Freitag, 26. Juli 2024

Der letzte Tango in Treblinka

Artur Gold war 1939 auf dem Höhepunkt seiner Karriere

Geboren am 17. März 1897 in Warschau als Sohn von Michał Gold, dem Ersten Flötisten der Warschauer Oper (der während einer Aufführung hinter seinem Notenständer starb, als Artur fünf war) und von Helena Melodist, die aus einer Dynastie berühmten Klezmer-Musiker stammte, gehörte Artur Gold in der Zwischenkriegszeit zu den gefragtesten Musikern des Landes.

Die Hits, die er komponierte, arrangierte und dirigierte oder als Geiger selbst spielte, kannte in Polen jedes Kind. Viele von ihnen sind heute noch bekannt, auch weil etliche Platten, die er beim polnischen Label „Odeon“ aufgenommen hatte, erhalten und beispielsweise bei YouTube zu finden sind, wie das „Blumenmädchen aus Barcelona“ („Kwiaciarka z Barcelony“) oder „Schwarze Augen“ („Oczy czarne“). Und die Melodie seines Liedes „Chodź na Pragę” („Komm nach Praga“) ist die inoffizielle Hymne des Warschauer Stadtteils, der hier besungen wird und dort jeden Tag um die Mittagszeit als Signalhornruf zu hören.

Artur Gold hatte zwischen 1922 und 1939 mehrere Orchester und Tanzkapellen, die im Warschauer Theater „Qui Pro Quo“, im eleganten Kaffeehaus „Adria“ in der Moniuszki-Straße, im Varietétheater „Morskie Oko“, im Hotel „Bristol“ und im renommierten Nachtklub „Oaza“ auftraten. Am populärsten war die Jazz- und Tanzkapelle, die er zusammen mit seinem Cousin Jerzy Petersburski gegründet hat und in der zeitweise auch seine Brüder Henryk und Adam (Abram) spielten. Zu ihren bekanntesten Stücken gehörten der Foxtrott „Gdy Petersburski razem z Goldem gra“ („Wenn Petersburski zusammen mit Gold spielt“) und Peterburskis „Tango Milonga“, der mit dem deutschen Text von Fritz Löhner-Beda als „Oh, Donna Clara!“ zum Welthit wurde.

Während Henryk Gold und Jerzy Peterburski bei Kriegsbeginn mit einem Orchester in der Sowjetunion waren und sich später der polnischen Armee unter Władysław Anders anschlossen (Henry komponierte später in Palästina unter dem Namen Zvi Zahawi noch etliche bekannte Lieder), saß Artur Gold in Warschau fest und musste nach der deutschen und sowjetischen Invasion von der Chmielna Straße im nun „arischen“ Teil der Stadt in das neu geschaffene Juden-Ghetto umziehen. Er spielte auch im Ghetto weiter und trat mit seinem Orchester unter anderem im Café „Nowoczesna“ in der Nowolipki-Straße auf (beim „Großen Festival der Zigeuner-Romanzen“ auf dem Plakat unten beispielsweise zusammen mit Wladislaw Szpilman, der außerhalb Polens spätestens seit Polanskis Film „Der Pianist“ bekannt sein dürfte). Doch Ende 1942, sein Bruder Adam war im Ghetto gestorben, wurde Artur wie die meisten Ghetto-Insassen in das Arbeits- und Vernichtungslager Treblinka deportiert.

Von Artur Gold selbst existieren keine Zeugnisse aus dem Lager, doch er kommt in etlichen Berichten der wenigen Überlebenden von Treblinka vor. Als er in Treblinka eintraf hatte der stellvertretende Lagerkommandant Kurt Franz, wegen seines mädchenhaften Gesichts „Lalka“ (die „Puppe“) genannt, bereits ein paar jüdische Amateurmusiker requiriert, die zum Vergnügen der SS und zur Qual der Opfer spielen mussten; aber was ihm noch fehlte, war ein „richtiger Dirigent“ und ein „richtiges“ Orchester…

Der Prager Überlebende Richard Goldschmid aka Richard Glazar schreibt: „Wir alle wussten, dass ‚Lalka‘ Musik mochte und jemand machte ihn darauf aufmerksam, dass Artur Gold, der berühmte Warschauer Musiker, mit einem der letzten Transporte angekommen war. Lalka holte Gold zu sich und gab ihm den Auftrag, in Treblinka ein kleines Orchester aufzubauen. Musiker gab es hier ja jede Menge: die beiden rothaarigen Schermann-Brüder, den Tenor Salwe, den kleinen (14-jährigen) Edek mit seiner Ziehharmonika und viele andere…“

