Trennung anerkannt) und dass ich cechischer Herkunft war und man mich gelegentlich cechisch sprechen gehört hat.[29]

Mit dem stellvertretenden Chefredakteur des Neues Österreich in Wien, Paul Deutsch, hatte Schlikker schließlich einen weiteren jüdischen Entlastungszeugen, der mit seinem Zeugnis zugleich auf die demokratische Gesinnung Schlikkers verweisen möchte. Schlikker sei schon vor dem Kriege durch Wort und Tat Gegner des NS gewesen. Er hat auch die Gefahr auf sich genommen, rassisch und politisch Verfolgte sowohl moralisch als auch materiell zu unterstützen. Er hat seine uneigennützige Hilfeleistungen insbesondere meinem verstorbenen Freund, Chefredakteur Schreier, angedeihen lassen, der als Märtyrer der Demokratie gefallen ist.[30]


Empfehlungen für den Neuanfang nach 1945

Abschließend nehmen die Entlastungszeugnisse Schlikkers Zukunft in den Blick. Durch entsprechende Empfehlungen beabsichtigen die Zeug:innen, dass jener nicht von der Teilnahme an dem gesellschaftlichen Prozess der Nachkriegszeit ausgeschlossen wird; dies ist durchaus von Bedeutung angesichts der Tatsache, dass Schlikker anfangs die Wählbarkeit abgesprochen wurde. Dabei geht es z.B. um Vertrauenswürdigkeit, die Verwold seinem langjährigen Bekannten ausdrücklich bescheinigt: Ich habe zu Herrn Dr. Schlikker nach wie vor volles und lückenloses Vertrauen, denn wer ihn kennt, weiss, was man an ihm hat![31] Verwold sieht in ihm den stets hilfsbereiten altruistischen und kirchentreuen Unterstützer, der sich politisch korrekt verhalten habe: Ich habe auch nicht feststellen können, dass Herr Dr. Schlikker sich in den letzten Jahren irgendwie und/oder irgendwo parteipolitisch betätigt und auch weder im Betrieb noch ausserhalb desselben irgendwelchen Einfluss ausgeübt hat. Vielmehr war er für alle stets hilfsbereit und hat manche Familie in aller Stille finanziell und auch sonst unterstützt. Er half und hilft noch immer gern, wo es nötig erscheint. Ein Wort des Hinweises genügt! Der Kirche ist er treu geblieben, obwohl er durch den Austritt grössere finanzielle Vorteile hätte haben können.[32]

Auch Lotte Meyer-Viol setzte hier entsprechende Signale: Ein Mann mit seiner politischen Reife & seiner hochstehenden kulturellen Entwicklung kann beim Aufbau des neuen Deutschland von grösstem Nutzen sein.[33] In einem direkt an Schlikker gerichteten Brief ergänzt sie kurz danach: Deine ablehnende Stellung gegenüber der ag[g]ressiven Politik des Hitlerregimes hat Dir im Ausland viel Sympathie eingetragen, und es wäre schade wenn ein Mann mit Deinem weitschauenden Blick und politischer Reife ausgeschlossen würde von dem Wiederaufbau Deines Landes.[34]


Bilanz aus den Entlastungszeugnissen

Versucht man, die einzelnen Aussagen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, so erzeugten die Zeug:innen von Gerhard Schlikker das Bild eines grundsätzlich durch und durch anständigen Menschen. Während der NS-Zeit leitete er seinen Betrieb so unpolitisch wie verantwortungsvoll und scheute dabei auch keine Konfrontationen mit Nationalsozialist:innen. Seine anfängliche Euphorie für den Nationalsozialismus sei angesichts der schwierigen politischen Verhältnisse in der Weimarer Zeit durchaus verständlich. Letztendlich sei Schlikker aber einer verführerischen und betrügerischen Ideologie aufgesessen, dessen wahren Kern er schon sehr bald erblickt habe. Daraufhin habe er die NS-Politik nicht mehr mitgetragen, sich ihr sogar offen widersetzt, was ihn selbst in Schwierigkeiten gebracht habe. Ein Parteiaustritt sei für ihn zu gefährlich gewesen, wollte er nicht sein eigenes Leben gefährden. Stattdessen habe er versucht, dort, wo es ihm möglich war, verfolgte oder bedrohte Menschen zu unterstützen oder zu schützen. Dies betraf namentlich jüdische oder halbjüdische Bekannte, die er finanziell unterstützte, sowie niederländische Arbeiter in seiner Fabrik. Aufgrund seines insgesamt anständigen Verhaltens während der NS-Zeit, das lediglich den Makel des frühen vielleicht eher naiven Parteieintritts besaß, sei seine Person auch wichtig und hilfreich für den Aufbau eines neuen deutschen Staates.

Auch wenn die Ausschüsse des Entnazifizierungsverfahrens von Gerhard Schlikker einen weit kritischeren Eindruck hatten, so belegen die Prozessunterlagen und unterschiedlichen Urteile doch, dass die Entlastungszeugnisse für die Beurteilung Schlikkers durchaus von Relevanz waren. So dienten die Zeugnisse insbesondere zur Bestätigung von Schlikkers Verhalten und Aussagen, etwa wenn es um seine Empörung angesichts der brennenden Synagogen o.a. ging. Sie flossen damit explizit mit in die Urteilsfindung ein[35] und waren damit ein entscheidender Faktor innerhalb des Gesamtprozesses. Sie genügten den Ausschüssen allerdings nicht, um ihn vollständig zu entlasten, wie es die Argumentation von Schlikkers Rechtsanwalt Jungehülsing nahe legen wollte.

[1]                 NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Seite 3, undatiert, Bl. 27.