Oskar Strawczynski, ein Jude aus Łódź beschreibt, wie es weiter ging: „…Gold widmete dieser Aufgabe seine ganze Energie. Die Deutschen halfen auf jede erdenkliche Weise. Es gab keinen Mangel an Instrumenten. Sie wurden auf dem Platz zurückgelassen, wenn ihre Besitzer ins „Bad“ gingen. Nur ein paar Jazzinstrumente fehlten. Die Becken und Trommelstöcke brachte der Hauptscharführer aus seinem Urlaub mit. Das Schlagzeug wurde im Lager gebaut, und, was für ein Glück, so bekamen wir auch eine Jazz-Combo. Ein ausgezeichneter Schlagzeuger war mit dem gleichen Transport wie Gold angekommen. Ein gemischter Chor von Männern und Frauen wird gegründet… Um das Bild zu vervollständigen, haben wir auch einen Solisten, einen Warschauer Künstler, mehrere Amateure und Jerzyk, einen Nachtklub-Tänzer…“

Doch die Spielzeuge der Herrenmenschen sollten auch optisch aus der Masse der Häftlinge herausstechen. Samuel Willenberg aus Częstochowa: „Nach einem dieser (ersten) Konzerte kamen die Deutschen zu dem Schluss, dass die Maestros nicht gut aussahen. Ihre Kleidung war zu groß und wurde von allerlei Gürteln gehalten, und ihre Stiefel waren hoch und schwer. Sie befahlen unseren Schneidern, Jacken aus leuchtend blauem Stoff zu nähen und riesige Fliegen an den Kragen zu befestigen. Nicht mehr als Gefangene, sondern als Clowns verkleidet, unterhielten sie uns Tag für Tag nach dem Appell.“

Häftlingskapellen gab es in beinahe jedem KZ, angefangen vom Trio bis hin zum 80-Mann-Orchestern. Sie gehörten zu den gepflegten Statussymbolen der jeweiligen Kommandanten und SS-Mannschaften. Ihre Aufgabe war es, Privatkonzerte zu geben, den Aus- und Einmarsch der Arbeitskolonnen am Lagertor mit Märschen zu begleiten, wobei der Rhythmus den Häftlingen half, im Tritt zu bleiben und den Wachen, sie zu kontrollieren, öffentliche Hinrichtungen musikalisch zu untermalen und Schreie oder Schüssen bei Massenerschießungen zu übertönen, was zugleich die Mörder enthemmte und stimulierte. Und in Treblinka hatten sie die Ankommenden zur Täuschung auch mit Musik zu empfangen, an toten Gleisen, die mit Schildern und Zugfahrplänen so getarnt waren, dass der Ort wie ein Umsteigebahnhof aussah und nicht wie das Tor zur Hölle.

Der Überlebende Chil Rajchman aus Łódź: „Wir hörten von den Arbeitern im Lager I (T I war das Arbeits-, das zwei Kilometer entfernte T II das Tötungslager), dass bei der Ankunft der bulgarischen Juden das Orchester spielte. Die Juden waren überzeugt, dass ihnen nichts Schlimmes passieren würde. Als sie aus dem Zug stiegen, fragten sie immer wieder, ob es hier sei, diese große Fabrik in Treblinka … SS-Mann Karl Spezinger erscheint und warnt uns, die „Zahnärzte“ (gemeint sind die Häftlinge, die den Toten die Goldzähne herausbrechen mussten), dass wir sehr gut aufpassen müssen, weil fast alle bulgarischen Juden künstliche Zähne haben … Wenige Minuten nach Vier ist von den tausenden jungen, schönen bulgarischen Juden nicht einmal eine Erinnerung übrig…“

Das Lagerpersonal ließ „seine“ Musiker zu Theateraufführungen, Konzerten und zu Boxkämpfen spielen, bei denen Gefangene zum Zeitvertreib der Wachmannschaften aufeinandergehetzt wurden; es ließ sie Häftlinge begleiten, die ohne Unterbrechung singen mussten, bis sie umfielen oder die Walzer tanzen mussten, während sie geprügelt wurden, oder solche, die Lupinen über den Massengräbern zu pflanzen hatten, in denen die Vergasten verscharrt wurden. Waren die meisten der SS-Leute vor dem Krieg kleine Würstchen gewesen, kannten ihre Ambitionen, ihre Allmachtsfantasien und ihre makabren Einfälle zur Erniedrigung und Demütigung, zum lächerlich machen der ihnen ausgelieferten Menschen hier keine Grenzen mehr.

Oskar Strawczynski sarkastisch: „Gold erscheint im weißen Frack … maßgeschneiderten gestreiften Hosen, schwarzen Lackschuhen und einem weißen Hemd mit Fliege. Treblinka kann sich alles leisten. Es gibt sogar elegante Notenständer mit der Aufschrift „Goldorchester“. Man kann im feinsten Urlaubsdomizil nichts Besseres erwarten…“

Der Mann mit dem größten Einfallsreichtum beim Einsatz der Musiker und Künstler war, wie gesagt, Kurt Franz – zuvor beim Euthanasie-Projekt T4 und als Wachmann in Buchenwald und Bełżec, nun aufgestiegen zum stellvertretenden Lagerleiter, Besitzer eines privaten Fotoalbums aus Treblinka mit dem Titel „Schöne Zeiten“, 1965 zu lebenslanger Haft verurteilt, seit Ende der 70er-Jahre Freigänger, verstorben 1998.
Oskar Strawczynski über die „Puppe“: „Der Name ‚Lalka‘ entsetzt die Menge am meisten. Sobald Lalka am Horizont auftaucht, bricht der gesamte Platz in fieberhafte Aktivität aus … Lalka ist der böse Geist des Lagers. Ein Blick aus seinen scharfen, blitzenden Augen jagt einem Schauer über den Rücken. Untersturmführer Lalka ist der Vertreter des Lagerkommandanten. Er ist groß, stark, muskulös und gut aussehend, mit einem runden Puppengesicht und einem Paar glänzender Augen. Wiegenden Schritts, hochmütig und selbstzufrieden, schreitet er einher. Barry, sein großer zotteliger Hund, trottet träge hinterdrein. Aber wehe, wenn Lalka auf jemanden zeigt und sagt: ‚Barry, pack ihn!‘ … Lalka geht nie weg, ohne jemandem ein Abschiedsgeschenk zu hinterlassen. Es ist einfach, jemanden für etwas zu beschuldigen, aber eigentlich ist der Grund egal … Er arbeitet mit Lust und gemächlich. Er hat seine eigene Technik, die Peitsche zu schwingen und dann zuzuschlagen. … Lalka ist auch ein guter Boxer. Um sich den Appetit auf seine Mahlzeit zu erarbeiten, braucht er Bewegung. … Er packt sein Opfer, hält mit einer Hand den Kopf gerade, um besser zu zielen, und trifft sein Ziel ziemlich genau. Man kann sich leicht vorstellen, wie der Kopf nach Lalkas Training aussieht.“

Das Landgericht Düsseldorf 1965: Kurt Franz „… offenbarte dabei einen derartigen Sadismus …, dass die menschliche Fantasie kaum ausreicht. … Er bezeichnete die im Lager befindlichen Juden als ‚Arschlöcher‘, als ‚Dreck‘, als ‚Scheiße‘ und als ‚Hunde‘, die so bald und so gründlich wie möglich beseitigt werden müssten … Er misshandelte, boxte, prügelte und tötete, wenn es ihm Spaß machte und wenn er gerade dazu aufgelegt war. Er fand nichts dabei, wenn sein Hund Barry sich auf seinen Zuruf auf die hilflosen Juden stürzte, sie zu Boden warf und sie in seiner Anwesenheit verletzte und zerfleischte. War ein Häftling infolge dieser Misshandlungen nicht mehr arbeitsfähig, so erschoss ihn Franz auf der Stelle oder ließ ihn zur Liquidierung ins Lazarett bringen, wenn ihm aus irgendwelchem Grunde nicht danach zumute war, die Erschießung selbst vorzunehmen. … Jeder Häftling, mochte er noch so krank oder schwach sein, erhöhte seinen Arbeitseifer und bemühte sich, einen möglichst günstigen Eindruck zu machen, um nur ja nicht aufzufallen …“