[2]  NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, RA Jungehülsing an EHA Nordhorn, 14.12.1948, Bl. 46 wegen Überreichung der Einspruchsschrift und Bitte um Mitteilung, ob sich folgende Entlastungszeugnisse bei den Akten befinden.

[3]  NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Protokoll der öffentlichen Sitzung des Spruchausschusses Az. VE 817/47 SpE 169/48 im Verfahren gegen Gerhard Schlikker, Schüttorf, Hagen 12, geb. Schüttorf 3.12.1874, 25.3.1949, Bl. 62: Im Kriege wohnte ich […] dauernd in Schüttorf.

[4]  NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Betriebsrat der Fa. Schlikker & Söhne, 3.1.1947, Bl. 16.

[5]  NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Hans Barmeyer, Bürovorsteher und Handlungsbevollmächtigter der Fa. Schlikker & Söhne, Schüttorf, 18.5.1946, Bl. 10: [S]o ist mir doch aufgefallen, dass der Genannte sich dem Büropersonal gegenüber niemals des „Deutschen Grusses“ zu bedienen pflegte.

[6] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Lambert Feseker, Schüttorf, Lohnbuchhalter, 18.5.1946, Bl. 8.

[7] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Lambert Feseker, Schüttorf, Lohnbuchhalter, 18.5.1946, Bl. 8.

[8] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Edwin Meyer, Amsterdam 5.6.1946, Bl. 11.

[9] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Chauffeur Eberhard Bonke, Schüttorf 18.5.1946, Bl. 10.

[10] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Bernhard Verwold, Schüttorf, Kaufmann, ehrenamtl. Bgm a.D., 18.5.1946, Bl. 9.

[11] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Entlastungszeugnis ohne Namen, Bl. 7; mit einen gewissen Wahrscheinlichkeit handelt es sich um das Zeugnis des Fabrikanten Albert Broeking  aus Gevelsberg; vgl. ebd., Jungehülsing an EHA Nordhorn, 14.12.1948, Bl. 46, Liste, Nr. a. 2.

[12] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Dr. Ernst Kraus, Wien, 17.6.1946, Bl. 11.

[13] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, RA Dr. Heyers, Wachenheim, beglaubigte Abschrift der eidesstattlichen Versicherung, 26.2.1947. Bl. 22.

[14] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, RA Dr. Heyers, Wachenheim, beglaubigte Abschrift der eidesstattlichen Versicherung, 26.2.1947. Bl. 22.

[15] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Edwin Meyer, Amsterdam 5.6.1946, Bl. 11.

[16] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Bernhard Verwold, Schüttorf, Kaufmann, ehrenamtl. Bgm a.D., 18.5.1946, Bl. 9.

[17] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Irma Quittner, Wien 21.6.1946, Bl. 13.

[18] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Toni Weihe, Berlin-Wilmersdorf, 26.5.1946, Bl. 10.

[19] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Irma Quittner, Wien 21.6.1946, Bl. 13.

[20] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Edwin Meyer, Amsterdam 5.6.1946, Bl. 11.

[21] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Chauffeur Eberhard Bonke, Schüttorf 18.5.1946, Bl. 10.

[22] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Toni Weihe, Berlin-Wilmersdorf, 26.5.1946, Bl. 10.

[23] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Toni Weihe, Berlin-Wilmersdorf, 26.5.1946, Bl. 10.

[24] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Lotte Meyer Viol geb. Warburg, Wassenaar, Ridderlaan 8, 6.6.1946, Bl. 12.

[25] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, E. Meyer-Viol, Genf 6.7.1946, Bl. 13.

[26] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, E. Meyer-Viol, Genf 6.7.1946, Bl. 13.

[27] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Edwin Meyer, Amsterdam 5.6.1946, Bl. 11.

[28] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Dr. Ernst Kraus, Wien, 17.6.1946, Bl. 11.

[29] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Irma Quittner, Wien 21.6.1946, Bl. 13.

[30] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Paul Deutsch, Stellv. Chefredakteur Neues Österreich, Wien, 17.6.1946, Bl. 11.

[31] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Bernhard Verwold, Schüttorf, Kaufmann, ehrenamtl. Bgm a.D., 18.5.1946, Bl. 9.

[32] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Bernhard Verwold, Schüttorf, Kaufmann, ehrenamtl. Bgm a.D., 18.5.1946, Bl. 9; Hervorhebung im Original.

[33] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Lotte Meyer Viol geb. Warburg, Wassenaar, Ridderlaan 8, 6.6.1946, Bl. 12.

[34] NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Lotte Meyer-Viol, Genf 6.7.1946, Bl. 13.

[35] Siehe etwa NLAOS, Rep. 980 Nr. 37260, Entnazifizierungsakte Gerhard Schlikker, Seite 3, undatiert, Bl. 27: […] von seiner früheren Meinung über den Nationalsozialismus völlig abgekommen sei und das Treiben der NSDAP auf das allerschärfste verurteile. Unmittelbar nach den Judenpogromen und der Niederbrennung der Synagogen habe er sich über diese unmenschliche Vorgehen aufs äusserste empört. Der Zeuge Verwold betont vor allem, dass Sch. bei allen Unterredungen, die er mit Sch. gehabt habe, den von Hitler vom Zaune gebrochenen Krieg und seine Ziele auf das schärfste verurteilt habe.

spot_img
Dezember 2025spot_img
22. Oktober 2025spot_img
Dezember 2025spot_img
Oktober 2023spot_img
Dezember 2025spot_img
August 2024spot_img
Juni 2025spot_img
2015spot_img
November 2020spot_img
August 2024spot_img
erscheint Oktober 2026spot_img