Artur Gold hingegen hatte wegen seiner musikalischen Qualitäten bei Kurt Franz „ein Stein im Brett“. Seine Musiker wurden von der Arbeit freigestellt, damit sie proben konnten und bekamen zusätzliche Essensrationen, aber er verkannte wohl auch seine Lage. Samuel Willenberg: „Lalka war für ein paar Tage weg. Als er zurückkam, ging er zu Artur Gold und sagte ihm, dass er einige seiner Schallplatten aus der Vorkriegszeit mitgebracht habe. … Gold vergaß für einen Moment, wo er war, seine Stimme erstickte vor Freude, als er mir von den Aufnahmen seines Orchesters erzählte, die in Treblinka aufgetaucht waren. Da ich ihn nicht in die tragische Realität zurückversetzen wollte, ließ ich ihn noch etwas länger auf den Wolken schweben.“

Für Richard Glazar war Artur Gold sein Ruhm dauerhaft zu Kopf gestiegen. Er berichtet, der Musiker habe seinen 40. Geburtstag „mit großem Pomp und Brimborium“, mit eingeladenen Deutschen und der „jüdischen Lageraristokratie“ gefeiert, die „Tische beladen mit dem Allerbesten“ und mit „Toasts auf den deutschen Sieg“. Glazar habe allen Respekt vor ihm verloren, schreibt er, als Gold die Deutschen während dieser Feier für ihre „Wohltaten gelobt“ und erklärt hätte, dass ihre Behandlung der Juden „verständlich sei und im Interesse des deutschen Volkes“ liege. Es besteht kein Grund diese Aussage zu bezweifeln, die zugleich den Überlebenswillen und die Verzweiflung illustriert, in der Menschen gewesen sein müssen, um sich vor ihren Peinigern derart selbst zu demütigen.

Richard Glazar und weitere Überlebende schreiben auch, dass Artur Gold auf Befehl von Kurt Franz die Musik für die sog. Treblinka-Hymne und der Prager Jude Walter Hirsz den Text dazu verfasst habe. Nach anderen Aussagen, so des früheren SS-Mannes Franz Suchomel in Claude Lanzmanns Dok-Film „Shoah“, hat Franz die Melodie aus Buchenwald mitgebracht und selber den Text verfasst. In dem Fall wäre sie vom Wiener Hermann Leopoldi, der ja den offiziellen Buchenwald-Marsch komponiert hat und Artur Gold hat sie möglicherweise nur für sein Ensemble „arrangiert“. Kurt Franz verlangte jedenfalls, dass alle am Morgen neu angekommenen Juden, die zur Arbeit in T I statt zur Ermordung in T II ausgewählt worden waren, diese Hymne, die die Häftlinge verhöhnte, bereits beim nächsten Abendappell auswendig zu können hatten. Es gibt mehrere leicht voneinander abweichende Textversionen. Hier ist eine:

Mit festem Schritt und Tritt / Und den Blick grade aus / Immer mutig und treu in die Welt geschaut / Marschieren Kolonnen zur Arbeit aus / Darum sind wir heute in Treblinka / Das unser Schicksal ist – tara-ra // Darum sind wir heute in Treblinka / Und gestellt in Reih und Glied / Wir hören auf das Wort des Kommandanten / Und folgen ihm auf jeden Wink / Wir gehen jeden Tritt und Schritt zusammen / Für alles, was die Pflicht von uns verlangt. // Die Arbeit soll uns alles hier bedeuten / Und auch Gehorsamkeit und Pflicht / Wir werden weiter, weiter leisten / Bis das kleine Glück auch uns einmal winkt. Hur-ra! //

Oskar Strawczynski erinnert sich an den Ablauf des wochentäglichen „Kulturprogramms“: „Nach dem Begleichen der täglichen Rechnung (der Auspeitschung von Gefangenen) werden der Bock und die Peitsche in den Lagerraum geschafft. Gold besteigt das Podium, und das Konzert beginnt mit etwas leichter Klassik wie „Cavalleria rusticana“ oder etwas ähnlichem. Danach tritt der Chor auf, und dann singt die gesamte Menge „Treblinka“, bis wir endlich den lang ersehnten Befehl hören: „Abtreten“. Wir atmen erleichtert auf. Gold und seine Band treten zur Seite und spielen einen lebhaften Marsch. Auf dem Weg hinunter in die Küche zum Abendessen marschieren wir Block um Block zur Parade an den Mächtigen vorüber … Nach dem Abendessen gibt es wieder Musik – dieses Mal in der Schneiderei, dem größten und schönsten Saal im Ghetto. Draußen färbt sich der Himmel rund um das Lager rot von den höllischen Flammen des riesigen, neu gebauten Ofens. Der Wind trägt den üblen Geruch von verbranntem und verwesendem Fleisch und Knochen. Es ist unmöglich, draußen zu atmen…“ Innen „versammelt sich unsere Aristokratie mit ihren Freundinnen. Es kommen auch gelangweilte Deutsche und Wachmänner vorbei. Unsere Damen und Herren tanzen zur schönen Musik des gut eingespielten Gold-Orchesters, unterhalten sich und betrinken sich… Nacht für Nacht…“

Richard Glazar wiederum beschreibt einen der Sonntagnachmittage, an denen sich alle Häftlinge neben dem Boxring versammeln mussten: „Artur Gold und seine Jungs… eröffnen die Feierlichkeiten mit einem Marsch. Hauptmann Stangl (Franz St., der Lagerkommandant) sitzt inmitten seiner Männer in einem Sessel, klopft mit dem Fuß und hält den Takt, indem er mit der Reitpeitsche sanft auf den Schaft seines Stiefels schlägt. Zuerst tritt der Sänger Salwe vor und präsentiert eine italienische Tarantella. Ihm folgt Treblinkas neueste Errungenschaft, ein Kantor, angeblich der beste in Warschau…“

Musik, Musik, Musik. Richard Glazar hat Claude Lanzmann in einem seiner Interviews erzählt, dass man „in Treblinka keine Vögel singen hören konnte, aber die Luft von ständigen Geräuschen erfüllt war: von Schreien, Stöhnen, Weinen und Musikklängen.“

Eines der Stücke, die Gold und sein Lagerorchester immer wieder spielen mussten, war der Tango „To Ostatnia Niedziela“ (Das ist der letzte Sonntag) seines Cousins Petersburski, der das düster-melancholische letzte Treffen zweier Liebender beschreibt und in Polen auch Selbstmörder-Tango genannt wurde, weil junge desillusionierte Offiziere sich angeblich reihenweise erschossen haben, während sie das Lied hörten (nicht zu verwechseln mit „Szomorú Vasárnap“ – „Trauriger Sonntag“ – der Ungarn László Jávor und Rezső Seress, der ebenfalls Menschen dazu veranlasst haben soll, sich umzubringen).

Diese Vorkriegshits „lasteten auf uns und riefen die Erinnerung an vergangene, alte Jahre wach“, schreibt Samuel Willenberg. „Während wir beim Appell standen und Artur Gold auf seiner Geige alte Melodien zauberte, wehte über dem ganzen Lager ein süßer, widerlicher Geruch verwesender Körper, die an uns hafteten, als wollten sie sich nie trennen. Der Geruch war Teil unseres Wesens geworden. Es war alles, was von unseren Familien und geliebten Menschen übrig blieb, eine letzte Erinnerung …“

Von den allermeisten blieb nicht einmal das übrig – eine letzte Erinnerung. Treblinka haben nur etwa 60 Menschen überlebt. Auch die, die sich hätten erinnern können, wurden ermordet. Auch die, hier um ihr Leben gespielt haben, Artur Gold und seine Musiker, starben – vermutlich während des Treblinka-Aufstands am 2. August 1943. Danach rissen die Deutschen das Lager ab, in dem sie in weniger als 13 Monaten 870.000 Männer, Frauen und Kinder im Fließbandverfahren ins Gas getrieben hatten, und legten zur Vertuschung einen Bauernhof an.

Meine Mutter ruft mich nicht beim Namen / denn meine Mutter ist tot. / Mein Vater ruft mich nicht beim Namen / denn mein Vater ist fern. / Und Gott ruft mich auch nicht beim Namen | denn Gott spielt ein Purimspiel, / er hat sich als Hund verkleidet, / und jammert in den Nächten so laut. / dass ich ihn mit einem Stock verjage. / Er soll mich in Ruhe lassen. (…) Kadja Molodowsky

Treblinka. Musik: Pedro Alcalde, Viola: Yuval Gotlibovich (2023): 

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Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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